Die Thora ist das Herzstück des jüdischen Lebens, Denkens      und Glaubens. Gleichzeitig leben wir Juden in modernen Demokratien, denen      wir oft Wohlstand und Sicherheit verdanken. Der Geist der Thora und die      Verbundenheit mit der Demokratie gehören zu den Eckpfeilern des heutigen      jüdischen Lebens. Demgegenüber findet sich immer wieder die Behauptung, dass      Thora und Demokratie Gegensätze seien. Demokratie, so glaubt man      vereinfachen zu dürfen, sei das Recht des Menschen, sich seine Gesetze und      Regeln selbst zu geben, über sich selbst zu bestimmen. Thora aber sei die      Herrschaft eines g-ttlichen Gesetzes über den Menschen, die Bestimmung des      Menschen durch etwas Anderes, zwar Höheres, aber ihm Fremdes. Diese      Behauptung entspricht nicht der Wahrheit, und hält einer historischen      Prüfung nicht stand. Meint man mit Demokratie die antike Volksherrschaft      griechischer Stadtstaaten, sind Demokratie und Thora tatsächlich Gegensätze.      Die antike Demokratie wies noch unausgereifte Strukturen auf, die      Machtkontrollen funktionierten nur bedingt. De-magogen hatten oft genug      leichtes Spiel, und die Herrschaft des Volkes drohte jederzeit in die      Tyrannei des Pöbels umzukippen. Einer solchen Frühform der Demokratie stand      die Thora in ihrer vorgegebenen Verfassung und ethischen Fundierung      gegenüber. Wenn man heute von Demokratie redet, meint man nicht ihre      antike Urform. Die moderne Demokratie weist unzählige Strukturen auf. Ihre      Verfassung, die Gesetze und Institutionen beschränken die Beliebigkeit des      Handelns. Der moderne Mensch findet sich auch und gerade in seiner      demokratischen Verankerung politisch und persönlich beschränkt und geleitet.      Zum antiken Gedanken der reinen Volksherrschaft kommt hier vor allem die      Festschreibung menschlicher Grundwerte hinzu. Wenn hingegen die Thora als eine Grundverfassung      verstanden wird, die in ihren klaren Vorgaben demokratische Freiheiten      negieren soll, ist auch hier eine Korrektur angebracht. Denn auch in der      Lehre der Thora und der jüdischen Tradition sind demokratische Strukturen      nicht nur vorgesehen, sondern sogar gefordert. Die Thora ist unsere      Grundverfassung, die als solche nicht veränderbar ist, aber in Einklang      damit eine Vielzahl an Wahlverfahren, z.B. des Vorstandes oder des Rabbinats      einer Gemeinde, wie auch die Meinungsbildung innerhalb dieser Strukturen      durch Mehrheiten vorgesehen ist. Wenn sich also aus dem geschichtlichen      Verlauf der säkularen Demokratie die Charta menschlicher Grundrechte immer      deutlicher herausgebildet hat, haben sich umgekehrt aus der ethischen      Grundverfassung der Thora die hier schon prinzipiell verankerten      demokratischen Werte entfaltet. Um diesem Gedanken klarer zu folgen, erscheint ein      historischer Rückblick der säkularen Demokratie angebracht. Weiters soll ein      tieferer Einblick in die jüdische Vorstellung gesellschaftlicher Strukturen      gewonnen werden, wie sie in der Bibel, den talmudischen Schriften und der      halachischen Literatur zum Ausdruck kommt. Die starken Ähnlichkeiten und      Analogien zwischen Thora und moderner Demokratie erweisen sich hierbei als      besonders faszinierend. Historische Wurzeln Den Anfang machen historische Wendepunkte der      demokratischen Entwicklung. Hier lässt sich sehr schön erkennen, wie sich      aus der Fragilität und Schwäche einer aufkeimenden Volksbewegung mit      Rückschlägen, aber unbeirrt, gleichsam Schritt für Schritt, die Stärke der      modernen Demokratie entwickelte. 1789. Die Revolution fegt wie ein Wirbelsturm über      Frankreich. Die Monarchie wird gestürzt, in Paris herrschen Schrecken und      Terror, im Parlament zittern die Abgeordneten, die Guillotine kommt nicht      mehr zur Ruhe. Die Jakobiner errichten ihre Diktatur des Volkes und jener      herausragende "Moralist" und "Menschenfreund" jener Zeit, Maximilien de      Robespierre, macht kurzen Prozess mit Freund und Feind, bis er selbst dem      unersättlichen Blutrausch zum Opfer fällt. 