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Mordechaj Gebirtig: „Deine heissen Tränen sollen gehen zu G‘tt“

Charles STEINER

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Der aus Potsdam stammende Musiker Manfred Lemm hat Jahrzehnte seines Lebens damit verbracht, das Werk des jüdischen Möbeltischlers und Volksmusikanten Mordechaj Gebirtig zu rekonstruieren. Seine Sammlung ist nicht nur das Referenzwerk, wenn es um Gebirtigs Œuvre geht, sondern auch ein Stück Geschichte, das beinahe der Vergessenheit anheimgefallen wäre.

„Gehabt hab ich ein Heim / ein Stübchen und eine Küche / und still gelebt so jahrelang / hatte viele gute Freunde, Kameraden um mich / ein Stübchen voll mit Liedern und Gesang. Gekommen sind sie, wie kommen würde eine Pest / herausgejagt aus der Stadt mit Weib und Kind / geblieben ohne Heim wie Vögel ohne Nest / Wissen nicht warum, für welche Sünde?" 

Nur knapp zwei Monate nach der Errichtung des Krakauer Ghettos im März 1941 schrieb Mordechaj Gebirtig, jüdischer Tischler sowie begeisterter Dichter und Musikkomponist, das Lied „Gehat hob ich a Hejm". Und er wusste genau, was mit der Machtergreifung der Nazis noch bevorstehen würde. Vor 70 Jahren wurde Gebirtig von den deutschen Usurpatoren ermordet. Ein deutscher Soldat erschoss ihn auf offener Strasse. Fast wäre sein musikalisches Vermächtnis der Vergessenheit anheimgefallen - und damit auch eine musikalisch-historische Bestands-aufnahme über das elende Leben im Ghetto.

Der in Potsdam geborene Schauspieler und Musiker Manfred Lemm - er ist übrigens nichtmosaischen Glaubens - hat sämtliche Lieder der Vergessenheit entrissen und Gebirtigs Œuvre mit akribischer Genauigkeit rekonstruiert. Über zehn Jahre lang hat er mit dem Wuppertaler Künstlertreff sämtliche Lieder aus Gebirtigs Feder zusammengetragen und diese in einem Liederbuch und fünf Tonträgern der Nachwelt erhalten. Und so ergibt sich eine tragisch- wie auch heiter-zynische Retrospektive über die Zeit im Krakauer Ghetto, das für die meisten dort Internierten eine Zwischenstation zum Tod in den polnischen Vernichtungslagern war.

Und trotz der erbarmungswürdigen Zustände im Ghetto liess es sich Gebirtig nie nehmen, von der Freiheit zu träumen, Hoffnung in seine Lieder zu packen und seine Zuhörer zumindest für ein paar Augenblicke aus der Verzweiflung zu reissen.

Steh auf - Mensch, es tagt schon / der Strahl zu mir redt / und warm - mit Liebe liebkost / mich und streichelt / der Frühling, der Bote vom Frieden / bald wird durch sein´Blick aufblühen das Feld / und lichterfüllt und frei / wird bald werden die Welt / für alle! Und auch für euch, Juden."

Nicht immer konnte Gebirtig seine eigene Verzweiflung ganz verbergen. Er konnte sie aber perfekt kaschieren, sei es in Kampfliedern oder in Liedern des Trostes, etwa, wenn es heisst: „deine heissen Tränen sollen gehen zu G‘tt". Seine Lieder reichten vom Kinder- bis hin zum kämpferischen Arbeiterlied. Auch heute haben sie nicht an Aktualität eingebüsst.

Dass jemand sein Erbe so unermüdlich verbreiten würde, das vermochte Gebirtig wohl nicht zu ahnen. Vor allem, dass es jemand mit einer solch ungeheuren Akribie und Liebe zum Detail tut, wie Manfred Lemm.

  

„Undser shtetl brent"

