Eine Studie erzählt die Geschichte der israelischen „Matzpen“-Gruppe
Anders als in den postnazistischen Gesellschaften, in denen „Israelkritik“ eine der gängigen Äusserungsformen des Antisemitismus darstellt, sorgen sich in Israel mitunter die radikalsten Kritiker des Zionismus ernsthaft um die Zukunft ihrer Gesellschaft. Besonders deutlich wird dies in den Texten der Sozialistischen Organisation Israels, die unter dem Namen ihrer Zeitschrift Matzpen (Kompass) bekannt wurde. Die aus einer Abspaltung der Kommunistischen Partei entstandene Gruppe bestand von 1962 bis 1983. Sie konfrontierte die israelische Gesellschaft mit ihren grundsätzlich im Zionismus angelegten Widersprüchen zu einer Zeit, als diese gesamtgesellschaftlich noch weitestgehend tabuisiert wurden.
Matzpen stiess damit auf massive, oft auch gewalttätige Ablehnung, nicht zuletzt deswegen, weil sie ihre Kritik zu einer generellen Ablehnung des Zionismus radikalisierte, einschliesslich der Forderung nach der Abschaffung jenes Rückkehrgesetzes, das als Reaktion auf den Nationalsozialismus allen vom Antisemitismus Verfolgten die Einreise nach Israel garantiert.
Ausgestattet mit dem Antiimperialismus Lenins sowie dem Antikolonialismus Frantz Fanons und Aime Césaires forderte Matzpen eine „Dezionisierung“ Israels, die in der arabischen Welt eine Akzeptanz der Juden und einer „hebräischen Nation“ ermöglichen sollte.
In den frühen Texten der Matzpen kommt sehr deutlich die Angst zum Ausdruck, der jüdischen Bevölkerung in Israel könne bei einer fehlenden Aussöhnung mit der arabischen Bevölkerung ein ähnliches Schicksal drohen wie den französischen Kolonialisten in Algerien, – dies allerdings mit schwerwiegenderen Konsequenzen, da die Juden kein „Mutterland“ haben, in das sie zurückkehren könnten.
Dabei ging es der Organisation in seiner anfänglichen Konzeption noch um eine Begründung der israelischen Existenz jenseits des Zionismus. Entsprechend deutlich kritisierten insbesondere die Gründer der Organisation auch noch den arabischen Nationalismus – Im Gegensatz zu späteren Protagonisten wie beispielsweise dem im deutschsprachigen Raum ungleich einflussreicheren Michael Warschawski. So formulierte etwa Meir Smorodinsky Mitte der 1960er Jahre für Matzpen: „Eine Politik, die die Rechte der Juden in Palästina verleugnen wird, führt in eine Katastrophe und die arabische Nationalbewegung in die Irre.“
Erstmals in deutscher Sprache wurde nun die Geschichte der Matzpen vom Historiker Lutz Fiedler aufgearbeitet, der zurzeit an der Hebräischen Universität in Jerusalem forscht. Die Studie beruht auf seiner an der Universität Leipzig verfassten Dissertation aus dem Jahr 2015. Fiedler erzählt ausgesprochen kenntnisreich die Vor-, Gründungs- und Spaltungsgeschichte der Organisation und skizziert ihre theoretischen Konzeptionen hinsichtlich der Spezifik des Klassencharakters der israelischen Gesellschaft und des israelisch-arabischen Konflikts.
Er stellt die zeitweilige Kooperation und die Konflikte mit Uri Avnery und linkszionistischen sowie traditions-kommunistischen Gruppierungen dar, ebenso die Kontakte zur DFLP und zu Teilen der Fatah. Er beschreibt die internationale Vernetzung von Matzpen mit Grupperungen und Aktivisten der Neuen Linken und analysiert die mitunter hilflos und hysterisch wirkenden Reaktionen der offiziellen israelischen Politik auf Matzpen, die in keiner Relation zu der Grösse der Gruppierung standen.
Fiedler begreift die Geschichte von Matzpen als „Geschichte einer jüdisch-arabischen Verbundenheit, die unter der Flagge des sozialistischen Internationalismus beanspruchte, Wegbereiter einer gemeinsamen Zukunftsperspektive für die gesamte Region zu werden.“ Zugleich sieht er in der Geschichte der Gruppe „Grundfragen der israelisch-jüdischen Existenz wie in einem Brennspiegel“ gebündelt. Dies ermögliche es anhand der Entwicklung des linksradikalen Antizionismus „eine Geschichte Israels vom Rande her“ zu erzählen.
Fiedler hat sein Buch Akiva Orr gewidmet, neben Moshe Machover, Oded Pilavsky und dem arabischen Trotzkisten Jabra Nicola einer der wichtigsten Protagonisten der Matzpen. Akiva Orr, geboren 1931 in Berlin, verstorben 2013 in Israel, hatte 1948 in der israelischen Armee gekämpft und war Gründungsmitglied der Gruppe. Er wurde im grossen Hafenarbeiterstreik in Haifa von 1951 politisiert und trat 1953 der Kommunistischen Partei bei, deren Mitglied er bis 1962 blieb. Später ging er wie Machover nach London, kehrte aber Anfang der 1990er Jahre nach Israel zurück.