1789. Der Beginn der modernen, europäischen Demokratie,      die sich noch auf sehr dünnem Eis bewegt. Der fragile Beginn der      neuzeitlichen Volksherrschaft von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.      Kaum ein anderes Datum unserer jüngeren Geschichte zeigt auf so deutliche      und dramatische Weise, wie schmal der Pfad ist zwischen echter      demokratischer Freiheit und brutaler Gewalt der Masse. Handelt es sich hier      um Geburtswehen, um Anfangsschwierigkeiten im Realisieren einer hohen und      reinen Idee? Zweifellos. Doch wie steht es um die Demokratie heute, über 200      Jahre später? Die Demokratie, also die "Herrschaft des Volkes" hat      einige ihrer tief verzweigten Wurzeln in den antiken Stadtstaaten      Griechenlands, allen voran im Athen eines Sokrates und Platon. Sie      unterscheidet sich als Herrschaftsform wesentlich von der Monarchie, der      Herrschaft des Einen (und deren Zerrform, der Tyrannis) sowie von der      Oligarchie, der Herrschaft der wenigen (wie z.B. der Aristokratie und der      Timokratie, der Herrschaft des Adels und des Geldes). Die Demokratie Athens beruht auf der Gleichheit der      Bürger, auf der Entscheidungsbildung durch die Mehrheit der Bürger, auf der      Redefreiheit und dem freien Zugang zu öffentlichen Ämtern und Funktionen,      auf regelmäßigen Wahlversammlungen, also auf Gleichheit, Freiheit und      Gerechtigkeit. So scheint es zumindest auf den ersten Blick. Ein zweiter relativiert die Sache. Ist die Demokratie      hier die Herrschaft des Volkes? Nein, sondern die aller Bürger. Doch wer ist      ein Bürger? Eine Frau, ein Sklave, ein Fremder? Nein, nein und nochmals      nein. Nur ein kleiner Teil der Gesellschaft darf Anteil am öffentlichen      Leben nehmen. Nach heutigen Maßstäben ist die antike Demokratie wenig mehr      als eine Oligarchie und oft genug eine leichte Beute für Volksverhetzung,      Korruption und Missachtung der unumstößlichen, historisch unveränderbaren      Menschenrechte. Diese sind nicht immer identisch mit Bürgerrechten. Auch      hier sehen wir die gefährliche Schattenseite der Demokratie, der      Volksherrschaft (demos=Volk, kratein=herrschen), nämlich die Ochlokratie,      die Herrschaft des Pöbels, die allen voran Sokrates selbst, dem Verteidiger      der Demokratie und dem moralischen Fragesteller, das Leben kostet. Der Mensch als Wolf? Homo homini lupus est, der Mensch ist dem Menschen ein      Wolf, sagte Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert – der Mensch strebt nach Macht      und Besitz. Er will, was er nur kriegen kann. Und ist er der Stärkere, so      nimmt er dem Schwächeren: Hab, Gut und auch Leben. Leicht aber dreht sich      das Rad. Der Sieger von heute kann der Besiegte von morgen sein. Die reine      Gewaltherrschaft ist für jeden gefährlich. Der Mensch will aber zunächst und vor allem eines:      überleben. Dazu bedarf er einer Sicherheit. Der Kampf aller gegen alle kann      laut Hobbes nur durch die Unterwerfung aller unter die Macht eines Souveräns      beendet werden. Machtstreben und Konkurrenzverhalten können nur dort      aufhören, wo eine noch wesentlich größere Macht dem Einzelnen entgegensteht      und damit Sicherheit und Frieden gewährt. Auch unsere Weisen in der Mischna      haben sich bezüglich der damaligen paganischen Gesellschaft ähnlich      geäußert: "Ohne Furcht vor der Herrschaft hätten sie einander lebendig      verschlungen." Eine etwas positivere Meinung vom Menschen hat hingegen      Hobbes´ Zeitgenosse, der englische Empirist John Locke. Auch er geht in      seinen politischen Überlegungen von einem Naturzustand aus, der aber –      anders als Hobbes’ Krieg aller gegen alle – ein Zustand der ursprünglichen      Freiheit und Gleichheit ist. Erst durch den Krieg, d.h. den Versuch      Einzelner, andere zu unterwerfen, gerät das natürliche Gleichgewicht ins      Wanken. Um die daraus resultierende Unsicherheit zu beseitigen, schließen      sich