Lemm hat zwar bereits sehr früh seine Leidenschaft für die ostjüdische Kultur entdeckt - für ein Israel-Engagement hatte er mit seiner Beatband jüdische Lieder einstudiert; das Austauschkonzert kam allerdings wegen des Sechstagekriegs nicht imstande. Auf die Arbeit von Mordechaj Gebirtig stiess er allerdings per Zufall. Nachdem es ihn nach Wuppertal ins Rheinland gezogen hatte, arbeitete er 1980 an einem Bühnenprogramm: „Das Programm hiess ‚jiddische Lieder und Geschichten‘,  es sollte unterhaltsam sein, ohne den berühmten Zeigefinger zu erheben. Im Zuge der Recherchen tauchte zum ersten Mal ein Lied von Mordechaj Gebirtig auf: ‚Undser shtetl brent‘", so Lemm über seine Begegnung mit dem Komponisten über eine LP vom  Liedermacher Peter Rohland. „Ich wunderte mich, dass es nur ein Lied von diesem Dichter geben sollte und forschte weiter." Und weitere schicksalsträchtige Zufälle ergaben sich. Lemm: „Ich gestaltete eine Sendung für die Deutsche Welle, worauf mich zahlreiche Zuhörerbriefe erreichten." Einer davon war aus der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Einer der Hörer sei auf der Suche nach einem israelischen Sender gewesen und stiess auf jene Produktion von Lemm. „Er hörte die Sendung bis zum Schluss und schrieb mir einen begeisterten Brief, worauf ich ihm in einer Antwort über die Vorgeschichte meiner Beschäftigung mit der jiddischen Kultur schilderte", berichtete Lemm. Etwa neun Wochen wartete er auf eine Antwort, dann bekam er von dem Zuhörer ein Paket mit mehreren Jiddisch-Liederbüchern. Lemm: „Zu meiner Überraschung fand ich in den Büchern noch weitere Lieder von Mordechaj Gebirtig."

  

Unermüdliche Suche

Sehr bald keimte in ihm der Wunsch auf, eine LP mit Liedern von Gebirtig zu komponieren - und er veranstaltete 1984 auch noch das erste Jiddisch-Festival auf deutschem Boden. Und auch weiterhin war Lemm unermüdlich auf der Suche, Lieder von Gebirtig zusammenzutragen - ein ganzes Jahrzehnt tingelte er um die ganze Welt, die Vereinigten Staaten, Israel, Grossbritannien. Wie Mosaiksteinchen fügte er Manuskripte, Erscheinungen in Liederbüchern und Ähnliches zusammen, bis er es nach fast einem Jahrzehnt schaffte, ein Liederbuch mit allen Liedern Gebirtigs herauszugeben. Mit viel Liebe hat er das Referenzwerk zu Mordechaj Gebirtig abgeliefert - rechtzeitig zu dessen 50. Todestag im Jahr 1992.

Nicht nur das: Lemm hat den gesammelten Werken auch noch Leben eingehaucht. Vier CDs bilden ein einzigartiges Tondokument, ein Dokument, das das geistige Weiterleben eines von den Nazis Ermordeten für die Nachwelt gesichert hat.  Und auch das reicht Manfred Lemm noch nicht: Er reist noch heute durch ganz Europa und verbreitet Gebirtigs Vermächtnis in Workshops. Es dürfte quasi Gebirtigs Schicksal gewesen sein, dass ausgerechnet von einem Deutschen seinem Lebenswerk ein Denkmal gesetzt wurde, damit seine einzigartigen Lieder noch in die Zukunft weiterleben dürfen. Und es war wohl Lemms Schicksal, sein Lebenswerk einem jüdischen Möbeltischler und Volksmusikanten zu widmen.

Lemms Werk ist mehr als eine Sammlung von Liedern, es ist ein wertvolles historisches Dokument und gleichermassen eine vom Herzen kommende Verbeugung vor den Opfern der grausamen Nazi-Diktatur. Vor allem hat Lemm bewiesen, dass man eine Kultur und deren Ausprägungen nicht zerstören kann. Eine Weisheit im Talmud sagt: „Wer nur ein Leben  rettet, rettet die ganze Welt." Physisch konnte Manfred Lemm Mordechaj Gebirtig nicht retten. Aber dennoch darf sein geistiges Vermächtnis in der Zukunft weiterleben.

 

Bücher und CDs von Manfred Lemm:

 

Manfred Lemm: Mordechaj Gebirtig - Jiddische Lieder (Mit einem Vorwort von Johannes Rau).

Edition Künstlertreff Wuppertal 1992 (Dritte Auflage 1998).

296 Seiten, Euro 34,-

ISBN 3-9803098-0-0

 

Manfred Lemm & Ensemble: „Gehat hob ich a Heim". CD

Edition Künstlertreff Wuppertal Musikverlag 1989

18 Tracks, Euro 15,-

EAN  978-3-9803098-1-3

Manfred Lemm & Ensemble: „Der Singer fun Nojt". CD

Edition Künstlertreff Wuppertal Musikverlag 1991

18 Tracks, Euro 15,-

EAN 978-3-9803098-2-0

Manfred Lemm & Ensemble: „Majn Jowl". CD

Edition Künstlertreff Wuppertal Musikverlag 1992

16 Tracks, Euro 15,-

EAN 978-3-9803098-3-7

Manfred Lemm & Ensemble: „Majn Cholem". CD

Edition Künstlertreff Wuppertal Musikverlag 1992

19 Tracks, Euro 15,-

EAN 978-3-9803098-9-9