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Der Architekt Jakob Gartner (1861-1921) und die Hochblüte des Synagogenbaus

Ursula PROKOP

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Von allen Kronländern der Donaumonarchie bot Mähren zur Zeit der vorigen Jahrhundertwende wahrscheinlich das reichste personelle Reservoir. Sowohl Juden wie Nichtjuden strömten aus dieser Region nach Wien und stellten die bedeutendsten Persönlichkeiten ihrer Zeit, wie Gustav Mahler, Adolf Loos oder Sigmund Freud. Wobei der hohe Anteil der Juden unter Künstlern und Intellektuellen sich unter anderem dadurch erklärt, dass es schon seit dem  frühen Mittelalter jüdische Gemeinden in Mähren gab, die, oft durchaus wohlhabend und früh assimiliert, einen wichtigen Beitrag zum Kulturleben dieser Region leisteten. Neben den oben angeführten Namen gab es natürlich noch viele andere, nicht so prominente, die jedoch durchaus unsere Aufmerksamkeit verdienen. Dazu gehört auch Jakob Gartner, der einer der bedeutendsten Architekten auf dem Gebiet des Synagogenbaus um 1900 war.

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Jakob Gartner, Portraitfoto, um 1894 (Österr. Ing. u. Architektenverein)

1861 als Sohn des Mühlenbesitzers Isaak Löbl in Prerau (heute Přerov, CZ) geboren, ging Jakob Gartner zu seiner Ausbildung vorerst nach Brünn an die Staatsgewerbeschule, die damals geradezu eine Kaderschmiede für grosse Architekten war.1 Nach einigen Praxisjahren bei diversen Baufirmen kam er schliesslich 1886 nach Wien, um seine Kenntnisse an der Akademie der bildenden Künste bei Carl Hasenauer, damals der führende Ringstrassenarchitekt, zu vervollkommnen.2 Offenbar war es von Anfang an Gartners Absicht gewesen, sich auf den Synagogenbau zu spezialisieren, denn neben seinem Akademiestudium arbeitete er im Atelier von Hugo Wiedenfeld, der damals als Spezialist für einen orientalisierenden Stil mit dem Bau des türkisch-sefardischen Tempels in der Zirkusgasse befasst war. Auf diese Weise bestmöglich ausgebildet, machte sich Jakob Gartner nach einigen weiteren Praxisjahren schliesslich um 1888 selbständig. Neben mehreren Wohnbauten in Brünn und Olmütz konnte er Ende der achtziger Jahre auch schon einige kleinere Synagogen in der Provinz errichten.3 Generell war der Bedarf an jüdischen Kultbauten infolge der stetig wachsenden Gemeinden und der relativ guten wirtschaftlichen Zeiten in diesen Jahren sehr hoch, zeitweise gab es einen geradezu atemberaubenden Bauboom.

 

Ein Mittelweg beim „genuin jüdischen Stil“

Den grossen Durchbruch bedeutete für Jakob Gartner der Erfolg beim Wettbewerb für einen Tempel in Troppau (Opava, CZ) 1892, bei dem sein Entwurf den ersten Preis erhielt. Er errichtete in der Folge die Troppauer Synagoge als prachtvollen Zentralkuppelbau, der neoromanisch-byzantinische Strukturen mit orientalisierenden Details verband und zweifellos von den (nichtkatholischen) Sakralbauten Theophil Hansens beeinflusst war. Im Rahmen der Diskussion um einen „genuin jüdischen Stil“, wie er im späten 19. Jahrhundert insbesondere von den grossen Synagogenarchitekten Wilhelm Stiassny und Max Fleischer ausgetragen worden war, wobei man jeweils eine orientalisch-maurische oder eine eher westeuropäische Ausrichtung, insbesondere Romanik oder Gotik, bevorzugte, beschritt Gartner geschickt einen Mittelweg. Wahrscheinlich war es auch diese pragmatische Haltung, die das Rezept für seinen Erfolg gewesen sein dürfte. Ein Mann des Kompromisses dürfte Gartner generell gewesen sein, wie auch ein Porträtfoto verrät, das ihn zwar mit einem traditionsverbundenen langen Bart zeigt, aber ansonsten einen elegant gekleideten Herrn im Outfit der vorigen Jahrhundertwende darstellt.