die freien und gleichen Menschen durch einen Vertrag zu einer      bürgerlichen Gesellschaft zusammen, in der die Legislative vom Volk dazu      ermächtigt wird, zum öffentlichen Wohle Gesetze zu beschließen. Im Sinne      eines Gleichgewichts der Mächte erachtet Locke die Trennung von      legislativer, exekutiver und föderativer Gewalt (für Krieg, Frieden und      Außenpolitik verantwortlich) für notwendig. Die Regierung solle, auch wenn      sie von der Mehrheit gewählt sei, nur regulativ in den Gesellschafts-prozess      eingreifen, d.h. so wenig wie möglich ihre Herrschaft ausüben. Angesichts      der natürlichen Freiheit und Gleichheit der Menschen verteidigt Locke das      für unser heutiges Demokratieverständnis so wichtige Recht des Widerstands,      das den Bürger zum Ungehorsam gegenüber dem Staat berechtigt, wenn von      diesem natürliche Menschenrechte verletzt werden. Die schon bei Locke angedeutete Gewaltentrennung bildet      ein zentrales Thema in den staatstheoretischen Ausführungen Montesquieus.      Der adelige Aufklärer hasst jede Form von Despotie und besonders den      Absolutismus Ludwigs XIV. Demgegenüber glaubt Montesquieu an den Wert einer      verfassungsmäßigen Ordnung, die die drei Gewalten Judikative, Legislative      und Exekutive zwar prinzipiell trennt, aber doch so miteinander verzahnt,      dass sie sich gegenseitig kontrollieren und ausgleichen. Es ist dies ein      Gedanke, der für die Revolution und Unabhängigkeit der USA ebenso zentral      ist wie für die Herausbildung der modernen liberalen Demokratie. Womit wir wieder bei Frankreich sind. Die Revolution erklärt den bereits      1778 verstorbenen Philosophen Jean-Jaques Rousseau post mortem zum      revolutionär-demokratischen Vordenker. Laut Rousseau ist der Mensch in      seinem natürlichen Zustand rein und unverdorben, während erst die      fortschreitende Zivilisation und die wachsende soziale Differenzierung zu      Ungleichheit, Ausbeutung und gegenseitiger Feindschaft der Bürger führen.      Diesen Gedanken konkretisiert Rousseau im "Contrat social". Demnach      verzichteten die Naturmenschen in einem ursprünglichen Akt der      Vergesellschaftung auf ihre natürlichen Freiheiten und schlossen sich      freiwillig zu einer Assoziation zugunsten des Gemeinwillens (des "volonté      général") zusammen. Diesen versteht Rousseau auf analytische Weise als      gemeinsamen Willen bzw. als den verbleibenden Rest, wenn nämlich einander      entgegengesetzte subjektive Willensäußerungen sich gegenseitig aufheben. Im     volonté général erwerben die Menschen jene "wahre Freiheit, die in      der Bindung aller an das Gesetz besteht", das sie sich selbst gegeben haben      und vor dem sie alle jene höhere Form der Gleichheit gewannen, zu deren      Gunsten sie auf die natürliche Gleichheit verzichteten. Die natürliche      Freiheit wird also freiwillig zugunsten einer im gemeinsamen Gesetz      realisierten Freiheit aufgegeben. Rousseau ist weit davon entfernt, Freiheit      und Gesetz als Gegensätze zu sehen, sondern erkennt gerade im egalitären und      auf Volkssouveränität ausgerichteten Gesetz die aus dem Naturzustand      entwickelte, höhere Form der Freiheit. Dabei unterscheidet er strikt      zwischen dem Gemeinwillen, dem volonté général, und dem Willen aller,      dem volonté de tous. Letzterer ist die Summe aller persönlichen,      individuellen, auch rein egoistischen Willensakte. Doch die Gesamtheit ist      mehr als nur die Summe ihrer Teile, die Gemein-schaft der Menschen ist mehr      als die Summe aller Individuen. Sofern sich die menschliche Gesell-schaft      gemäß den Gesetzen der unverbrüchlichen Menschenrechte organisiert, vermag      sich der Einzelne ebenso harmonisch in die Gemeinschaft einzugliedern wie      sich ein Körperteil im Organismus einfügt. Rousseau war sich sehr wohl bewusst, dass der      (französische) Souverän diesen volonté général keineswegs      repräsentiere und dass die moderne Gesellschaft keineswegs dem Ideal des      freien Gesetzes entspreche. Seine