Orr war mit dem marxistischen Theoretiker Cornelius Castoriadis befreundet und engagierte sich in London zeitweise beim englischen Ableger der Gruppe Socialisme ou Barbarie. Nie aber unterwarf er sich den Vorgaben irgendeiner Internationale. Als sich einige seiner ehemaligen Genossen diversen Internationalen der Trotzkisten angliedern wollten, erklärte der im besten Sinne antiautoritäre Orr, er habe doch nicht mit der KP gebrochen, die eine Filiale Moskaus war, um nun eine Filiale Londons oder Brüssels zu werden.
Anhand Orrs Schriften hätte Fiedler allerdings expliziter Kritik am Antisemitismus-Verständnis der Matzpen formulieren können, wie dem Buch auch insgesamt eine deutlichere Beurteilung der behandelten Gegenstände gutgetan hätte. Orr spricht in seinen Publikationen statt von Antisemitismus stets von „anti-jüdischem Rassismus“. Rassismus wird bei ihm ausschliesslich funktionalistisch verstanden.
Orr unterstellt den Zionisten, sie seien nicht von Angst vor physischer Vernichtung, sondern von Sorge um den Verlust ihrer jüdischen Identität getrieben, wobei doch letzteres in vielerlei Hinsicht ein Resultat von ersterem ist. Ähnlich wie aktuelle linke Kritiker des Zionismus, die die jüdische Selbstbehauptung in Form der staatlichen Selbstbestimmung als partikularistisch ablehnen, stellte Orr für seine Kritik des Zionismus stets eine „universelle Moral“ als zentralen Bezugspunkt heraus. Diese ermöglichte ihm allerdings auch eine Kritik an politischen Artikulationen auf palästinensischer Seite.
Anders Jakob Taut von Michael Warschawskis Matzpen-Fraktion, auf den sich antizionistische Schläger und die Avantgarde der linken Kooperation mit dem Islamismus in Deutschland und Österreich auch heute noch positiv beziehen. In seiner Schrift „Judenfrage und Zionismus“ dekretierte Taut unmissverständlich: „Der Nationalismus der entwickelten Länder ist kompromisslos immer zu bekämpfen; dagegen ist der Nationalismus der unterdrückten Völker grundsätzlich eine emanzipatorische Tat, muss also unterstützt werden.“
Besonders instruktiv ist Fiedlers Darstellung der in der Zeitschrift Khamsin geübten Religionskritik. Bei Khamsin“arbeiteten Aktivisten der Matzpen von 1974 bis 1987 mit linken arabischen Intellektuellen zusammen, beispielsweise mit Sadik Al-Azm. Dessen scharfe Kritik an Edward Saids Verteufelung des Westens erschien erstmals in der zunächst in Paris, dann in London herausgegebenen Zeitschrift. Al-Azm kritisierte den Märtyrerkult in der palästinensischen Nationalbewegung. Ähnlich lief die Zusammenarbeit mit Lafif Lakhdar, den „arabischen Spinoza“, der eine konsequente Trennung von Politik und Religion in den arabischen Gesellschaften forderte, sich über „dieses Mittelalter, in dem wir immer noch leben“ empörte und explizit die Judenfeindschaft beispielsweise in Ägypten und Algerien thematisierte.
Während sich massgebliche Teile des europäischen Linksradikalismus lange Illusionen über die iranische Revolution machten, erschienen in „Khamsin“ bald nach der Islamischen Revolution von 1979 scharfe Kritiken an den Entwicklungen im Iran, insbesondere von Kanan Makiya und dessen Frau Afsaneh Najmabadi.
Auch Akiva Orr hob sich Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre durch eine dezidierte Kritik am politischen Islam von einer Vielzahl europäischer Antizionisten ab. So betonte er in seinem Buch Israel: Politics, Myths and Identity Crisis: „Das Schweigen der Atheisten über den Islam läuft auf Selbstaufgabe hinaus und ist ein weiterer Schritt hin zu religiös begründeten Exekutionen.“
Mitunter übernimmt Fiedler in seiner Darstellung problematische Begrifflichkeiten aus dem antizionistischen Diskurs, etwa wenn er von der „palästinensischen Katastrophe“ von 1948 spricht oder den Begriff der „Nakba“ kolportiert, der ohne eine Parallelisierung mit der Shoah kaum zu haben ist. Und das durchaus im Gegensatz zur Matzpen, in deren Texten in der Regel treffender von der „arabischen Tragödie von 1948“ geschrieben wurde.
