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Verfemt und verehrt: Das Auge des Rabbiners

Claus STEPHANI

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War Marc Chagall ein jüdischer Künstler? Und wenn ja, könnte man weiter fragen: Was bestimmt heute diese begriffliche Einordnung, die immer noch verschwommen und unklar bleibt – ist es die Thematik aus den weiten Bereichen des Judentums oder ist es das Werk "vom jüdischen Künstler", wodurch diese Besonderheit sichtbar und erkennbar wird?

Bei Marc Chagall, der in den Lexika als "russischer" (Vollmer) oder manchmal auch als "französischer Maler" (Prut) bezeichnet wird, dürfte beides zutreffen, denn in seinen zahlreichen Bildern widerspiegeln sich oft die jüdische Lebenswelt, Religion und Alltag, Freude und Leid, in einer phantasiereichen und phantastischen Vielfalt – dargestellt aus der Sicht eines ostjüdischen Künstlers; und diese Sichtweise, der Fernblick von Berlin oder Paris nach Witebsk und Liosno, dem einstigen Schtetl, lässt ein farbiges Panorama von Eindrücken, Erinnerungen und Visionen entstehen.

So vermittelt Chagall, als primär jüdischer Künstler, über Grenzen und Zeiten hinweg weltweit die Botschaft von der Zuneigung und Liebe zum Volksleben, zu "kleinen Leuten", zu Dorfbewohnern, Händlern, Handwerkern und Rabbinern, zu Alltagsmenschen am Rande des großen Zeitgeschehens, zu Blumen und Tieren in legendenhaften Motiven.

Marc Chagall: Das Schofarblasen, (Öl) 1911. Musée d'art moderne, Paris.

Das wollte auch die große Retrospektive zeigen, die vier Monate hindurch, vom 1. Mai zum 1. August, unter dem Titel "Verehrt und verfemt. Chagall in Deutschland" im Max Liebermann Haus, Berlin, zu sehen war. Doch Schwerpunkt dieser Ausstellung – veranstaltet von der Stiftung "Brandenburger Tor", der Bankgesellschaft Berlin und dem Jüdischen Museum, Frankfurt/M. – war nicht nur die zwiespältige Beziehung Chagalls zu Deutschland, sondern hier wurden zum erstenmal neben bekannten Gemälden, Zeichnungen und Lithographien auch Werke gezeigt, die bisher beim deutschen Publikum kaum bekannt sind.

Zwischen ihrem Entstehen und der Vernissage aber liegen viele Jahrzehnte – von Zeiten der Verfemung und Verfolgung durch die Nazis bis hin zur dankbaren Verehrung des Malers nach dem Zweiten Weltkrieg.

Geboren wird der Künstler am 7. Juli 1887 als ältestes von acht Kindern in Liosno, einem Schtetl bei Witebsk in Weißrußland. Seine Mutter, Feige Ita, ist eine einfache Frau bäuerlicher Herkunft, sein Vater, Sachar, ist Arbeiter in einem Heringsdepot. Im Jahr 1906 beendet Chagall, damals noch mit dem Vornamen Moses, die jüdische Elementar- und Gemeindeschule in Witebsk und wird für etwa zwei Monate Schüler im Atelier des Salonmalers Jehuda Pen, dessen Werke heute im Witebsker Kunstmuseum zu sehen sind; danach lernt er in der Swansewa Schule, St. Petersburg, bei Leon Bakst. Während eines Besuchs in Witebsk, 1909, lernt er die Tochter eines Juweliers kennen, Bella Rosenfeld, die er später auch heiratet.

Marc Chagall: Über Witebsk (Öl), 1915. The Museum of Modern Art, New York.