Antwort auf die korrupte Realität war die      Verinnerlichung des Gemeinwillens als Gewissen. In einem Leben gemäß den      Geboten des Gewissens sah Rousseau den Versuch des Individuums, zum      "natürlichen", autarken Menschen zurückzukehren. Rückblickend geben die Wirren und Schrecken der      Französischen Revolution Rousseau in seiner Zurückgezogenheit auch ein wenig      recht. Im Nachhinein sah man die demokratische Sache naturgemäß anders, und      so mancher glühende Revoluzzer wandelte sich zum gehorsamen Bürger einer      staatlichen Obrigkeit. So lässt sich auch Hegels gewaltiges philosophisches      System als Produkt dieser Zeit verstehen. Demnach ist es die      allgegenwärtige, alles durchwirkende Vernunft, die sich in jeder      Wirklichkeit konkretisiert und im Staat ihre höchst strukturierte Entfaltung      erfährt. Vielleicht lässt sich Hegels System gar nicht eindeutig und klar      interpretieren. Doch seine Verteidigung des preußisch-autoritären Staates      und das Identifizieren des Vernünftigen mit dem Wirklichen sind ihrer      Tendenz nach reaktionär. Was zählt schon der Einzelne, wenn sich nur die      Vernunft in ihrer großen, langsam-bedächtigen Weise ihre notwendige Bahn      bricht? Bedauerlich mag vielleicht das eine oder andere Schicksal sein, doch      "wo gehobelt wird, fallen Späne". Hegels Schüler, politisch "links" und      "rechts", verteidigten als zwei Ausprägungen eines organischen      Staatsgedankens Nationalismus und Kommunismus. Der erste führte zum ersten      Weltkrieg und der unvergleichlichen Schreckens-herrschaft des      Nationalsozialismus. Und auch Lenins "Diktatur des Proletariats", besonders      aber Stalins Terrorregime kostete vielen Millionen Menschen das Leben. Niederlagen und Herausforderungen Bei allen Rückschlägen und Gefahren erscheint uns die      Geschichte der Demokratie rückblickend als ein Erfolgsmodell, das in der      ständigen Herausforderung und Bekämpfung aus wiederholten Niederlagen      gestärkt hervorgegangen ist. Können wir überhaupt aus der Geschichte lernen? Der      Philosoph Karl Popper würde wohl sagen: ja und nein. Wir können zwar nicht      sagen, was wahr und richtig ist. Aber wir können sagen, was unwahr und      falsch ist. Ein wenig erinnert das an David Hume, der meinte, dass unsere      Erfahrung keine Allgemeinschlüsse zulasse. Denn auch die Erkenntnis, dass      etwas einhundert Mal geschehen ist, bedeutet nicht, dass es auch das      einhundert und erste Mal geschehen wird. Dass sich die Zukunft ebenso      verhalten werde wie die Vergangenheit, sei vielleicht eine plausible      Vermutung, aber wissenschaftlich- rational nicht zu rechtfertigen. Auch      Popper verzichtet auf Gesetzmäßigkeiten. Er bestreitet die Existenz von      Universalgesetzen und vertritt demgegenüber die Theorie, dass alle Beweise      in der Wissenschaft, beispielsweise in der Soziologie, nur auf dem Weg der      Falsifikation, also per negationem, erreicht werden können. Die Geschichte      zeigt uns nicht, wie etwas geschehen soll, sondern, wie etwas nicht      geschehen soll. (Popper war wohl kein Machiavellist ...) Die Wissenschaft      schreitet nicht von einer Wahrheit, einer Verifikation, zur nächsten,      sondern von einer Widerlegung, zur nächsten. Zwar nehmen wir vorläufig an,      dass etwas wahr ist. Doch nur solange, bis sich seine Falschheit erwiesen      hat. Die Erfahrung ist die große Lehrmeisterin, denn sie gibt uns ein Wissen      davon, was wir alles nicht wissen. Das klingt nach wenig, ist aber viel.      