404: Not Found
Die Thora ist das Herzstück des jüdischen Lebens, Denkens und Glaubens. Gleichzeitig leben wir Juden in modernen Demokratien, denen wir oft Wohlstand und Sicherheit verdanken. Der Geist der Thora und die Verbundenheit mit der Demokratie gehören zu den Eckpfeilern des heutigen jüdischen Lebens. Demgegenüber findet sich immer wieder die Behauptung, dass Thora und Demokratie Gegensätze seien. Demokratie, so glaubt man vereinfachen zu dürfen, sei das Recht des Menschen, sich seine Gesetze und Regeln selbst zu geben, über sich selbst zu bestimmen. Thora aber sei die Herrschaft eines g-ttlichen Gesetzes über den Menschen, die Bestimmung des Menschen durch etwas Anderes, zwar Höheres, aber ihm Fremdes. Diese Behauptung entspricht nicht der Wahrheit, und hält einer historischen Prüfung nicht stand. Meint man mit Demokratie die antike Volksherrschaft griechischer Stadtstaaten, sind Demokratie und Thora tatsächlich Gegensätze. Die antike Demokratie wies noch unausgereifte Strukturen auf, die Machtkontrollen funktionierten nur bedingt. De-magogen hatten oft genug leichtes Spiel, und die Herrschaft des Volkes drohte jederzeit in die Tyrannei des Pöbels umzukippen. Einer solchen Frühform der Demokratie stand die Thora in ihrer vorgegebenen Verfassung und ethischen Fundierung gegenüber. Wenn man heute von Demokratie redet, meint man nicht ihre antike Urform. Die moderne Demokratie weist unzählige Strukturen auf. Ihre Verfassung, die Gesetze und Institutionen beschränken die Beliebigkeit des Handelns. Der moderne Mensch findet sich auch und gerade in seiner demokratischen Verankerung politisch und persönlich beschränkt und geleitet. Zum antiken Gedanken der reinen Volksherrschaft kommt hier vor allem die Festschreibung menschlicher Grundwerte hinzu. Wenn hingegen die Thora als eine Grundverfassung verstanden wird, die in ihren klaren Vorgaben demokratische Freiheiten negieren soll, ist auch hier eine Korrektur angebracht. Denn auch in der Lehre der Thora und der jüdischen Tradition sind demokratische Strukturen nicht nur vorgesehen, sondern sogar gefordert. Die Thora ist unsere Grundverfassung, die als solche nicht veränderbar ist, aber in Einklang damit eine Vielzahl an Wahlverfahren, z.B. des Vorstandes oder des Rabbinats einer Gemeinde, wie auch die Meinungsbildung innerhalb dieser Strukturen durch Mehrheiten vorgesehen ist. Wenn sich also aus dem geschichtlichen Verlauf der säkularen Demokratie die Charta menschlicher Grundrechte immer deutlicher herausgebildet hat, haben sich umgekehrt aus der ethischen Grundverfassung der Thora die hier schon prinzipiell verankerten demokratischen Werte entfaltet. Um diesem Gedanken klarer zu folgen, erscheint ein historischer Rückblick der säkularen Demokratie angebracht. Weiters soll ein tieferer Einblick in die jüdische Vorstellung gesellschaftlicher Strukturen gewonnen werden, wie sie in der Bibel, den talmudischen Schriften und der halachischen Literatur zum Ausdruck kommt. Die starken Ähnlichkeiten und Analogien zwischen Thora und moderner Demokratie erweisen sich hierbei als besonders faszinierend. Historische Wurzeln Den Anfang machen historische Wendepunkte der demokratischen Entwicklung. Hier lässt sich sehr schön erkennen, wie sich aus der Fragilität und Schwäche einer aufkeimenden Volksbewegung mit Rückschlägen, aber unbeirrt, gleichsam Schritt für Schritt, die Stärke der modernen Demokratie entwickelte. 1789. Die Revolution fegt wie ein Wirbelsturm über Frankreich. Die Monarchie wird gestürzt, in Paris herrschen Schrecken und Terror, im Parlament zittern die Abgeordneten, die Guillotine kommt nicht mehr zur Ruhe. Die Jakobiner errichten ihre Diktatur des Volkes und jener herausragende "Moralist" und "Menschenfreund" jener Zeit, Maximilien de Robespierre, macht kurzen Prozess mit Freund und Feind, bis er selbst dem unersättlichen Blutrausch zum Opfer fällt. 