Nach diesem frühen Erfolg kam in schneller Folge ein Auftrag nach dem anderen. Gartner, der sich seit den frühen 1890er Jahren endgültig in Wien als freier Architekt niedergelassen hatte, war in den folgenden Jahren jeweils mit fünf bis sechs Synagogenbauten gleichzeitig beschäftigt. Neben kleineren Projekten in Mähren und Ungarn, war insbesondere der 1894 erfolgte Auftrag für den Olmützer (Olomouc, CZ)  Tempel einer seiner spektakulärsten überhaupt.4 Die wohlhabende Olmützer jüdische Gemeinde war in der glücklichen Lage, ein Grundstück auf einem durch die jüngst erfolgte Schleifung der Stadtbefestigung frei gewordenen Areal zu erwerben, das die Errichtung eines rundum freistehenden, von einer kleinen Parkanlage umgebenen Gebäudes erlaubte. Diese Situierung  erhöhte nicht nur das Prestige der Synagoge im städtebaulichen Kontext, sondern bot auch in architektonischer Hinsicht grosse Entfaltungsmöglichkeiten. Auch hier brachte Gartner ein neoromanisch- byzantinisches Formenrepertoire zum Einsatz, das insbesondere durch seine farbliche Akzentuierung bestach. Auch die reiche Innenausstattung war im Sinne des historistischen „Gesamtkunstwerkes“ nach Entwürfen Gartners ausgeführt worden.

1895 begann Gartner mit den Planungen für seine erste Wiener Synagoge, den Favoritner Tempel in der Humboldtgasse im 10. Bezirk, der in mancher Hinsicht eine vereinfachte Version seines Olmützer Baus darstellt. Neben dem schlichteren Dekor betraf dies insbesondere auch die etwas weniger hervorgehobene Situierung auf einem Eckgrundstück. Für Wiener Verhältnisse, wo die meisten jüdischen Kultbauten eher zurückhaltend im Häuserverbund errichtet wurden, war dies allerdings bereits eine relativ prominente Lage.5 Bemerkenswert ist, dass die Eigentümerin des Grundstückes, Frau Venier, obwohl selbst eine Katholikin, neben der Überlassung des Areals noch 9.000 Gulden spendete.6  Wie schon bei seinem Olmützer Projekt gestaltete Gartner den Tempel als einen Zentralkuppelbau mit überkuppelten Ecktürmchen, dessen Fassade durch ein dreiteiliges Rundbogenfenster strukturiert war. In der Formensprache der Neoromanik gehalten, war auch der Innenraum mit einer ornamentalen, „dem Style angepassten“ Malerei überzogen.

Die im Wiener Kontext relativ grosse Synagoge mit einem Fassungsraum für rund 800 Gläubige wurde provisorisch bereits im Oktober 1896 eingeweiht. Mit Rücksicht auf das zu erwartende 50-jährige Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josefs wurde die feierliche Schlusssteinlegung jedoch erst im Mai 1898 vorgenommen – mit diesem Termin konnte sich die jüdische Gemeinde tatsächlich rühmen, den ersten Sakralbau in Österreich im Jubiläumsjahr zu stellen. Wobei generell festzuhalten ist, dass der Bezug zum Kaiserhaus ein äusserst betonter war. So wurde auch beim feierlichen Einweihungsfest hervorgehoben, dass der „Tempel als Symbol der unerschütterlichen Treue und Verehrung der Judenschaft für den Kaiser errichtet worden sei“.7 Dessen ungeachtet war auch dieses Fest bereits von judenfeindlichen Tendenzen überschattet. So ist  Bürgermeister Karl Lueger, der neben den üblichen Honoratioren und Vertretern diverser öffentlicher Einrichtungen selbstverständlich auch eingeladen war, nicht erschienen. Es ist anzunehmen, dass die Absage Luegers, der den Antisemitismus erfolgreich politisch instrumentalisierte, die Veranstalter eher erleichtert haben wird. Immerhin waren die Umgangsformen damals noch zivilisierter, insofern Lueger wenigstens ein Entschuldigungsschreiben und den jüdischen Gemeinderat Wilhelm Stiassny als seine Vertretung schickte.

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Synagoge in Troppau

„Würdige“ Bethäuser in Simmering und der Brigittenau

In schneller Folge plante Gartner in den Jahren 1898–1900 zwei weitere Synagogen, und zwar im 11. Bezirk in der Braunhubergasse und im 20. Bezirk in der Kluckygasse, wobei beide als Vorstadtbauten eher peripher gelegen und im Häuserverbund errichtet worden waren. Auch die Dimensionen für rund 400 bzw. 600, Gläubige waren geringer als beim Tempel in der Humboldtgasse.8 Wiederum gelang es Gartner in der Verbindung von neoromanischen und neogotischen Stilelementen bei der Gestaltung des Baus sowohl die Einbindung der jüdischen Gemeinden in die Gesamtbevölkerung zu demonstrieren als auch einen repräsentativen Anspruch hervor zu heben.