Denn auch Sokrates galt nur deshalb als der Weiseste unter den Menschen,      weil alle anderen "wussten", er aber wusste, dass er nichts wusste. Und auch      Popper kritisiert die "Wissenden", die Systematiker und Dogmatiker, die sich      – wie Platon, Marx oder Hegel – eine megalomanische Gesellschaftsplanung      anmaßten und damit zu Feinden der offenen Gesellschaft wurden. Eine lebendige Demokratie Bekannt ist Churchills Ausspruch, die Demokratie sei eine      denkbar schlechte Regierungsform, doch kenne er keine bessere. Dazu gehört      aber auch die Existenz von nicht-staatlichen Instanzen, die – auch bei      formal gültiger Verfassung und Gewaltentrennung – gegen Gesetzesentwürfe,      die aus fundamentalen moralischen Überlegungen heraus offensichtlich nicht      rechtens sind, opponieren und zu deren Korrektur drängen. Denn nicht nur      formal müssen die Gesetze demokratisch sein, auch hinsichtlich Inhalt und      Folgen muss dem Geist und dem Charakter der Demokratie entsprochen werden.      Darin besteht der Unterschied zwischen einer abstrakten, formalen und einer      konkreten, lebendigen Demokratie. Die Garantie ihres Bestehens liegt nicht      nur innerhalb ihrer, sofern damit bloß ihre Institutionen gemeint sind. Sie      liegt auch und vor allem außerhalb der offiziellen demokratischen      Strukturen. Der wesentliche Unterschied zwischen einer modern-totalitären      und einer neodemokratischen Staats-auffassung manifestiert sich in der      Toleranz gegenüber außerparlamentarischen Organisationen, die parallel zu      den offiziellen Institutionen wirken, diese kritisieren und von "außen"      kontrollieren. Besonders wichtig ist diese externe Mäßigung in kleineren      Gemeinden und Gesellschaften, bei denen oft eine bestimmte Gruppe den Ton      angibt und die Neigung zur Oligarchie besteht. In einer jeden demokratischen      Gesellschaft muss es, unter gewissen Umständen, möglich sein, zivilen      Ungehorsam zu leisten (wobei auch andererseits der Einzelne negative      Konsequenzen seines Handelns wie z.B. Pönalen in Kauf nehmen muss). Der      Widerstand gegen Unrecht, die Meinungs- und Redefreiheit und das Befolgen      moralischer Gebote gehören zu den menschlichen Grundrechten schlechthin und      sind nicht mit anarchischen Vorstellungen zu verwechseln. Männer wie Mahatma      Gandhi und Martin Luther King jr. gelten gerade wegen ihres zivilen      Ungehorsams zu den demokratischen Vorbildern unserer Gegenwart. So paradox      es erscheinen mag: gerade von einem solchen "äußeren" Widerstand gegen      herrschende demokratische Strukturen, von einem solchen ständigen      Hinterfragen und Bezweifeln hängt das Fundament und die Stärke der      Demokratie ab. Das ist das Antlitz einer intakten, ständig geprüften und      gelebten Demokratie unserer Tage. Doch sollen wir nicht vergessen, dass auch diese Art der      Demokratie nur das kleinste Übel ist. Oft genug kommen auch hier Rechte und      Freiheiten von Einzelnen und Minderheiten nicht optimal zum Tragen. Und oft      genug vertreten Delegierte, die alle vier Jahre gewählt werden, nicht      notwendigerweise bei jeder Entscheidung die Mehrheit der Bevölkerung. Diese      und ähnliche Probleme sind keine Rätsel, die sich lösen lassen, sondern      Aufgaben und Herausforderungen, denen sich jeder Einzelne von uns immer      wieder stellen muss. Die jüdische Perspektive Nach diesem geschichtlichen Überblick der säkularen      Demokratie konzentriert sich die Betrachtung im folgenden Abschnitt auf die      jüdische Perspektive gesellschaftlicher Werte und zeigt dabei Parallelen      zwischen Thora-Lehre und demo-kratischem Gedankengut auf. Die Thora behandelt die Problematik einer idealen      Gesellschaft nicht, wie üblich, aus politologischer, sondern aus      pädagogischer Sicht, nicht nach Nützlichkeitskriterien, sondern nach      moralischen Maßstäben. Um das angemessen zu verstehen, erscheint ein      Einblick in die jüdische Geschichte angebracht. Hunderte Jahre bevor die erste bekannte Demokratie in      Athen entstand, nahm das jüdische Volk in einer öden Wüste am Fuße eines      kleinen Berges eine geschriebene Verfassung entgegen: die Thora. Gemeinsam      mit einer erklärenden mündlichen Überlieferung bildete diese Verfassung      nicht nur den Bund zwischen dem Juden und seinem G-tt, sondern auch den Bund      zwischen Mensch und Mensch sowie zwischen Gesellschaft und Individuum. Das Herzstück dieser Verfassung und der späteren      Predigten der Propheten, die ihre