1789. Der Beginn der modernen, europäischen Demokratie, die sich noch auf sehr dünnem Eis bewegt. Der fragile Beginn der neuzeitlichen Volksherrschaft von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Kaum ein anderes Datum unserer jüngeren Geschichte zeigt auf so deutliche und dramatische Weise, wie schmal der Pfad ist zwischen echter demokratischer Freiheit und brutaler Gewalt der Masse. Handelt es sich hier um Geburtswehen, um Anfangsschwierigkeiten im Realisieren einer hohen und reinen Idee? Zweifellos. Doch wie steht es um die Demokratie heute, über 200 Jahre später? Die Demokratie, also die "Herrschaft des Volkes" hat einige ihrer tief verzweigten Wurzeln in den antiken Stadtstaaten Griechenlands, allen voran im Athen eines Sokrates und Platon. Sie unterscheidet sich als Herrschaftsform wesentlich von der Monarchie, der Herrschaft des Einen (und deren Zerrform, der Tyrannis) sowie von der Oligarchie, der Herrschaft der wenigen (wie z.B. der Aristokratie und der Timokratie, der Herrschaft des Adels und des Geldes). Die Demokratie Athens beruht auf der Gleichheit der Bürger, auf der Entscheidungsbildung durch die Mehrheit der Bürger, auf der Redefreiheit und dem freien Zugang zu öffentlichen Ämtern und Funktionen, auf regelmäßigen Wahlversammlungen, also auf Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit. So scheint es zumindest auf den ersten Blick. Ein zweiter relativiert die Sache. Ist die Demokratie hier die Herrschaft des Volkes? Nein, sondern die aller Bürger. Doch wer ist ein Bürger? Eine Frau, ein Sklave, ein Fremder? Nein, nein und nochmals nein. Nur ein kleiner Teil der Gesellschaft darf Anteil am öffentlichen Leben nehmen. Nach heutigen Maßstäben ist die antike Demokratie wenig mehr als eine Oligarchie und oft genug eine leichte Beute für Volksverhetzung, Korruption und Missachtung der unumstößlichen, historisch unveränderbaren Menschenrechte. Diese sind nicht immer identisch mit Bürgerrechten. Auch hier sehen wir die gefährliche Schattenseite der Demokratie, der Volksherrschaft (demos=Volk, kratein=herrschen), nämlich die Ochlokratie, die Herrschaft des Pöbels, die allen voran Sokrates selbst, dem Verteidiger der Demokratie und dem moralischen Fragesteller, das Leben kostet. Der Mensch als Wolf? Homo homini lupus est, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, sagte Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert – der Mensch strebt nach Macht und Besitz. Er will, was er nur kriegen kann. Und ist er der Stärkere, so nimmt er dem Schwächeren: Hab, Gut und auch Leben. Leicht aber dreht sich das Rad. Der Sieger von heute kann der Besiegte von morgen sein. Die reine Gewaltherrschaft ist für jeden gefährlich. Der Mensch will aber zunächst und vor allem eines: überleben. Dazu bedarf er einer Sicherheit. Der Kampf aller gegen alle kann laut Hobbes nur durch die Unterwerfung aller unter die Macht eines Souveräns beendet werden. Machtstreben und Konkurrenzverhalten können nur dort aufhören, wo eine noch wesentlich größere Macht dem Einzelnen entgegensteht und damit Sicherheit und Frieden gewährt. Auch unsere Weisen in der Mischna haben sich bezüglich der damaligen paganischen Gesellschaft ähnlich geäußert: "Ohne Furcht vor der Herrschaft hätten sie einander lebendig verschlungen." Eine etwas positivere Meinung vom Menschen hat hingegen Hobbes´ Zeitgenosse, der englische Empirist John Locke. Auch er geht in seinen politischen Überlegungen von einem Naturzustand aus, der aber – anders als Hobbes’ Krieg aller gegen alle – ein Zustand der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit ist. Erst durch den Krieg, d.h. den Versuch Einzelner, andere zu unterwerfen, gerät das natürliche Gleichgewicht ins Wanken. Um die daraus resultierende Unsicherheit