 

Mit einem Stipendium des Duma-Abgeordneten Winawer geht Chagall 1910 nach Paris, wo er 1911 im "Salon des Indépendants" zum erstenmal das so berühmte Gemälde "Ich und das Dorf" (heute im Museum of Modern Art, New York) ausstellt. In der Künstlersiedlung "La Ruche", wo auch Amadeo Modigliani und Chaim Soutine wohnen, beginnt seine langjährige Freundschaft mit Fernand Leger, Blaise Cendrars, Guillaume Apollinaire und Robert Delaunay. Später, wieder in Weißrußland, wird er im September 1918 zum "Volkskommissar für die Schönen Künste in der Stadt und Region Witebsk" ernannt, gründet ein Jahr danach in Witebsk die Moderne Kunstakademie, an der auch El Lissitzky (Elijeser Markowitsch Lissitzki) und Kasimir Malewitsch unterrichten, und nimmt an der "Ersten staatlichen Ausstellung Revolutionärer Kunst" in Petrograd, wie inzwischen St. Petersburg heißt, teil. Im Jahr 1922 verläßt er dann die Sowjetunion endgültig und reist nach Berlin, wohin ihm bald seine Frau Bella und die 1915 geborene Tochter Ida folgen.

Die nächsten Jahre verbringt er abwechselnd in Berlin, Paris, Auvergne, Céret, Savoyen. Er unternimmt Reisen nach Holland (1932), wo er erstmals "aus nächster Nähe" Rembrandts Radierungen sieht, nach Spanien (1934/35), und ist tief beeindruckt von El Greco; er reist 1935 auch nach Wilna und Warschau und wird hier mit dem aufkommenden Antisemitismus, der aus dem nationalsozialistischen Deutschen Reich herüberschwappt, konfrontiert.

Anfang der dreißiger Jahre beginnt Chagall sich mit Inhalten der Tora zu beschäftigen, nachdem die Landschaft seiner Herkunft und das heimatliche Schtetl nur noch in seiner Erinnerung weiterleben. Nach einer Reise durch Palästina, Syrien und Ägypten, wo er die biblischen Orte besucht, entstehen in Paris die ersten "Radierungen zur Bibel". Bis zur Flucht in die USA, 1941, sind dann 66 Blätter vollendet, die er nach seiner Rückkehr nach Frankreich, 1947-1956, nochmals sorgfältig überarbeitet. Im Exil wird die Bibel, heißt es, zu Chagalls "eigentlicher Heimat", und ihre Protagonisten sieht er als Urbilder menschlichen Handelns und erkennt so in ihnen sein eigenes Leben wie auch das seines Volkes wieder.

Marc Chagall: Aaron und der goldene Leuchter (Exodus, Blatt 15, Gouache), 1962-1966. Musée national d'art moderne, Paris.

 

Nachdem 1937 mehrere seiner Gemälde in der berüchtigten Schau "Entartete Kunst", München, gezeigt und jene Werke, die sich in deutschen Museen befinden, beschlagnahmt werden, mahnt der Künstler mit Bildern des gekreuzigten Jesus an die Leiden seines Volkes; damals entsteht auch sein aussagekräftiges Schlüsselwerk "Die weiße Kreuzigung". Der Protest gegen die Verbrechen deutscher Truppen im Osten Europas kulminiert schließlich im Gemälde "Gekreuzigte Juden in Witebsk" und in der Folge der 24 Gouachen "Die Geschichte des Exodus" (1944); letztere hängen stilistisch und ikonografisch mit dem Monumentalwerk zusammen, das Chagall 1961 für das israelische Parlamentsgebäude entwirft, und "vermitteln die stetige Hoffnung auf ein eigenes jüdisches Land".

Bereits 1913-1933 hatten deutsche Galeristen, Kritiker, Kunstsammler und Museumsdirektoren Chagall als "jüdischen Avantgarde-Künstler" entdeckt, und im Auftrag Paul Cassirers war in Berlin der Zyklus von Radierungen mit dem Titel "Mein Leben" entstanden. Doch mit dem Zivilisationsbruch durch den Nationalsozialismus endet auch der Weg der künstlerischen Vorhut in Deutschland, wo vorher noch die Elite der Avantgarde und Moderne ihren kreativen Anbeginn erlebt hatte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfreuen sich zuerst Chagalls biblische Darstellungen beim deutschen Publikum besonderer Aufmerksamkeit, zumal dann, wenn ihre universal-humanistische Aussage dazu genutzt werden kann, sie als Sinnbilder der "Erlösung" und "deutsch-jüdischen Versöhnung" einzusetzen.