Einhaltung gemahnten, lautet: "Liebe      deinen Nächsten wie dich selbst", "Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollt ihr      erstreben", "Zeigt Rücksicht und seid wohltätig", "Übe das Gute und      Aufrichtige", "Gnade und Barmherzigkeit lasst euren Brüdern widerfahren",      "Liebt Wahrheit und Friede" usw. Hier wird nicht Nützlichkeit und Effizienz      in den Mittelpunkt gestellt, sondern gelehrt, was jenseits alles irdischen      Nutzens richtig und verpflichtend ist durch das Gebot des Höchsten. Die Gleichheit vor dem Gesetz bildet den Grundstein: "Ein Gesetz soll euch sein, dem Fremden wie auch dem Bürger". Was andererseits      Rechte und Pflichten betrifft, besteht durchaus eine «Regel außerhalb der      Regel», eine gesellschaftlich ausgleichende Gerechtigkeit. Bei dieser im      Gesetz verankerten Gnade handelt es sich, wenn man so will, um eine Art      korrigierende Diskriminierung, um ein soziales Netz zugunsten des Fremden,      Armen, Waisen, der Witwe und des Tempeldieners, also zugunsten all jener,      die von sich aus wirtschaftlich benachteiligt sind. Auch aus der      unterschiedlichen Aufgabenteilung innerhalb der Gesellschaft ergeben sich      unterschiedliche Rechte und Pflichten. Dieser Unterschied ist nicht der      Ausdruck einer Ungerechtigkeit, sondern die Frucht einer persönlichen und      lebendigen Gleichheit. Hier spielen beispielsweise der wirtschaftliche      Stand, die physische Kraft oder die Rolle der Frau bei der Kindererziehung      eine entscheidende Bedeutung. Zur gleichen Zeit, als die ägyptischen und assyrischen      Könige unumschränkte Herrscher ihrer Völker waren und sich als Gottheiten      verehren ließen, vernahm die Erde erstmals den Biblischen Spruch: "Nach der      Mehrheit soll der Ausschlag erfolgen." Der Rechtstradition nach (Rabb.      Jizchak Alfasi) gilt das nicht nur für die Rechtssprechung innerhalb der      Richterschaft, sondern auch für die Gesellschaft im Allgemeinen. Damals      "hörte die Erde und bebte", wie es in den Psalmen heißt. Nicht der Despot,      sondern die Mehrheit entscheidet – allerdings auf der Basis einer      Verfassung, der Thora. Daher ist hier auch nicht von der Herrschaft des      Volkes die Rede, sondern vom Primat der Gerechtigkeit und des Guten. Ein      bedingter Aspekt dieses Primats stellt die Entscheidung der Mehrheit dar. Neben lebendiger Gleichheit und Entschei-dung der      Mehrheit bildet die Freiheit ein weiteres fundamentales Prinzip der      jüdischen Lehre. Diese findet mit der Erzählung über den Auszug aus Ägypten,      also bereits vor der Offenbarung am Sinai, ihren kraftvollen und gültigen      Ausdruck. Dem Volk wird bedeutet: "Mir sind die Kinder Israels Diener", Mir      – dem Gebot der höchsten Ethik, nicht einem anderen auf Erden. Dem Auszug verdanken wir aber auch ein weiteres, heute so      demokratisches Prinzip, nämlich das Recht, zivilen Ungehorsam zu leisten,      wenn das Gebot des Herrschenden mit den unumstößlichen Werten der Ethik und      der Menschenrechte unvereinbar ist. Von Abraham bis Moses sind die      Darstellungen der Bibel von diesem Gedanken durchwirkt. Im aktuellen Bezug: Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die Nazi-Verbrecher      in Nürnberg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt,      und zwar nicht wegen Ungehorsam gegenüber den Gesetzen, sondern gerade, weil      sie die Gesetze befolgt hatten, weil sie Befehle ausgeführt hatten. Die      Urteile von Nürnberg sind nicht nur der Ausdruck von Gerechtigkeit, sondern      auch das Ergebnis einer Auseinandersetzung zwischen zwei grundsätzlich      voneinander verschiedenen Auffassungen zu Politik und Ethik. Während die      eine das bedingungslose Befolgen von Staatsgesetzen verlangt, wie zum      Beispiel in Griechenland zur Zeit von Aristoteles, in China zur Zeit von      Konfuzius oder eben in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus,      verlangt die andere Auffassung, nämlich das Gebot der Thora, ungerechtes      Recht zu bekämpfen. Die