zu beseitigen, schließen sich die freien und gleichen Menschen durch einen Vertrag zu einer bürgerlichen Gesellschaft zusammen, in der die Legislative vom Volk dazu ermächtigt wird, zum öffentlichen Wohle Gesetze zu beschließen. Im Sinne eines Gleichgewichts der Mächte erachtet Locke die Trennung von legislativer, exekutiver und föderativer Gewalt (für Krieg, Frieden und Außenpolitik verantwortlich) für notwendig. Die Regierung solle, auch wenn sie von der Mehrheit gewählt sei, nur regulativ in den Gesellschafts-prozess eingreifen, d.h. so wenig wie möglich ihre Herrschaft ausüben. Angesichts der natürlichen Freiheit und Gleichheit der Menschen verteidigt Locke das für unser heutiges Demokratieverständnis so wichtige Recht des Widerstands, das den Bürger zum Ungehorsam gegenüber dem Staat berechtigt, wenn von diesem natürliche Menschenrechte verletzt werden. Die schon bei Locke angedeutete Gewaltentrennung bildet ein zentrales Thema in den staatstheoretischen Ausführungen Montesquieus. Der adelige Aufklärer hasst jede Form von Despotie und besonders den Absolutismus Ludwigs XIV. Demgegenüber glaubt Montesquieu an den Wert einer verfassungsmäßigen Ordnung, die die drei Gewalten Judikative, Legislative und Exekutive zwar prinzipiell trennt, aber doch so miteinander verzahnt, dass sie sich gegenseitig kontrollieren und ausgleichen. Es ist dies ein Gedanke, der für die Revolution und Unabhängigkeit der USA ebenso zentral ist wie für die Herausbildung der modernen liberalen Demokratie. Womit wir wieder bei Frankreich sind. Die Revolution erklärt den bereits 1778 verstorbenen Philosophen Jean-Jaques Rousseau post mortem zum revolutionär-demokratischen Vordenker. Laut Rousseau ist der Mensch in seinem natürlichen Zustand rein und unverdorben, während erst die fortschreitende Zivilisation und die wachsende soziale Differenzierung zu Ungleichheit, Ausbeutung und gegenseitiger Feindschaft der Bürger führen. Diesen Gedanken konkretisiert Rousseau im "Contrat social". Demnach verzichteten die Naturmenschen in einem ursprünglichen Akt der Vergesellschaftung auf ihre natürlichen Freiheiten und schlossen sich freiwillig zu einer Assoziation zugunsten des Gemeinwillens (des "volonté général") zusammen. Diesen versteht Rousseau auf analytische Weise als gemeinsamen Willen bzw. als den verbleibenden Rest, wenn nämlich einander entgegengesetzte subjektive Willensäußerungen sich gegenseitig aufheben. Im volonté général erwerben die Menschen jene "wahre Freiheit, die in der Bindung aller an das Gesetz besteht", das sie sich selbst gegeben haben und vor dem sie alle jene höhere Form der Gleichheit gewannen, zu deren Gunsten sie auf die natürliche Gleichheit verzichteten. Die natürliche Freiheit wird also freiwillig zugunsten einer im gemeinsamen Gesetz realisierten Freiheit aufgegeben. Rousseau ist weit davon entfernt, Freiheit und Gesetz als Gegensätze zu sehen, sondern erkennt gerade im egalitären und auf Volkssouveränität ausgerichteten Gesetz die aus dem Naturzustand entwickelte, höhere Form der Freiheit. Dabei unterscheidet er strikt zwischen dem Gemeinwillen, dem volonté général, und dem Willen aller, dem volonté de tous. Letzterer ist die Summe aller persönlichen, individuellen, auch rein egoistischen Willensakte. Doch die Gesamtheit ist mehr als nur die Summe ihrer Teile, die Gemein-schaft der Menschen ist mehr als die Summe aller Individuen. Sofern sich die menschliche Gesell-schaft gemäß den Gesetzen der unverbrüchlichen Menschenrechte organisiert, vermag sich der Einzelne ebenso harmonisch in die Gemeinschaft einzugliedern wie sich ein Körperteil im Organismus einfügt. Rousseau war sich sehr wohl bewusst, dass der (französische) Souverän diesen volonté général keineswegs repräsentiere und dass die moderne Gesellschaft keineswegs dem Ideal des freien Gesetzes