War Marc Chagall ein jüdischer Künstler? Und wenn ja,      könnte man weiter fragen: Was bestimmt heute diese begriffliche Einordnung,      die immer noch verschwommen und unklar bleibt – ist es die Thematik aus den      weiten Bereichen des Judentums oder ist es das Werk "vom jüdischen      Künstler", wodurch diese Besonderheit sichtbar und erkennbar wird?  
																				 Bei Marc      Chagall, der in den Lexika als "russischer" (Vollmer) oder manchmal auch als      "französischer Maler" (Prut) bezeichnet wird, dürfte beides zutreffen, denn      in seinen zahlreichen Bildern widerspiegeln sich oft die jüdische      Lebenswelt, Religion und Alltag, Freude und Leid, in einer phantasiereichen      und phantastischen Vielfalt – dargestellt aus der Sicht eines ostjüdischen      Künstlers; und diese Sichtweise, der Fernblick von Berlin oder Paris nach      Witebsk und Liosno, dem einstigen Schtetl, lässt ein farbiges Panorama von      Eindrücken, Erinnerungen und Visionen entstehen. So vermittelt Chagall, als primär jüdischer Künstler,      über Grenzen und Zeiten hinweg weltweit die Botschaft von der Zuneigung und      Liebe zum Volksleben, zu "kleinen Leuten", zu Dorfbewohnern, Händlern,      Handwerkern und Rabbinern, zu Alltagsmenschen am Rande des großen      Zeitgeschehens, zu Blumen und Tieren in legendenhaften Motiven.   Das wollte auch die große Retrospektive zeigen, die vier      Monate hindurch, vom 1. Mai zum 1. August, unter dem Titel "Verehrt und      verfemt. Chagall in Deutschland" im Max Liebermann Haus, Berlin, zu sehen      war. Doch Schwerpunkt dieser Ausstellung – veranstaltet von der Stiftung      "Brandenburger Tor", der Bankgesellschaft Berlin und dem Jüdischen Museum,      Frankfurt/M. – war nicht nur die zwiespältige Beziehung Chagalls zu      Deutschland, sondern hier wurden zum erstenmal neben bekannten Gemälden,      Zeichnungen und Lithographien auch Werke gezeigt, die bisher beim deutschen      Publikum kaum bekannt sind. Zwischen ihrem Entstehen und der Vernissage aber liegen      viele Jahrzehnte – von Zeiten der Verfemung und Verfolgung durch die Nazis      bis hin zur dankbaren Verehrung des Malers nach dem Zweiten Weltkrieg. Geboren wird der Künstler am 7. Juli 1887 als ältestes      von acht Kindern in Liosno, einem Schtetl bei Witebsk in Weißrußland. Seine      Mutter, Feige Ita, ist eine einfache Frau bäuerlicher Herkunft, sein Vater,      Sachar, ist Arbeiter in einem Heringsdepot. Im Jahr 1906 beendet Chagall,      damals noch mit dem Vornamen Moses, die jüdische Elementar- und      Gemeindeschule in Witebsk und wird für etwa zwei Monate Schüler im Atelier      des Salonmalers Jehuda Pen, dessen Werke heute im Witebsker Kunstmuseum zu      sehen sind; danach lernt er in der Swansewa Schule, St. Petersburg, bei Leon      Bakst. Während eines Besuchs in Witebsk, 1909, lernt er die Tochter eines      Juweliers kennen, Bella Rosenfeld, die er später auch heiratet.