Unter den rund 240 Arbeiten, Leihgaben aus den größten Museen der Welt, die nun im Max Liebermann Haus gezeigt wurden, gab es Beispiele aus allen Schaffensperioden des Künstlers; und die einzelnen Stilrichtungen, die sein Werk prägten, waren somit leicht zu erkennen: die Einflüsse des Expressionismus (z.B. "Der Vater", "Das Schofarblasen", beide 1911; "Der Jude im Gebet", 1912/13, die Folge der "Männerköpfe", 1922/23) – wobei hier erwähnt werden muß, daß Chagall zeitweilig sogar als der "Erfinder des Expressionismus" (Ludwig Rubiner) bezeichnet wurde –, dann die kubistische Farbgebung und Gestaltung (besonders in den Grafiken "Der Gruß", 1922; "Das Haus", 1923 u.a.), der surrealistisch wirkende, symbolhafte Aufbau in den Kompositionen mit fliegenden Gestalten (z.B. "Über Witebsk", 1915; "Braut und Bräutigam des Eifelturms", 1938, oder "Abends am Fenster", 1950) und schließlich die zarte Poesie in den märchenhaften Bildern ("Der Wolf, die Mutter und das Kind", 1926) und in den zahlreichen Blättern zu biblischen Geschichten.

Marc Chagall: Ich und das Dorf (Öl), 1911. The Museum of Modern Art, New York. Mrs. Simon Guggenheim Fund.

Doch neben seiner Arbeit als Maler, Grafiker und Illustrator entwirft Chagall auch eine Reihe von Vitralien und Kirchenfenstern, so für die Kathedralen in Metz (1958), Mainz (1970) und Reims (1974), für die Synagoge der Hadassah Universitätsklinik in Jerusalem (1960), das Frauenmünster in Zürich (1969) und für das UNO-Gebäude in New York (1964). Außerdem gestaltet er Wanddekorationen in Tokio (1965) und Tel Aviv (1966) und drei große Gobelins für das Parlament in Jerusalem (1967); im Jahr 1964 beendet er dann das eindrucksvolle Deckengemälde in der Pariser Oper.

Während noch die Retrospektiven in der Royal Academy of Arts, London, und im Philadelphia Museum of Art zu sehen sind, stirbt Marc Chagall hochbetagt und weltbekannt am 28. März 1985 in Saint-Paul-de-Vence.

Eines seiner frühen Werke, "On dit – Der Rabbiner" (Öl auf Leinwand, 1912), das 1914 in Herwarth Waldens Galerie "Der Sturm" im Rahmen einer Einzelausstellung erstmals zu sehen war, begrüßte nun – nach rund 90 Jahren wieder in Berlin! – die zahlreichen Besucher, gleich beim Betreten der Schauräume. Bereits 1933 war dieses Gemälde aus der Mannheimer Kunsthalle entfernt und von einer Horde grölender SA-Männer und Hitlerjungen durch die Straßen der Stadt gekarrt worden – als "entartet" und als "Beispiel von Verschwendung öffentlicher Gelder". Es hat die Nazi-Ära überlebt, denn andere Bilder Chagalls wurden damals vom Mannheimer braunen Pöbel öffentlich verbrannt...

Es ist ein Gemälde in dunklen, magisch wirkenden Farben, man sieht einen Rabbiner im schwarzen Kaftan, mit Schläfenlocken und Jarmelke. Er sitzt vor einem aufgeschlagenen Buch mit hebräischen Schriftzeichen, und im Hintergrund sind die Konturen eines Magen David zu erkennen. Aus der Dunkelheit aber leuchtet das linke Auge des Rabbiners, es blickt jeden, der den Raum betritt, fragend und mahnend an. Und kein Besucher kann sich diesem Blick entziehen.