entspreche. Seine Antwort auf die korrupte Realität war die Verinnerlichung des Gemeinwillens als Gewissen. In einem Leben gemäß den Geboten des Gewissens sah Rousseau den Versuch des Individuums, zum "natürlichen", autarken Menschen zurückzukehren. Rückblickend geben die Wirren und Schrecken der Französischen Revolution Rousseau in seiner Zurückgezogenheit auch ein wenig recht. Im Nachhinein sah man die demokratische Sache naturgemäß anders, und so mancher glühende Revoluzzer wandelte sich zum gehorsamen Bürger einer staatlichen Obrigkeit. So lässt sich auch Hegels gewaltiges philosophisches System als Produkt dieser Zeit verstehen. Demnach ist es die allgegenwärtige, alles durchwirkende Vernunft, die sich in jeder Wirklichkeit konkretisiert und im Staat ihre höchst strukturierte Entfaltung erfährt. Vielleicht lässt sich Hegels System gar nicht eindeutig und klar interpretieren. Doch seine Verteidigung des preußisch-autoritären Staates und das Identifizieren des Vernünftigen mit dem Wirklichen sind ihrer Tendenz nach reaktionär. Was zählt schon der Einzelne, wenn sich nur die Vernunft in ihrer großen, langsam-bedächtigen Weise ihre notwendige Bahn bricht? Bedauerlich mag vielleicht das eine oder andere Schicksal sein, doch "wo gehobelt wird, fallen Späne". Hegels Schüler, politisch "links" und "rechts", verteidigten als zwei Ausprägungen eines organischen Staatsgedankens Nationalismus und Kommunismus. Der erste führte zum ersten Weltkrieg und der unvergleichlichen Schreckens-herrschaft des Nationalsozialismus. Und auch Lenins "Diktatur des Proletariats", besonders aber Stalins Terrorregime kostete vielen Millionen Menschen das Leben. Niederlagen und Herausforderungen Bei allen Rückschlägen und Gefahren erscheint uns die Geschichte der Demokratie rückblickend als ein Erfolgsmodell, das in der ständigen Herausforderung und Bekämpfung aus wiederholten Niederlagen gestärkt hervorgegangen ist. Können wir überhaupt aus der Geschichte lernen? Der Philosoph Karl Popper würde wohl sagen: ja und nein. Wir können zwar nicht sagen, was wahr und richtig ist. Aber wir können sagen, was unwahr und falsch ist. Ein wenig erinnert das an David Hume, der meinte, dass unsere Erfahrung keine Allgemeinschlüsse zulasse. Denn auch die Erkenntnis, dass etwas einhundert Mal geschehen ist, bedeutet nicht, dass es auch das einhundert und erste Mal geschehen wird. Dass sich die Zukunft ebenso verhalten werde wie die Vergangenheit, sei vielleicht eine plausible Vermutung, aber wissenschaftlich- rational nicht zu rechtfertigen. Auch Popper verzichtet auf Gesetzmäßigkeiten. Er bestreitet die Existenz von Universalgesetzen und vertritt demgegenüber die Theorie, dass alle Beweise in der Wissenschaft, beispielsweise in der Soziologie, nur auf dem Weg der Falsifikation, also per negationem, erreicht werden können. Die Geschichte zeigt uns nicht, wie etwas geschehen soll, sondern, wie etwas nicht geschehen soll. (Popper war wohl kein Machiavellist ...) Die Wissenschaft schreitet nicht von einer Wahrheit, einer Verifikation, zur nächsten, sondern von einer Widerlegung, zur nächsten. Zwar nehmen wir vorläufig an, dass etwas wahr ist. Doch nur solange, bis sich seine Falschheit erwiesen hat. Die Erfahrung ist die große Lehrmeisterin, denn sie gibt uns ein Wissen davon, was wir alles nicht wissen. Das klingt nach wenig, ist aber viel. Denn auch Sokrates galt nur deshalb als der Weiseste unter den Menschen, weil alle anderen "wussten", er aber wusste, dass er nichts wusste. Und auch Popper kritisiert die "Wissenden", die Systematiker und Dogmatiker, die sich – wie Platon, Marx oder Hegel – eine megalomanische Gesellschaftsplanung anmaßten und damit zu Feinden der offenen Gesellschaft wurden. Eine lebendige Demokratie Bekannt ist Churchills Ausspruch, die Demokratie sei eine denkbar