 
 
  
  
																				 Mit einem Stipendium des Duma-Abgeordneten Winawer geht      Chagall 1910 nach Paris, wo er 1911 im "Salon des Indépendants" zum      erstenmal das so berühmte Gemälde "Ich und das Dorf" (heute im Museum of      Modern Art, New York) ausstellt. In der Künstlersiedlung "La Ruche", wo auch      Amadeo Modigliani und Chaim Soutine wohnen, beginnt seine langjährige      Freundschaft mit Fernand Leger, Blaise Cendrars, Guillaume Apollinaire und Robert Delaunay. Später, wieder in Weißrußland, wird er im September      1918 zum "Volkskommissar für die Schönen Künste in der Stadt und Region      Witebsk" ernannt, gründet ein Jahr danach in Witebsk die Moderne      Kunstakademie, an der auch El Lissitzky (Elijeser Markowitsch Lissitzki) und      Kasimir Malewitsch unterrichten, und nimmt an der "Ersten staatlichen      Ausstellung Revolutionärer Kunst" in Petrograd, wie inzwischen St.      Petersburg heißt, teil. Im Jahr 1922 verläßt er dann die Sowjetunion      endgültig und reist nach Berlin, wohin ihm bald seine Frau Bella und die      1915 geborene Tochter Ida folgen. Die nächsten Jahre verbringt er abwechselnd in Berlin,      Paris, Auvergne, Céret, Savoyen. Er unternimmt Reisen nach Holland (1932),      wo er erstmals "aus nächster Nähe" Rembrandts Radierungen sieht, nach      Spanien (1934/35), und ist tief beeindruckt von El Greco; er reist 1935 auch      nach Wilna und Warschau und wird hier mit dem aufkommenden Antisemitismus,      der aus dem nationalsozialistischen Deutschen Reich herüberschwappt,      konfrontiert. Anfang der dreißiger Jahre beginnt Chagall sich mit      Inhalten der Tora zu beschäftigen, nachdem die Landschaft seiner Herkunft      und das heimatliche Schtetl nur noch in seiner Erinnerung weiterleben. Nach      einer Reise durch Palästina, Syrien und Ägypten, wo er die biblischen Orte      besucht, entstehen in Paris die ersten "Radierungen zur Bibel". Bis zur      Flucht in die USA, 1941, sind dann 66 Blätter vollendet, die er nach seiner      Rückkehr nach Frankreich, 1947-1956, nochmals sorgfältig überarbeitet. Im      Exil wird die Bibel, heißt es, zu Chagalls "eigentlicher Heimat", und ihre      Protagonisten sieht er als Urbilder menschlichen Handelns und erkennt so in      ihnen sein eigenes Leben wie auch das seines Volkes wieder. Nachdem 1937 mehrere seiner Gemälde in der berüchtigten      Schau "Entartete Kunst", München, gezeigt und jene Werke, die sich in      deutschen Museen befinden, beschlagnahmt werden, mahnt der Künstler mit      Bildern des gekreuzigten Jesus an die Leiden seines Volkes; damals entsteht      auch sein aussagekräftiges Schlüsselwerk "Die weiße Kreuzigung". Der Protest      gegen die Verbrechen deutscher Truppen im Osten Europas kulminiert      schließlich im Gemälde "Gekreuzigte Juden in Witebsk" und in der Folge der      24 Gouachen "Die Geschichte des Exodus" (1944); letztere hängen stilistisch      und ikonografisch mit dem Monumentalwerk zusammen, das Chagall 1961 für das      israelische Parlamentsgebäude entwirft, und "vermitteln die stetige Hoffnung      auf ein eigenes jüdisches Land". Bereits 1913-1933 hatten deutsche Galeristen, Kritiker,      Kunstsammler und Museumsdirektoren Chagall als "jüdischen      Avantgarde-Künstler" entdeckt, und im Auftrag Paul Cassirers war in Berlin      der Zyklus von Radierungen mit dem Titel "Mein Leben" entstanden. Doch mit      dem Zivilisationsbruch durch den Nationalsozialismus endet auch der Weg der      künstlerischen Vorhut in Deutschland, wo