Erinnern an den geistigen Vater des "Judenstaates"
"Die Welt widerhallt vom Geschrei gegen die Juden, und das weckt den eingeschlummerten Gedanken auf", schrieb Theodor Herzl in der Vorrede zu seinem Buch "Der Judenstaat", das 1896 in M. Breitensteins Verlags-Buchhandlung, Wien, erschien und seinen Autor zum Initiator des politischen Zionismus machte.
Es war der Gedanke von "der Herstellung des Judenstaates", an dessen Verwirklichung und Existenzrecht Herzl fest glaubte und wofür er Zeit seines viel zu kurzen Lebens gekämpft hat – obwohl die Welt von damals, und dazu gehörten auch die teils assimilierte westjüdische Bourgeoisie, diese grandiose Idee zuerst als "Utopie" und "Phantasterei" zurückwies und belächelte. "Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen" – dieser oft zitierte Ausspruch Herzls erreichte anfangs im westlichen Europa meist taube Ohren.
Theodor Herzl (1860 - 1904)
Inzwischen aber gibt es seit 56 Jahren den "Judenstaat", und manch ein Satz in diesem Buch ist im Jahr 2004 immer noch von erschreckender Aktualität, denn "die Welt" widerhallt wieder vom "Geschrei gegen die Juden" – und es sind längst nicht mehr "nur" die Nationalsozialisten neuer Prägung, die auf ihre Art in Erscheinung treten –, und deshalb sollte man sich gegenwärtig immer wieder an jenen Mann erinnern, der 1896 auch gefragt hat: "Ist das, was ich sage, heute noch nicht richtig? Bin ich meiner Zeit voraus? Sind die Leiden der Juden noch nicht groß genug? Wir werden sehen." Es mussten dann noch etwa vierzig Jahre vergehen, bis auch jene Juden, die sich als "Deutsche und der deutschen Kultur zugehörig" fühlten und den Zionismus ablehnten, das sahen und erlebten, was selbst der phantasiebegabte Theodor Herzl nicht für möglich gehalten hätte. Und dann war es für viele von ihnen zu spät. Als Sohn des Kaufmanns Jakob Herzl und der Jeanette geb. Diamant wurde Theodor Herzl am 2. Mai 1860 in Budapest geboren – "nahe der Synagoge", schrieb er am 14. Januar 1898 in der "Jewish Cronicle", London, "in der mich der Rabbi jüngst mit den strengsten Worten anklagte, weil ich – wirklich und wahrhaftig –, weil ich für die Juden mehr Ehre und Freiheit, als sie gegenwärtig genießen, zu erlangen versuche. Aber an der Vordertür des Hauses in der Tabakgasse, wo ich das Licht der Welt erblickte, wird nach zwanzig Jahren ein Zettel mit der Anzeige ‚Zu vermieten’ zu lesen sein". Später erinnerte er sich an seine Schulzeit und schrieb: "Erst wurde ich in eine jüdische Vorschule geschickt, wo ich ein gewisses Ansehen genoß, weil mein Vater ein wohlhabender Kaufmann war. Meine früheste Erinnerung an diese Schule besteht in Prügeln, welche ich erhielt, weil ich die Einzelheiten des Auszugs aus Ägypten nicht wußte. Gegenwärtig möchten mich viele Schulmeister prügeln, weil ich mich zuviel an jenen Auszug aus Ägypten erinnere..." Und über die Zeit auf der Realschule heißt es: "Einer unserer Lehrer erklärte die Bedeutung des Wortes ‚Heiden’, indem er sagte: ‚Zu diesen gehören die Götzendiener, Mohammedaner und Juden.’ Nach dieser merkwürdigen Erklärung hatte ich von der Realschule genug..." Er wechselte dann auf ein "Evangelisches Gymnasium", "eine christliche Anstalt, wo allerdings "die Juden die Mehrzahl" bildeten, "und deshalb hatten wir uns nicht über irgendwelche Judenhetze zu beklagen". Als er noch in Budapest die letzte Gymnasialklasse besuchte, starb seine einzige Schwester, gerade achtzehn Jahre alt, und seine "gute Mutter wurde vor Kummer so schwermütig", daß die Familie 1878 nach Wien übersiedelte. "Während der Trauerwoche besuchte uns Rabbi Kohn und fragte mich, was meine Pläne für die Zukunft wären. Ich sagte ihm, daß ich ein Schriftsteller werden wollte, worauf der Rabbi seinen Kopf ebenso unzufrieden schüttelte, wie er später den Zionismus mißbilligte." Mit achtzehn Jahren, 1878, begann Herzl sein Jurastudium in Wien – 1881-1883 war er Mitglied der deutschnationalen Verbindung "Albia", die er jedoch wegen antisemitischen Anfeindungen wieder verließ –, und 1884 promovierte er zum Doktor der Rechte. Danach heiratete er, 1889, Julie Naschauer, und aus dieser Ehe gingen zwei Töchter und ein Sohn hervor. Herzl war dann, 1891-1895, als Korrespondent der Wiener "Neuen Freien Presse" in Paris tätig, und ab 1896 Redakteur des renommierten Feuilletons derselben Zeitung. Als 1894 der Schauprozeß gegen