schlechte Regierungsform, doch kenne er keine bessere. Dazu gehört aber auch die Existenz von nicht-staatlichen Instanzen, die – auch bei formal gültiger Verfassung und Gewaltentrennung – gegen Gesetzesentwürfe, die aus fundamentalen moralischen Überlegungen heraus offensichtlich nicht rechtens sind, opponieren und zu deren Korrektur drängen. Denn nicht nur formal müssen die Gesetze demokratisch sein, auch hinsichtlich Inhalt und Folgen muss dem Geist und dem Charakter der Demokratie entsprochen werden. Darin besteht der Unterschied zwischen einer abstrakten, formalen und einer konkreten, lebendigen Demokratie. Die Garantie ihres Bestehens liegt nicht nur innerhalb ihrer, sofern damit bloß ihre Institutionen gemeint sind. Sie liegt auch und vor allem außerhalb der offiziellen demokratischen Strukturen. Der wesentliche Unterschied zwischen einer modern-totalitären und einer neodemokratischen Staats-auffassung manifestiert sich in der Toleranz gegenüber außerparlamentarischen Organisationen, die parallel zu den offiziellen Institutionen wirken, diese kritisieren und von "außen" kontrollieren. Besonders wichtig ist diese externe Mäßigung in kleineren Gemeinden und Gesellschaften, bei denen oft eine bestimmte Gruppe den Ton angibt und die Neigung zur Oligarchie besteht. In einer jeden demokratischen Gesellschaft muss es, unter gewissen Umständen, möglich sein, zivilen Ungehorsam zu leisten (wobei auch andererseits der Einzelne negative Konsequenzen seines Handelns wie z.B. Pönalen in Kauf nehmen muss). Der Widerstand gegen Unrecht, die Meinungs- und Redefreiheit und das Befolgen moralischer Gebote gehören zu den menschlichen Grundrechten schlechthin und sind nicht mit anarchischen Vorstellungen zu verwechseln. Männer wie Mahatma Gandhi und Martin Luther King jr. gelten gerade wegen ihres zivilen Ungehorsams zu den demokratischen Vorbildern unserer Gegenwart. So paradox es erscheinen mag: gerade von einem solchen "äußeren" Widerstand gegen herrschende demokratische Strukturen, von einem solchen ständigen Hinterfragen und Bezweifeln hängt das Fundament und die Stärke der Demokratie ab. Das ist das Antlitz einer intakten, ständig geprüften und gelebten Demokratie unserer Tage. Doch sollen wir nicht vergessen, dass auch diese Art der Demokratie nur das kleinste Übel ist. Oft genug kommen auch hier Rechte und Freiheiten von Einzelnen und Minderheiten nicht optimal zum Tragen. Und oft genug vertreten Delegierte, die alle vier Jahre gewählt werden, nicht notwendigerweise bei jeder Entscheidung die Mehrheit der Bevölkerung. Diese und ähnliche Probleme sind keine Rätsel, die sich lösen lassen, sondern Aufgaben und Herausforderungen, denen sich jeder Einzelne von uns immer wieder stellen muss. Die jüdische Perspektive Nach diesem geschichtlichen Überblick der säkularen Demokratie konzentriert sich die Betrachtung im folgenden Abschnitt auf die jüdische Perspektive gesellschaftlicher Werte und zeigt dabei Parallelen zwischen Thora-Lehre und demo-kratischem Gedankengut auf. Die Thora behandelt die Problematik einer idealen Gesellschaft nicht, wie üblich, aus politologischer, sondern aus pädagogischer Sicht, nicht nach Nützlichkeitskriterien, sondern nach moralischen Maßstäben. Um das angemessen zu verstehen, erscheint ein Einblick in die jüdische Geschichte angebracht. Hunderte Jahre bevor die erste bekannte Demokratie in Athen entstand, nahm das jüdische Volk in einer öden Wüste am Fuße eines kleinen Berges eine geschriebene Verfassung entgegen: die Thora. Gemeinsam mit einer erklärenden mündlichen Überlieferung bildete diese Verfassung nicht nur den Bund zwischen dem Juden und seinem G-tt, sondern auch den Bund zwischen Mensch und Mensch sowie zwischen Gesellschaft und Individuum. Das Herzstück dieser Verfassung und der späteren Predigten der Propheten, die ihre