Ausgabe

Vergangenheit darf nicht totgeschwiegen werden

Wolfgang OELBRACHT

Inhalt

Im Frühjahr 2018 jährt sich der Tag der Befreiung so vieler Menschen aus dem Konzentrationslager Auschwitz zum dreiundsiebzigsten Mal. In den folgenden Monaten 1945 wurden die Überlebenden auch aus den anderen Konzentrationslagern befreit. 

Viele Millionen Menschen, vor allem mehr als sechs Millionen Juden, waren vorher in den Lagern ermordet worden.  Welche das grosse Glück hatten, wieder frei zu kommen, wussten zwar, dass sie überlebt haben, jedoch wussten sie nicht, was sie nun erwartete.

 Fanden sie vielleicht noch die Partnerin oder den Partner, waren da vielleicht noch Geschwister oder andere Verwandte, gab es noch vereinzelt einen guten alten Freund oder einen der damals in der NS-Zeit seltenen guten Kollegen oder der ganz wenigen ehemaligen hilfreichen Nachbarn ?     

Diese bangen Fragen wurden nicht immer schnell beantwortet. Oft vergingen Monate oder Jahre, oft fanden die Menschen, die das unvorstellbare Leid in den Konzentrationslagern überlebt hatten, kaum jemanden, der ihnen nahe stand. Wo war wer geblieben ?         

Glückliches Wiedersehen : Anfang der 1950er Jahre ging ich in Düsseldorf mit meiner Mutter durch den Kaufhof.

Vor der Uhren-Abteilung blieb meine Mutter plötzlich stehen, fasste mich am Arm und sagte: „Da steht ein älterer Herr. Ich glaube, den kenne ich von früher. Vielleicht ist das Herr Dalibor !“ „Wer ist Herr Dalibor ?“, fragte ich meine Mutter. „Herr Dalibor ist ein früherer Mitarbeiter im Uhrengeschäft, in dem ich bis 1938 gearbeitet habe. Ich habe ihn damals das letzte Mal gesehen ! Wenn es wirklich Herr Dalibor ist, würde ich mich sehr freuen ! Er ist Jude ! Ein sehr freundlicher Herr ! Ich muss unbedingt wissen, ob er es ist !“     

Dann ging meine Mutter auf eine Verkäuferin in der Abteilung zu und fragte sie: „Der ältere Herr in Ihrer Abteilung: Ist das vielleicht Herr Dalibor ?“ Die Verkäuferin nickte überrascht. Meine Mutter bat sie: „Würden Sie bitte so freundlich sein und ihm sagen, dass hier die Inge steht ?“ Als die Verkäuferin ihm diese Mitteilung brachte, rief er ganz laut: Inge !!! 

Dann lief er auf meine Mutter zu, breitete seine Arme aus und die beiden fielen sich um den Hals und lachten und sahen sich so glücklich an, als hätten sie aufeinander gewartet.     

Ich stand abseits und konnte nicht anders als mitlachen. Welch ein glückliches Wiedersehen, welch eine Freude, welch eine Herzlichkeit ! Herr Dalibor und meine Mutter schienen die Welt um sich zu vergessen. Sie fassten sich bei den Händen und erzählten, was sie auf dem Herzen hatten, was sie erlebt und was sie erlitten hatten. Herr Dalibor hat seine ganze Familie im KZ verloren und war froh, wenn wer ihm jetzt freundlich zugetan war.     

Ich weiss nicht mehr, wie lange Herr Dalibor und meine Mutter da gestanden und sich gesagt haben, was dem anderen von Bedeutung sein musste.     

Als sie sich verabschiedeten, war es, als sei ein Stück der alten Zeit wieder wach geworden, ein Stück der Zeit vor 1938 und vor der Zeit, als die Grausamkeiten im Lande zunahmen und die Menschen jüdischer Abstammung geächtet, verfolgt, drangsaliert, gepeinigt, geknechtet, geschunden und schliesslich getötet wurden.     

Ich erinnere mich, dass meine Mutter Herrn Dalibor später noch öfters gesehen hat. 

Es war jedes Mal etwas Besonderes.

Meine Mutter hatte durch ihren jüdischen Kollegen auch andere Personen jüdischer Abstammung kennengelernt: So zum Beispiel eine alte Dame, welche immer wieder Hilfe brauchte, wenn es darum ging, für einen Feiertag Mahlzeiten vorzubereiten und dann ihr beim Essen zur Seite zu stehen.

Oder sie hat für eine grössere Gesellschaft „gefillte Fisch“ zubereitet.

Die Begegnung meiner Mutter mit ihrem jüdischen Kollegen war so schön und so wesentlich, dass sie nicht in Vergessenheit geraten sollte. Meine Mutter ist längst verstorben. Ihr Vorname war Regine. Ihre Kollegen nannten sie alle Inge.