den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus in Frankreich zu antisemitischen Ausschreitungen führte, entwickelte Herzl – unter dem Eindruck der international kommentierten "Dreyfus-Affäre" - zum erstenmal die Idee einer organisierten Emigration der Juden in einen eigenständigen Staat. Dabei waren ihm ähnliche zionistische Bestrebungen in Osteuropa, die dort als Reaktion auf die zunehmenden Pogrome – vor allem in Polen und Russland – entstanden, noch nicht bekannt. Doch erst durch seine Publikation und sein Wirken fand die Idee des "Judenstaates" weltweit Beachtung und schließlich auch Anerkennung. "Als ich mein Buch beendet hatte", vermerkt er, 1898, zwei Jahre nach dem Erscheinen, "bat ich einen meiner ältesten und besten Freunde, das Manuskript zu lesen. Während er es las, fing er plötzlich an zu weinen. Ich fand diese Erregung ganz natürlich, da er ein Jude war; ich hatte ja auch manchmal beim Schreiben geweint. Aber zu meiner Bestürzung gab er einen ganz anderen Grund für seine Tränen an. Er dachte, ich wäre irrsinnig geworden, und da er mein Freund war, machte ihn mein Unglück sehr traurig. Er lief weg, ohne ein anderes Wort zu sagen. Nach einer schlaflosen Nacht kam er zurück und drang in mich, die Sache zu lassen, da mich jeder für irre halten würde..." Nachdem Herzl von der Stadt München eine Absage erhalten hatte, veranstaltete er in Basel vom 26. zum 29. August 1897 den ersten Zionistischen Weltkongress mit etwa 200 Delegierten, wobei das "Baseler Programm" beschlossen wurde, das die "Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina" forderte. Nach seiner Wahl zum ersten Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation begann Herzl in Wien mit der Herausgabe der Monatsschrift "Die Welt", als Organ der zionistischen Bewegung. "Während der zwei und mehr folgenden Jahre habe ich viele, viele traurige Tage erlebt", schrieb Herzl später, "und ich fürchte, dass noch mehr traurige Tage folgen werden. 1895 begann ich ein Tagebuch zu führen; jetzt sind schon vier starke Bände angefüllt. Sollte ich sie je veröffentlichen, so würde die Welt erstaunt sein, zu erfahren, was ich einzustecken gehabt habe, wer die Feinde meines Planes waren und andererseits, wer mir beistand." Heute weiß man, dass Herzl 1898 vergeblich versucht hatte, mit Hilfe der Fürsprache der damaligen Großmächte den Sultan Abdül Hamid II. (1876-1909) zu einer Zusage für ein autonomes Gebiet im Rahmen des großen Osmanischen Reiches zu bewegen, wobei Kaiser Wilhelm II. ihm jedoch während seiner Orientreise jede Unterstützung verweigerte. Auch Herzls wiederholte Bittgesuche, 1900-1902, an Papst Pius X. und an den italienischen König Viktor Emanuel III. wurden abgewiesen. Hingegen hatte ihm, 1899, der britische Kolonialminister Joseph Chamberlain (1836-1914) ein Gebiet in Uganda für eine eigenständige Siedlung angeboten, ein Vorhaben, das aus mehreren Gründen nicht verwirklicht werden konnte – vor allem, weil für die Mehrheit der Zionisten nur das ehemalige Land der Juden, aus dem sie einst vertrieben worden waren, in Frage kam. Im selben Jahr gründete Herzl dann den "Jewish Colonial Trust" zum Ankauf von Land in Palästina. Drei Jahre später, 1902, veröffentlichte er den Roman "Altneuland", wo er eine mögliche politisch-soziale Ordnung eines selbständigen jüdischen Staates in Palästina entwirft. Neben den sechs Theaterstücken, die zwischen 1882 und 1904 erschienen sind und zum Teil am Kaiserlichen Burgtheater, Wien, mit Erfolg aufgeführt wurden, dem Prosaband "Buch der Narrheit" (1888), den "Philosophischen Erzählungen" (1900) und den posthum veröffentlichten "Zionistischen Schriften" und "Tagebüchern" (1904/05) bleiben "Der Judenstaat" und "Altneuland" seine bekanntesten und auch wichtigsten Werke. "Aber eines betrachte ich als gewiß und über alle Zweifel erhaben: die Bewegung wird anhalten. Ich weiß nicht, wann ich sterben werde, aber der Zionismus wird nie sterben", schrieb er sechs Jahr vor seinem Tod. Im Alter von nur 44 Jahren, am 3. Juli 1904 erlag Theodor Herzl, der Visionär und unbeugsame Kämpfer, in Edlach an der Rax (Österreich) einem Herzleiden; er wurde 45 Jahre später in den 1948 gegründeten "Judenstaat" Israel überführt und auf einem nach ihm benannten Berg westlich von Jerusalem beigesetzt. Kaum auszudenken, wie das jüdische Volk heute dastünde, hätte es nicht einst einen Theodor Herzl gegeben.