Einhaltung gemahnten, lautet: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst", "Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollt ihr erstreben", "Zeigt Rücksicht und seid wohltätig", "Übe das Gute und Aufrichtige", "Gnade und Barmherzigkeit lasst euren Brüdern widerfahren", "Liebt Wahrheit und Friede" usw. Hier wird nicht Nützlichkeit und Effizienz in den Mittelpunkt gestellt, sondern gelehrt, was jenseits alles irdischen Nutzens richtig und verpflichtend ist durch das Gebot des Höchsten. Die Gleichheit vor dem Gesetz bildet den Grundstein: "Ein Gesetz soll euch sein, dem Fremden wie auch dem Bürger". Was andererseits Rechte und Pflichten betrifft, besteht durchaus eine «Regel außerhalb der Regel», eine gesellschaftlich ausgleichende Gerechtigkeit. Bei dieser im Gesetz verankerten Gnade handelt es sich, wenn man so will, um eine Art korrigierende Diskriminierung, um ein soziales Netz zugunsten des Fremden, Armen, Waisen, der Witwe und des Tempeldieners, also zugunsten all jener, die von sich aus wirtschaftlich benachteiligt sind. Auch aus der unterschiedlichen Aufgabenteilung innerhalb der Gesellschaft ergeben sich unterschiedliche Rechte und Pflichten. Dieser Unterschied ist nicht der Ausdruck einer Ungerechtigkeit, sondern die Frucht einer persönlichen und lebendigen Gleichheit. Hier spielen beispielsweise der wirtschaftliche Stand, die physische Kraft oder die Rolle der Frau bei der Kindererziehung eine entscheidende Bedeutung. Zur gleichen Zeit, als die ägyptischen und assyrischen Könige unumschränkte Herrscher ihrer Völker waren und sich als Gottheiten verehren ließen, vernahm die Erde erstmals den Biblischen Spruch: "Nach der Mehrheit soll der Ausschlag erfolgen." Der Rechtstradition nach (Rabb. Jizchak Alfasi) gilt das nicht nur für die Rechtssprechung innerhalb der Richterschaft, sondern auch für die Gesellschaft im Allgemeinen. Damals "hörte die Erde und bebte", wie es in den Psalmen heißt. Nicht der Despot, sondern die Mehrheit entscheidet – allerdings auf der Basis einer Verfassung, der Thora. Daher ist hier auch nicht von der Herrschaft des Volkes die Rede, sondern vom Primat der Gerechtigkeit und des Guten. Ein bedingter Aspekt dieses Primats stellt die Entscheidung der Mehrheit dar. Neben lebendiger Gleichheit und Entschei-dung der Mehrheit bildet die Freiheit ein weiteres fundamentales Prinzip der jüdischen Lehre. Diese findet mit der Erzählung über den Auszug aus Ägypten, also bereits vor der Offenbarung am Sinai, ihren kraftvollen und gültigen Ausdruck. Dem Volk wird bedeutet: "Mir sind die Kinder Israels Diener", Mir – dem Gebot der höchsten Ethik, nicht einem anderen auf Erden. Dem Auszug verdanken wir aber auch ein weiteres, heute so demokratisches Prinzip, nämlich das Recht, zivilen Ungehorsam zu leisten, wenn das Gebot des Herrschenden mit den unumstößlichen Werten der Ethik und der Menschenrechte unvereinbar ist. Von Abraham bis Moses sind die Darstellungen der Bibel von diesem Gedanken durchwirkt. Im aktuellen Bezug: Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die Nazi-Verbrecher in Nürnberg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt, und zwar nicht wegen Ungehorsam gegenüber den Gesetzen, sondern gerade, weil sie die Gesetze befolgt hatten, weil sie Befehle ausgeführt hatten. Die Urteile von Nürnberg sind nicht nur der Ausdruck von Gerechtigkeit, sondern auch das Ergebnis einer Auseinandersetzung zwischen zwei grundsätzlich voneinander verschiedenen Auffassungen zu Politik und Ethik. Während die eine das bedingungslose Befolgen von Staatsgesetzen verlangt, wie zum Beispiel in Griechenland zur Zeit von Aristoteles, in China zur Zeit von Konfuzius oder eben in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus, verlangt die andere Auffassung, nämlich das Gebot der Thora, ungerechtes Recht