Wie weit der Bauboom dieser Jahre die nicht allzu üppigen finanziellen Mittel dieser jüdischen Vorstadtgemeinden überforderte, zeigt insbesondere der Streit um einen Zuschuss für die Baukosten des Tempels in der Braunhubergasse. Nachdem sich die Kultusgemeinde vorerst geweigert hatte, eine Subvention von 15.000 Gulden zu bewilligen, war der Vorstand des örtlichen Tempelvereines zurückgetreten. Erst als man sich geeinigt hatte, dass die Synagoge kein „Luxusbau“, sondern ein „einfaches, würdiges Bethaus“ werden sollte und auch Jakob Gartner sich verbürgte, dass die Baukosten 30.000 Gulden nicht überschreiten sollten, kam es zu einer Einigung und man kaufte den Baugrund um 10.400 Gulden an.9 Tatsächlich vermied es dann der Architekt, eine Kuppel oder Türmchen als Bauelemente zum Einsatz zu bringen, einzig die grossen Radfenster an den beiden Strassenfronten unterstrichen die sakrale Funktion des Gebäudes.10 Etwas aufwändiger hingegen gestaltete Gartner den im September 1900 eingeweihten Tempel in der Kluckygasse, dessen Bedeutung er mit einer repräsentativen Zweiturmfassade hervorhob. Es erübrigt sich darauf hinzuweisen, dass Bürgermeister Lueger bei der feierlichen Einweihung beider Bauten wiederum nicht anwesend war.

Generell scheint sich in Wien der Bauboom auf dem Gebiet des Synagogenbaus nach dem Jubiläumsjahr etwas abgeflacht zu haben. Gartner widmete sich in den nächsten Jahren überwiegend dem Wohnbau, wobei ein Grossteil seiner Miethäuser in äusserst repräsentativer Lage errichtet wurde. Insbesondere im so genannten „Stubenviertel“ im 1. Bezirk, wo nach dem Abriss der Franz-Josefs-Kaserne grosse Bauareale frei geworden waren, wodurch die Vollendung des letzten Abschnittes der Ringstrasse ermöglicht wurde, errichtete Jakob Gartner eine Reihe von Miethäusern für gehobene Ansprüche. Ähnlich wie bei seinen Synagogenbauten vermied er in der Durchgestaltung allzu moderne Tendenzen, sondern bemüssigte sich einer Mischform von moderaten Jugendstilelementen und neobarocken Motiven. Wenn auch mancher Progressive, wie Adolf Loos, etwas abschätzig auf diese konservativen Bauten herabblickte,11 erfreute sich diese Ausrichtung bei den Bauherren grosser Beliebtheit.

Dessen ungeachtet blieb aber weiterhin der Synagogenbau, der dann angesichts des nächsten Jubiläumsjahres von 1908 neuen Auftrieb erhielt (diesmal das 60-jährige Regierungsjubiläum des Kaisers), ein Schwerpunkt in Gartners Schaffen. Neben einigen Projekten im heimatlichen Mähren war er insbesondere in den Jahren 1908/09 mit der Planung des Tempels in der Siebenbrunnengasse im 5. Bezirk befasst, dessen Baugeschichte sich jedoch länger als erwartet hinziehen sollte. Infolge des Umstandes, dass das alte Bethaus in der Margaretenstrasse schon lange nicht mehr den Anforderungen entsprach, war es dem Tempelverein für Wieden und Margareten unter dem Obmann Adolf Hofmann nach jahrelangen Bemühungen endlich gelungen, im Dezember 1907 ein Grundstück in der Siebenbrunnengasse zu erwerben, dessen Kauf allerdings weitgehend von der Kultusgemeinde finanziert worden war. Generell machten dem Tempelverein finanzielle Probleme zu schaffen, so dass man im Jubiläumsjahr noch nicht zu bauen beginnen konnte, sich aber dennoch die Bezeichnung „Jubiläumstempel“ sicherte, obwohl die Grundsteinlegung erst im April 1909 erfolgen konnte.12 Nach zahlreichen weiteren Spendenaktionen und Benefizakademien, wobei sich bemerkenswerterweise das lokale Damenkomitee besonders verdient machte, konnte endlich am 21. Mai 1910 die feierliche Einweihung erfolgen.13

