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Eine Grenzgängerin wird wiederentdeckt

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Hilde Schramm: Meine Lehrerin, Dr. Dora Lux. 1882-1959. Nachforschungen.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2012.

432 Seiten, Euro 19,95,-

ISBN: 978-3-498-06421-1

Wenn eine Tochter Albert Speers ein Buch über eine ehemalige Lehrerin mit - ausgerechnet - jüdischen Wurzeln schreibt, ist Medienrummel vorprogrammiert. Lesenswert ist das Buch trotzdem. Denn Hilde Schramm rekonstruiert die Vita der wahrlich faszinierenden Dora Lux. Von der Forschung bisher komplett ignoriert, eroberte Lux als frauenbewegter Freigeist  mehrere Männerdomänen hintereinander. Und sie zählt sie zu einer wissenschaftlich kaum erschlossenen Minorität: Erfolgreich entzog sie sich der NS-staatlich angeordneten Registrierung als „Jüdin".

Im deutschen Kaiserreich weilte Dora Lux (1882-1959) unter den ersten 50 Frauen, die ihre Schullaufbahn mit dem Abitur beschlossen. Sie promovierte als reichsweit vierte Frau in Klassischer Philologie und sie zählte zu den ersten Gymnasiallehrerinnen Preußens. Zwischen 1933 und 1936 publizierte sie fast 30 NS-kritische Aufsätze. Nach 1947 engagierte sie sich als „Lehrerin gegen den Zeitgeist", wie Hilde Schramm es nennt. Schramm wird nur kurze Zeit von Lux unterrichtet -zwischen 1953 und 1955. Doch geht ihr die kuragierte Geschichtslehrerin, deren „zeithistorische und menschliche Bedeutung" darin liege, „dass sie immer wieder die Grenzen des scheinbar Möglichen überschritt", nicht mehr aus dem Kopf. „Woher nahm sie ihre Sicherheit?" fragt sich Schramm fortan. Zeit, fundierte Recherchen anzukurbeln, aber findet die habilitierte Erziehungswissenschaftlerin Schramm erst nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben. - Und steht bald vor der „historisch interessanteste(n) Entdeckung": Lux ließ sich - entgegen der staatlichen Vorgabe - nicht als „Jüdin" registrieren. Es lief „ihrem Selbstbild" zuwider, sich von den „Nazis als Jüdin abstempeln zu lassen", so Schramm. Lux war überzeugte Atheistin, seit 1915 mit dem nicht-jüdischen Naturwissenschaftler Heinrich Lux verheiratet, also vordergründig durch eine sog. „privilegierte Mischehe" geschützt. Doch begab sie sich mit ihrer Weigerung in große Gefahr. Als ihr Mann 1944 starb, tauchte sie unter.

Mein Vater ist Albert Speer", offenbart Hilde Schramm im fünften Absatz. Dass sie ihre familiäre Beziehung zu Hitlers Lieblingsarchitekten und Reichsminister für Bewaffnung und Munition dezent nach hinten schiebt, dürfte kein Zufall sein: Zu oft wird sie auf ihre Herkunft reduziert - schlimmer noch - auf das Bild des kleinen Mädchens im frisch gebügelten Kleidchen, das Hitler einen Blumenstrauß entgegenstreckt. „Meine Herkunft zwang mir eine frühe und nicht abschließbare Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auf", schreibt Schramm. Für  ihre Selbstfindung seien deshalb Menschen entscheidend gewesen, die „eine Gegenwelt zur NS-Ideologie verkörperten".Eine solche Erfahrung verdanke ich Dora Lux."  Schramm sagt das nicht einfach so dahin: Ihr Leben liest sich - zumindest partiell - als Gegenentwurf zum Vater: Für die Alternative Liste saß sie im Berliner Parlament, als Mitbegründerin der Stiftung „Zurückgeben" unterstützt sie jüdische Frauen in Kunst und Wissenschaft. 2004 erhält sie - gleichwohl nicht widerspruchslos - den Moses-Mendelssohn-Preis für ihr Lebenswerk.

Über die Kinder der NS-Täter, ihren Umgang mit ihrer verstörenden Familiengeschichte, ihr Schweigen und Wegsehen, ihre Konter-Recherchen, quälenden Schuldgefühle und öffentlichen Abrechnungen, ist seit Jahren ergiebig zu lesen: Die Bewältigungs-Klaviatur reicht von Heinrich Himmlers Tochter Gudrun Burwitz, die bis heute Geld für Alt- und Neonazis rekrutiert, bis zu Niklas Frank, der mit seinem Vater, dem NS-Generalgouverneur Hans Frank, gleich in zwei Büchern schonungslos abrechnet. Schramm bedient andere Töne. Ihre Lux-Monographie liest sich als eine Art wissenschaftlich aufbereitete Wiedergutmachung: Gezielt spricht sie nicht von „Biografie", sondern von „Nachforschungen", integriert - insbesondere zur Frühzeit des universitären Frauenstudiums - manch wissenschaftlichen Exkurs: Sie wolle Dora Lux „ein ehrendes Gedenken" bereiten, nennt Schramm ihre Triebfeder. Das ist ihr gelungen.

Leider tituliert Schramm Lux wiederholt als „Jüdin", obwohl sie sich der Identitäts-Problematik bewusst ist. Auch fragt man sich, was Lux empfand, bald nach dem Kriege, gleich zwei Speer-Kinder, neben Hilde auch Margret, unterrichten zu müssen. Das Kollegium war bestens über den Vater informiert. Er verbüßte seinerzeit als Hauptkriegsverbrecher 20 Jahre Haft. Doch laut Schramm gestaltete sich die Situation verblüffend simpel: Alle schwiegen. Auch Dora Lux. „In meiner Wahrnehmung handelt es sich um eine doppelte Schonung: Frau Dr. Lux schonte mich, aber sie schonte auch sich selbst. Und umgekehrt: „Ich wollte sie geschont wissen; wollte aber auch selbst geschont sein." Aus dieser Schonhaltung hat sich Schramm, spätestens jetzt, endgültig befreit.