zu bekämpfen. Die Regel Dina demalchuta dina – das Gesetz des Staates ist bindend – ist nur insofern gültig, als sie mit den Grundwerten übereinstimmt. Mit großer Berechtigung lässt sich also sagen, dass viele der wertvollsten und edelsten Prinzipien der modernen Demokratie von der Thora propagiert werden: die Freiheit des Menschen, die Gerechtigkeit, die Gleichheit, die Mehrheits-beschlüsse, eine Verfassung, die den Einzelnen wie die Minderheiten schützt, ein soziales Netz sowie das fundamentale Recht des zivilen Ungehorsams. Bei aller Parallelität zur Demokratie legt sich die Thora allerdings bezüglich konkreter Regierungsformen bzw. gesellschaftlicher Strukturen nicht a priori fest. Diesbezüglich ist die Thora flexibel und pragmatisch, an die Bedingungen der Region, der Zeit und der Menschen angepasst. Unveränderlich aber bleiben die Inhalte und die Prinzipien der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Gleichzeitig kennt das Judentum keine alleinherrschende, dogmatische Theokratie. Von seinem Geist her ist dergleichen auch gar nicht möglich. Zwar ist man verpflichtet, eine halachisch-rechtliche Instanz im Dienste der Gesellschaft zu schaffen. Doch die Thora wurde, wie unsere Weisen betonten, im herrenlosen Gebiet einer öden Wüste offenbart, um zu symbolisieren, dass niemand ihren Besitz beanspruchen könne und sie jedem gleichermaßen zugänglich sei. Jede gesell-schaftliche Struktur, die effizient und gerecht im Sinne der Thora ist, wird angenommen. Die Thora legt sich da, absichtlich, nicht fest. So berichtet uns beispielsweise die Bibel, dass das erste rechtliche System Israels auf einen Fremden, Jitro aus Midian, zurückzuführen ist. Diesbezüglich sei angemerkt, dass Rab. Jizchak Abarbanel, Exeget des 15. Jahrhunderts, – der unter anderem als Minister in den Diensten Alfonsos in Portugal, Fernandos und Isabellas in Spanien sowie der venezianischen Regierung stand – den Rat Jitros, der auf vier Instanzen aufbaut, sehr lobt und ihn mit dem besten politischen System, das er in seiner Zeit kennengelernt hatte, vergleicht – mit dem der Republik Venedig. Selbst die Einführung der Königsherrschaft in Israel ging vom Volk aus und wurde erst später vom Propheten Samuel sanktioniert – und auch dann nur als konstitutionelle Monarchie mit beschränkten Machtbefugnissen. Zur Zeit der Tempel finden wir eine Mehrzahl von gleichzeitig wirkenden Einfluss-Zentren. Gemäß der Forderung der Thora: "Richter und Ordnungshüter sollst du ernennen in allen deinen Toren" wurden lokale Gerichte vom Volk gewählt (Demokratie), hierauf das Sanhedrin – die ältesten Weisen – in Jerusalem (Theokratie), der Stand der Kohanim – der Priester – (Aristokratie) und das Königshaus (Monarchie). Gemäß dieser Vielzahl an Machtzentren beschränkte und kontrollierte eine Instanz die andere. Alle aber unterstanden sie der gemeinsamen Verfassung der Thora. (Diesem System ist Ciceros Empfehlung eines gemäßigten römischen Regimes einander ausgleichender Machtzentren sehr ähnlich.) Den größten Einfluss in Israel besaßen jedoch jene Männer, die kein formelles Amt bekleideten. Ihre Stärke war ihr Geist, nicht ihr Stand – die Propheten und die Thora-Lehrer. Wer soll Vorsteher der Gemeinde sein? Nun noch einige Worte zur normativen, halachisch-jüdischen Gemeinde. Die halachisch-talmudische Tradition erklärt uns die Gesetzgebung der Thora gemäß der Überlieferung und den 13 anerkannten Auslegungsregeln. Neben dem Rabbiner und dem Bet-Din – dem Gericht – finden wir als weitere Autorität der Gemeinde (Talmud, Traktat Baba Batra) "Bnei ha’Ir" – die Bürger der Stadt, die Verordnungen zugunsten der Gemeinde verfügen sowie Steuern und Geldbußen auferlegen dürfen. Diese können auch durch gewählte Delegierte vertreten werden. Schon von alters her, bereits zur Zeit der Mischna werden – wie auch