Regel Dina demalchuta dina – das Gesetz des      Staates ist bindend – ist nur insofern gültig, als sie mit den Grundwerten      übereinstimmt. Mit großer Berechtigung lässt sich also sagen, dass viele      der wertvollsten und edelsten Prinzipien der modernen Demokratie von der      Thora propagiert werden: die Freiheit des Menschen, die Gerechtigkeit, die      Gleichheit, die Mehrheits-beschlüsse, eine Verfassung, die den Einzelnen wie      die Minderheiten schützt, ein soziales Netz sowie das fundamentale Recht des      zivilen Ungehorsams. Bei aller Parallelität zur Demokratie legt sich die Thora      allerdings bezüglich konkreter Regierungsformen bzw. gesellschaftlicher      Strukturen nicht a priori fest. Diesbezüglich ist die Thora flexibel und      pragmatisch, an die Bedingungen der Region, der Zeit und der Menschen      angepasst. Unveränderlich aber bleiben die Inhalte und die Prinzipien der      Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Gleichzeitig kennt das Judentum keine alleinherrschende,      dogmatische Theokratie. Von seinem Geist her ist dergleichen auch gar nicht      möglich. Zwar ist man verpflichtet, eine halachisch-rechtliche Instanz im      Dienste der Gesellschaft zu schaffen. Doch die Thora wurde, wie unsere      Weisen betonten, im herrenlosen Gebiet einer öden Wüste offenbart, um zu      symbolisieren, dass niemand ihren Besitz beanspruchen könne und sie jedem      gleichermaßen zugänglich sei. Jede gesell-schaftliche Struktur, die      effizient und gerecht im Sinne der Thora ist, wird angenommen. Die Thora      legt sich da, absichtlich, nicht fest. So berichtet uns beispielsweise die      Bibel, dass das erste rechtliche System Israels auf einen Fremden, Jitro aus      Midian, zurückzuführen ist. Diesbezüglich sei angemerkt, dass Rab. Jizchak      Abarbanel, Exeget des 15. Jahrhunderts, – der unter anderem als Minister in      den Diensten Alfonsos in Portugal, Fernandos und Isabellas in Spanien sowie      der venezianischen Regierung stand – den Rat Jitros, der auf vier Instanzen      aufbaut, sehr lobt und ihn mit dem besten politischen System, das er in      seiner Zeit kennengelernt hatte, vergleicht – mit dem der Republik Venedig. Selbst die Einführung der Königsherrschaft in Israel ging      vom Volk aus und wurde erst später vom Propheten Samuel sanktioniert – und      auch dann nur als konstitutionelle Monarchie mit beschränkten      Machtbefugnissen. Zur Zeit der Tempel finden wir eine Mehrzahl von      gleichzeitig wirkenden Einfluss-Zentren. Gemäß der Forderung der Thora:      "Richter und Ordnungshüter sollst du ernennen in allen deinen Toren" wurden      lokale Gerichte vom Volk gewählt (Demokratie), hierauf das Sanhedrin – die      ältesten Weisen – in Jerusalem (Theokratie), der Stand der Kohanim – der      Priester – (Aristokratie) und das Königshaus (Monarchie). Gemäß dieser      Vielzahl an Machtzentren beschränkte und kontrollierte eine Instanz die      andere. Alle aber unterstanden sie der gemeinsamen Verfassung der Thora.      (Diesem System ist Ciceros Empfehlung eines gemäßigten römischen Regimes      einander ausgleichender Machtzentren sehr ähnlich.) Den größten Einfluss in      Israel besaßen jedoch jene Männer, die kein formelles Amt bekleideten. Ihre      Stärke war ihr Geist, nicht ihr Stand – die Propheten und die Thora-Lehrer. Wer soll Vorsteher der Gemeinde sein? Nun noch einige Worte zur normativen,      halachisch-jüdischen Gemeinde. Die halachisch-talmudische Tradition erklärt      uns die Gesetzgebung der Thora gemäß der Überlieferung und den 13      anerkannten Auslegungsregeln. Neben dem Rabbiner und dem Bet-Din – dem      Gericht – finden wir als weitere Autorität der Gemeinde (Talmud, Traktat      Baba Batra) "Bnei ha’Ir" – die Bürger der Stadt, die Verordnungen      zugunsten der Gemeinde verfügen sowie Steuern und Geldbußen auferlegen      dürfen. Diese können auch durch gewählte Delegierte vertreten werden. Schon      von alters her, bereits zur Zeit der Mischna werden – wie auch Josephus      Flavius berichtet – mindestens sieben besonders tugendhafte Männer in den      Vorstand gewählt. Die frühen Poskim vergleichen deren hohen Stand und      Befugnisgewalt mit jenem der Richter, die berechtigt sind auch Vermögen zu      konfiszieren. Wie aus Schriften des Rabb. Chananja Gaon aus dem 10.      