Hinsichtlich der Auseinandersetzungen der 1930er Jahre im Mandatsgebiet Palästina ist bei Fiedler von „gewaltsamer Eskalation“ die Rede, kaum jedoch vom Antisemitismus entscheidender Teile der arabischen Nationalbewegung. Dieser hatte jedoch entscheidenden Einfluss auf den weiteren Verlauf des Konflikts wurde aber von Akiva Orr noch Anfang des 21. Jahrhunderts im Interview mit dem Rezensenten dieser Zeilen kategorisch in Abrede gestellt.
Die weitgehende Ignoranz von Matzpen gegenüber dem globalen und insbesondere dem arabischen Antisemitismus nach 1945 wird bei Fiedler nicht genügend herausgearbeitet. Umso mehr aber macht er deutlich, inwiefern die linksradikalen Aktivisten in Israel „unter Umgehung der jüngsten jüdischen Vergangenheit an die politischen Utopien der Zwanziger- und Dreissigerjahre“ unmittelbar anknüpfen wollten.
In den Texten der Gruppe wird der zionistische Partikularismus stets mit einem Universalismus konfrontiert, der aus der Zeit vor Auschwitz stammt. Auch nach dem Nationalsozialismus wollte Matzpen „das eigene Selbstverständnis erneut durch einen universalistischen Erwartungshorizont stabilisieren“. Zu Recht verweist Fiedler darauf, dass sich die Aktivisten der Gruppe damit auf eine Tradition bezogen, „die ihren einstigen Trägern bereits auf grausamste Weise widerlegt worden war.“
Er verdeutlicht das Ende der universalistisch orientierten geschichtsphilosophischen Hoffnungen anhand von Abraham Léon, der als vierundzwanzigjähriger Trotzkist im belgischen Untergrund mit seiner Schrift „Judenfrage und Kapitalismus“ nochmals versuchte, eine kommunistische Antwort auf den Antisemitismus zu formulieren. Zwei Jahre später wurde Léon in Auschwitz ermordet: „Mit der Vernichtung des osteuropäischen Judentums wurde auch seine Utopie ihrer menschlichen Basis beraubt; sie bezeugte auf grausame Weise das Scheitern der einstigen universalistischen Zukunftshoffnung.“ Die Versuche der Neuen Linken, unmittelbar an die Überlegungen aus „Judenfrage und Kapitalismus“ anzuschliessen, deutet Fiedler als „Ausdruck ihrer Selbstabschliessung gegenüber Léons Schicksal und der Bedeutung des Holocaust für das eigene Selbstverständnis.“
Abschliessend kontrastiert Fiedler den Antizionismus der Matzpen-Mitglieder mit den Biografien von Isaac Deutscher, Hersh Mendel, Leopold Trepper und Joseph Berger-Barzilai. Isaac Deutscher erklärte in den 1950er Jahren seinen Antizionismus, der auf seinem Vertrauen in die emanzipative Kraft der europäischen Arbeiterbewegung basiert habe, längst aufgegeben zu haben. Der polnische Trotzkist Hersh Mendel, den Eike Geisel als von Stalinismus und Nationalsozialismus „zweifach gebrochenen Revolutionär“ bezeichnet hat, wandte sich nach dem Zweiten Weltkrieg dem Arbeiterzionismus zu und ging nach Israel, ebenso wie Leopold Trepper, ehemals Chef der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“, und Joseph Berger-Barzilai, Mitbegründer der Palästinensischen Kommunistischen Partei. Berger-Barzilai verbrachte mehr als 20 Jahre in stalinistischen Arbeitslagern. Seine Autobiografie veröffentlichte er unter dem bezeichnenden Titel Shipwreck of a Generation.
Diese jüdischen „alten Linken“ trennte von den antizionistischen Aktivisten der Matzpen „weniger ein politisch-programmatischer Gegensatz, sondern vielmehr der kaum zu überbrückende Graben zwischen dem Fortschrittsoptimismus und der biografischen Erfahrung eines durchlittenen Jahrhunderts.“
Fiedler kommt hinsichtlich der Matzpen zu dem Schluss, dass die „Orientierungskraft ihres Kompasses dort versagen“ musste, wo es um das unversöhnliche Gegenüberstehen von „jüdischer Vergangenheit, israelischer Gegenwart und sozialistischer Zukunft“ ging, die antizionistischen Aktivisten der 1960er, 70er und 80er Jahre der Frage nach den Auswirkungen der Massenvernichtung auf das jüdische Bewusstsein schlicht „ausgewichen“ sind. Zu welchem Verständnis der Widersprüche des Zionismus und der israelischen Gesellschaft sie davon ausgehend gelangten, hat Fiedler herausgearbeitet und wohl formuliert beschrieben.
Lutz Fiedler: Matzpen. Eine andere israelische Geschichte
(Schriften des Simon-Dubnow-Instituts Bd. 25, hrsg. v. Dan Diner)
Göttingen, Bristol, Connecticut: Vandenhoeck & Ruprecht 2017
408 Seiten mit 15 Abbildungen, gebunden, Schutzumschlag, Euro 70,00
ISBN: 978-3-525-37041-4