Im Gegensatz zu den vorher errichteten Synagogen in eher bescheidenen Aussenbezirken besass dieser Bau durch seine relativ innerstädtische Lage einen hohen gesellschaftlichen Prestigewert, der sich auch in der erlesenen Gästeschar niederschlug, die sich anlässlich der Einweihung in den reich geschmückten Räumlichkeiten drängte. So waren neben Oberrabiner Güdemann und hohen Repräsentanten der Kultusgemeinde, Vertretern verschiedenster Ministerien und öffentlicher Stellen, insbesondere auch der Statthalter von Niederösterreich Graf Kielmannsegg in Vertretung des Kaisers erschienen. Auch in der Schar der Gläubigen waren die vornehmsten Familien vertreten, darunter David Ritter v. Guttmann und Baron Alphonse de Rothschild, die durch ihre Stadtpalais auf der Wieden in den Zuständigkeitsbereich dieses Tempelvereines fielen.14 Die nicht allzu grosse Synagoge für rund 450 Gläubige wurde von Jakob Gartner in der schon bekannten Mischform von gotischen und romanischen Elementen errichtet. Der Anspruch des im Häuserverbund (überwiegend bescheidene Bauten aus der Zeit des Vormärz) errichteten Gebäudes wurde durch eine Zweiturmfassade unterstrichen, wobei die Zwiebelform der Turmhelme sozusagen auch eine „östliche“ Komponente vermitteln sollte.

Dieser Bau war bereits Gartners 24. Synagoge, die er in seiner rund zwanzig Jahre währenden Tätigkeit errichtet hatte. Bald nach der Fertigstellung des Tempels in der Siebenbrunnengasse wurde Gartner 1911 als Nachfolger von Wilhelm Stiassny auch in den Vorstand der Israelitischen Kultusgemeine berufen, dem er bis zu seinem Tod angehörte.15 Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges begann er mit der Planung der neu zu errichtenden Israelitischen Abteilung auf dem Wiener Zentralfriedhof, von der allerdings kriegsbedingt nur eine provisorische Zeremonienhalle errichtet wurde. Die definitive Anlage, die Anfang der zwanziger Jahre von Ignaz Reiser ausgeführt wurde, erlebte Gartner, der 1921 verstarb, nicht mehr.

Keine zwanzig Jahre später sollten nahezu alle seine zahlreichen Synagogen der Zerstörungswut der Nazis zum Opfer fallen. So kommt es, dass von Gartners Werk sich nur einige Miethäuser und Villen erhalten haben. Es ist jedoch bemerkenswert, dass die bösartige Absicht der Auslöschung jeglichen jüdischen Kulturgutes nicht völlig obsiegen sollte. Insbesondere in den letzten Jahren erfolgte eine intensivere Beschäftigung mit Jakob Gartner, der ein gläubiger Jude, ein bemerkenswerter Architekt und nicht zuletzt ein typischer Vertreter der Wiener Fin de Siecle-Kultur war. ν

 

1  Unter anderen studierten dort Adolf Loos und  Josef Hoffman

2  Carl Hasenauer war u.a. an der Errichtung der Hofmuseen, des Burgtheaters und der Hermesvilla in Lainz beteiligt.

3  Siehe dazu I. Scheidl, Jakob Gartner, in Wiener Architektenlexikon 1790–1945 (www.azw.at).

4  R. Kazimierz Wieczorck, Virtuelle Rekonstruktion der Synagoge in Olmütz, Diplomarbeit TU Wien 2011.

5  Siehe dazu B. Martens/H. Peter, Die zerstörten Synagogen Wien, Wien 2009, S.113ff und P. Genee, Wiener Synagogen 1825–1938, Wien 1987.

6  Dr. Blochs Wochenschrift, 13.5.1898, H.19, S.373. Der Tempelverein für den 10. Bezirk kaufte  die Liegenschaft erst 1917 (siehe Anm. 5).

7  Ebenda.

8  Siehe Anm. 5.

9  Dr. Blochs Wochenschrift, 9.9.1898, H. 36, S.663f.

10 M. Kukacka, Virtuelle Rekonstruktion der Synagoge Wien 11, Braunhubergasse, Diplomarbeit TU Wien 2004.

11 Adolf Loos bezeichnete die Zinshäuser am Stubenring kritisch als „fünfstöckiges Mährisch-Ostrau“. (Heimatkunst 1914, in: Trotzdem 1982, S.123).

12  Dr. Blochs Wochenschrift, 3.4.1908, S.266 u. 4.2.1910, S. 90.

13 Dessen ungeachtet war aber noch immer ein Betrag von 25.000 Kronen offen. (Dr. Blochs Wochenschrift, 29.4.1910, S.298f).

14 Das im 4. Bezirk gelegen Viertel neben dem Belvedere galt als eines der vornehmsten Wiens. U.a. hatte  der „Kohlebaron“ David Ritter v. Guttmann sein Palais in der Schwindgasse, die feudalen Ansitze der Rothschilds befanden sich  in der Theresianumgasse und der Prinz Eugenstrasse.

15 Lehmann 1911–1921, Auflistung der Behörden und deren Mitglieder.