Jahrhundert zu entnehmen ist, stützt er sich diesbezüglich auf den      biblischen Vers: "Jeder, der nicht binnen drei Tagen komme, wie es die      Vorsteher und Ältesten beschlossen hätten, dessen ganzer Besitz solle der      Vernichtung anheimfallen und er selbst solle aus der Gemeinde der Heimkehrer      ausgeschlossen werden." (Esra 10:8) Auf der Gleichstellung mit den  Dajanim basiert auch die halachische Vorschrift, dass die Vorsteher und      Delegierten der Gemeinde ehrenhafte, g-ttesfürchtige und Mizwot einhaltende      Männer sein müssen. Und nur dann erlangen ihre Entschei-dungen      verpflichtende Gültigkeit. Jede Entscheidung in Gemeinde-Angelegen-heiten muss auf      der Zustimmung der Mehrheit der Entscheidungsträger basieren. Das finden wir      bereits in den Verordnungen des Rabb. Gerschom, der Leuchte der Diaspora im      10. Jahrhundert, sowie in der Halacha im Schulchan Aruch und bei Ramo      verankert (Choschen Mischpat §163). Raschba stellt, bezugnehmend auf      Maimonides, ebenso wie Rabbenu Nissim in seinem Kommentar zum Traktat      Nedarim fest, dass jedes Gemeinde-Mitglied Anteil am Vermögen der Gemeinde      wie auch an deren Verbindlichkeiten hat. Trotz dieser partnerschaft-lichen      Anteilnahme des Einzelnen an der Gemeinschaft steht der gewählte Vorstand      gemäß der Besonderheit seiner Funktion dennoch über dem Individuum. Der Lubavitscher Rebbe erklärt, dass der Zibbur –      die Allgemeinheit – nicht bloß die Summe aller Individuen ist, sondern eine      hinsichtlich ihrer Qualität neue, spezifische Körperschaft darstellt.      Dadurch erlangen ihre gewählten Vertreter einen besonderen Status. Daraus      ergibt sich das Recht, Entscheidungen durch den gewählten Vorstand auch      entgegen der Neigungen einzelner Mitglieder zu treffen. Weiters müssen aber alle Beschlüsse des Vorstandes vom      Rabbiner abgesegnet werden, wie aus den Worten von Rava und Rav Papa im      Talmud zu entnehmen ist und später bei Rabbenu Ascher und Tur als      halachisches Urteil verankert wird. Ebenso müssen die Entscheidungen des      Vorstandes mit den allgemeinen Prinzipien der Gerechtigkeit und Ehrlichkeit      übereinstimmen, wie Maharam von Rotenburg im 13. Jahrhundert feststellt:      "Der Kahal (Vorstand) ist befugt zu verordnen, aber nicht zu      verderben." Ein weiterer zentraler Grundsatz, den die Weisen der Halacha wie      ihren Augapfel gehütet haben, ist die Bewahrung der Rechte der Minderheiten      sowie des Einzelnen. Daher lassen sich diese Rechte auch nicht willkürlich      durch Mehrheitsbeschlüsse beschneiden, wie es in den Responsen des Rabb.      Jizchak aus Wien, in seinem Werk Or Sarua erklärt wird. Dieser Geist      herrscht auch in der späteren Responsen-Literatur vor. Zusammenfassend betrachtet, basiert die an der Thora      orientierte Regierungsform auf gerechten, unbedingt gültigen Grundwerten.      Eine Mehrzahl an Entscheidungszentren sichert deren wechselseitige Kontrolle      und gewährleistet ein Gleichgewicht der Kräfte. Davon abgesehen besteht      keinerlei Bevorzugung der Thora für irgendein bestimmtes politisches System.      Rein formal rechtfertigt lediglich die Funktionalität das Bestehen einer      Regierungs-form. Inhaltlich aber muss diese die Thora und ihre höchsten      Prinzipien in der Gesellschaft bewahren. Denn die sichere Garantie für eine      intakte Gesellschaft ist die Erziehung des Menschen gemäß den ethischen      Gesetzen G-ttes. In diesem Sinne ist es ausgesprochen beein-druckend, in      welch hohem Grad die Demokratie in ihrer modernen Ausprägung und die      halachischen Erläuterungen der Thora-Lehre enge Parallelitäten aufweisen. Jacob Biderman ist Rabbiner von Chabad-Lubawitsch in      Wien.