Josephus Flavius berichtet – mindestens sieben besonders tugendhafte Männer in den Vorstand gewählt. Die frühen Poskim vergleichen deren hohen Stand und Befugnisgewalt mit jenem der Richter, die berechtigt sind auch Vermögen zu konfiszieren. Wie aus Schriften des Rabb. Chananja Gaon aus dem 10. Jahrhundert zu entnehmen ist, stützt er sich diesbezüglich auf den biblischen Vers: "Jeder, der nicht binnen drei Tagen komme, wie es die Vorsteher und Ältesten beschlossen hätten, dessen ganzer Besitz solle der Vernichtung anheimfallen und er selbst solle aus der Gemeinde der Heimkehrer ausgeschlossen werden." (Esra 10:8) Auf der Gleichstellung mit den Dajanim basiert auch die halachische Vorschrift, dass die Vorsteher und Delegierten der Gemeinde ehrenhafte, g-ttesfürchtige und Mizwot einhaltende Männer sein müssen. Und nur dann erlangen ihre Entschei-dungen verpflichtende Gültigkeit. Jede Entscheidung in Gemeinde-Angelegen-heiten muss auf der Zustimmung der Mehrheit der Entscheidungsträger basieren. Das finden wir bereits in den Verordnungen des Rabb. Gerschom, der Leuchte der Diaspora im 10. Jahrhundert, sowie in der Halacha im Schulchan Aruch und bei Ramo verankert (Choschen Mischpat §163). Raschba stellt, bezugnehmend auf Maimonides, ebenso wie Rabbenu Nissim in seinem Kommentar zum Traktat Nedarim fest, dass jedes Gemeinde-Mitglied Anteil am Vermögen der Gemeinde wie auch an deren Verbindlichkeiten hat. Trotz dieser partnerschaft-lichen Anteilnahme des Einzelnen an der Gemeinschaft steht der gewählte Vorstand gemäß der Besonderheit seiner Funktion dennoch über dem Individuum. Der Lubavitscher Rebbe erklärt, dass der Zibbur – die Allgemeinheit – nicht bloß die Summe aller Individuen ist, sondern eine hinsichtlich ihrer Qualität neue, spezifische Körperschaft darstellt. Dadurch erlangen ihre gewählten Vertreter einen besonderen Status. Daraus ergibt sich das Recht, Entscheidungen durch den gewählten Vorstand auch entgegen der Neigungen einzelner Mitglieder zu treffen. Weiters müssen aber alle Beschlüsse des Vorstandes vom Rabbiner abgesegnet werden, wie aus den Worten von Rava und Rav Papa im Talmud zu entnehmen ist und später bei Rabbenu Ascher und Tur als halachisches Urteil verankert wird. Ebenso müssen die Entscheidungen des Vorstandes mit den allgemeinen Prinzipien der Gerechtigkeit und Ehrlichkeit übereinstimmen, wie Maharam von Rotenburg im 13. Jahrhundert feststellt: "Der Kahal (Vorstand) ist befugt zu verordnen, aber nicht zu verderben." Ein weiterer zentraler Grundsatz, den die Weisen der Halacha wie ihren Augapfel gehütet haben, ist die Bewahrung der Rechte der Minderheiten sowie des Einzelnen. Daher lassen sich diese Rechte auch nicht willkürlich durch Mehrheitsbeschlüsse beschneiden, wie es in den Responsen des Rabb. Jizchak aus Wien, in seinem Werk Or Sarua erklärt wird. Dieser Geist herrscht auch in der späteren Responsen-Literatur vor. Zusammenfassend betrachtet, basiert die an der Thora orientierte Regierungsform auf gerechten, unbedingt gültigen Grundwerten. Eine Mehrzahl an Entscheidungszentren sichert deren wechselseitige Kontrolle und gewährleistet ein Gleichgewicht der Kräfte. Davon abgesehen besteht keinerlei Bevorzugung der Thora für irgendein bestimmtes politisches System. Rein formal rechtfertigt lediglich die Funktionalität das Bestehen einer Regierungs-form. Inhaltlich aber muss diese die Thora und ihre höchsten Prinzipien in der Gesellschaft bewahren. Denn die sichere Garantie für eine intakte Gesellschaft ist die Erziehung des Menschen gemäß den ethischen Gesetzen G-ttes. In diesem Sinne ist es ausgesprochen beein-druckend, in welch hohem Grad die Demokratie in ihrer modernen Ausprägung und die halachischen Erläuterungen der Thora-Lehre enge Parallelitäten aufweisen. Jacob Biderman ist Rabbiner von Chabad-Lubawitsch in Wien.