vorher noch die Elite der      Avantgarde und Moderne ihren kreativen Anbeginn erlebt hatte. Erst nach dem      Zweiten Weltkrieg erfreuen sich zuerst Chagalls biblische Darstellungen beim      deutschen Publikum besonderer Aufmerksamkeit, zumal dann, wenn ihre      universal-humanistische Aussage dazu genutzt werden kann, sie als Sinnbilder      der "Erlösung" und "deutsch-jüdischen Versöhnung" einzusetzen. Unter den rund 240 Arbeiten, Leihgaben aus den größten      Museen der Welt, die nun im Max Liebermann Haus gezeigt wurden, gab es      Beispiele aus allen Schaffensperioden des Künstlers; und die einzelnen      Stilrichtungen, die sein Werk prägten, waren somit leicht zu erkennen: die      Einflüsse des Expressionismus (z.B. "Der Vater", "Das Schofarblasen", beide      1911; "Der Jude im Gebet", 1912/13, die Folge der "Männerköpfe", 1922/23) –      wobei hier erwähnt werden muß, daß Chagall zeitweilig sogar als der      "Erfinder des Expressionismus" (Ludwig Rubiner) bezeichnet wurde –, dann die      kubistische Farbgebung und Gestaltung (besonders in den Grafiken "Der Gruß",      1922; "Das Haus", 1923 u.a.), der surrealistisch wirkende, symbolhafte      Aufbau in den Kompositionen mit fliegenden Gestalten (z.B. "Über Witebsk",      1915; "Braut und Bräutigam des Eifelturms", 1938, oder "Abends am Fenster",      1950) und schließlich die zarte Poesie in den märchenhaften Bildern ("Der      Wolf, die Mutter und das Kind", 1926) und in den zahlreichen Blättern zu      biblischen Geschichten.   Doch neben seiner Arbeit als Maler, Grafiker und      Illustrator entwirft Chagall auch eine Reihe von Vitralien und      Kirchenfenstern, so für die Kathedralen in Metz (1958), Mainz (1970) und      Reims (1974), für die Synagoge der Hadassah Universitätsklinik in Jerusalem      (1960), das Frauenmünster in Zürich (1969) und für das UNO-Gebäude in New      York (1964). Außerdem gestaltet er Wanddekorationen in Tokio (1965) und Tel      Aviv (1966) und drei große Gobelins für das Parlament in Jerusalem (1967);      im Jahr 1964 beendet er dann das eindrucksvolle Deckengemälde in der Pariser      Oper. Während noch die Retrospektiven in der Royal Academy of      Arts, London, und im Philadelphia Museum of Art zu sehen sind, stirbt Marc      Chagall hochbetagt und weltbekannt am 28. März 1985 in Saint-Paul-de-Vence. Eines seiner frühen Werke, "On dit – Der Rabbiner" (Öl      auf Leinwand, 1912), das 1914 in Herwarth Waldens Galerie "Der Sturm" im      Rahmen einer Einzelausstellung erstmals zu sehen war, begrüßte nun – nach      rund 90 Jahren wieder in Berlin! – die zahlreichen Besucher, gleich beim      Betreten der Schauräume. Bereits 1933 war dieses Gemälde aus der Mannheimer      Kunsthalle entfernt und von einer Horde grölender SA-Männer und Hitlerjungen      durch die Straßen der Stadt gekarrt worden – als "entartet" und als      "Beispiel von Verschwendung öffentlicher Gelder". Es hat die Nazi-Ära      überlebt, denn andere Bilder Chagalls wurden damals vom Mannheimer braunen      Pöbel öffentlich verbrannt... Es ist ein Gemälde in dunklen, magisch wirkenden Farben,      man sieht einen Rabbiner im schwarzen Kaftan, mit Schläfenlocken und      Jarmelke. Er sitzt vor einem aufgeschlagenen Buch mit hebräischen      Schriftzeichen, und im Hintergrund sind die Konturen eines Magen David zu      erkennen. Aus der Dunkelheit aber leuchtet das linke Auge des Rabbiners, es      blickt jeden, der den Raum betritt, fragend und mahnend an. Und kein      Besucher kann sich diesem Blick entziehen.