
																				 Die meisten Feste der jüdischen sowie auch der      christlichen Tradition zeichnen sich dadurch aus, dass sie immer zwei      Dimensionen haben: eine historische und eine religiöse. Während zweitere      einen Glauben voraussetzt, ist erstere auch ohne diesen evident. Zu Chanukka      mag für religiöse Menschen das Wunder jenes kleinen Ölfläschchens, dessen      Inhalt völlig wider Erwarten für acht Tage Licht gereicht hat, im Zentrum      des Interesses stehen; wer diesen Glauben jedoch nicht teilt, sieht      zumindest den erfolgreichen Aufstand der Makkabäer gegen die seleukidische      Herrschaft, der um die Mitte des zweiten Jahrhunderts vor der Zeitrechnung      zur Wiedereinweihung des Tempels geführt hat. (Dieses Ereignis war im      übrigen für das jüdische Selbstverständnis so wichtig, dass die Juden      Alexandriens die Berichte davon sogar in ihre griechische Bibelübersetzung      aufgenommen haben, was zur Folge hatte, dass sie bis heute in der Heiligen      Schrift der katholischen und der orthodoxen Christen enthalten sind.) "Schart alle um euch, die das Gesetz halten. Nehmt Rache      für euer Volk! Zahlt es den fremden Völkern heim! Achtet auf das, was das      Gesetz befiehlt!" (1. Makkabäerbuch 2,67-68) – Von religiös motiviertem      Widerstand ist in diesen Texten also die Rede, von bewaffnetem Kampf aus      religiösen Motiven, ja sogar von einer Neuauslegung der      Schabbat-Vorschriften zugunsten einer Erlaubnis von defensiven Gegenschlägen      im Krieg, von einer Verschmelzung von Religion und Politik, wie das auf den      Sieg der Makkabäer folgende Jahrhundert mit seiner Personalunion von König      und Hohempriester zeigt. Solange diese Phänomene (a) einen zeitlich genügend      großen Abstand zur Gegenwart aufweisen und (b) dem eigenen jüdischen oder auch christlichen Selbstverständnis nahe liegen, werden sie      nur wenig Irritationen hervorrufen, sondern mitunter sogar mit Stolz      betrachtet. Begegnet dasselbe Phänomen jedoch (a) in der Gegenwart und (b) seitens eines fremden gesellschaftlichen und religiösen      Kontextes, so hat die aufgeklärte Welt eine sehr populäre Bezeichnung für      eine solche Verbindung oder auch Vermischung von Religion, Politik und      Gewalt: Fundamentalismus. Freilich ist dieser Begriff in sich wegen seiner      Unschärfe und vor allem der Breite seiner Verwendung höchst problematisch:      Neben der religiösen und der politischen Dimension müssten noch weitere      Ebenen wie die soziologische Schichtung und die psychologische Verengung      beachtet werden, und zweifelsohne ist nicht jeder religiös motivierte      Einsatz zur Weltgestaltung eo ipso funda-mentalistisch. – Da dieser Artikel      jedoch als ein Beitrag zu einem freudigen Fest gedacht ist, soll diese      Analyse hier abgebrochen werden und als Hinweis genügen, als Plädoyer des      Historikers für eine geistige Weite, die in vergangenen Ereignissen trotz      aller Unterschiede Strukturen zu erkennen vermag, die auch in der Gegenwart      und mit anderen Vorzeichen wirksam sind. Das Ziel der Makkabäer war, in modernen Begriffen,      gleichzeitig ein nationales und ein religiöses: Selbständigkeit und freie      Religionsausübung. Diese Werte waren ihnen so heilig, dass sie für sie      blutig gekämpft haben und bis in den Tod gegangen sind. – Was ist dem      modernen Menschen heute heilig? Verfolgen Sie einschlägige soziologische Werte-Studien,      hören Sie die teils sehr originellen Antworten in dazu relevanten      ORF-Programmen, fragen Sie ein bisschen in Ihrem Bekanntenkreis herum,      halten Sie einen Moment inne und denken Sie selbst nach – das Gros der      Antworten wird sich vermutlich (abgesehen von der in unseren Breiten      Gott-sei-Dank gegebenen politischen Selbstbestimmung) in zwei wesentlichen      Punkten von der Inspiration der Makkabäer unterscheiden: Was dem Menschen      hier und heute heilig ist, (a) ist vorwiegend nicht gemeinschaftlich,      sondern individuell konzipiert, und (b) liegt zu allermeist nicht im      expliziten Bereich der Religion. Werte wie Spaß, Erfolg, Konsum, Familie,      Freunde, Gesundheit, Sicherheit, vielleicht auch Natur stehen im      Vordergrund. Jener "lebendige Gott", nach dem im biblischen Gebet "die Seele      lechzt wie nach frischem Wasser" (vgl. Ps 42, 2-3), ist weit auf die      hinteren Plätze verwiesen – ein Gesamtbefund, der so manchen Vertreter      religiöser Institutionen seine Lamentatio auf "die moderne Welt" oder "die      heutige Jugend" anstimmen lässt. Allein – dies nützt nichts, denn religiöse      Inhalte sind dem modernen Menschen vielfach zu wenig real vorstellbar, als      dass sie ihm wirklich und existentiell heilig sein könnten, sie sind zu weit      weg und korrespondieren allzu oft nicht mit seiner persönlichen Erfahrung.      Und der Umstand, dass dazu noch die konkreten Erfahrungen mit "religiösen"      Menschen bisweilen nicht immer die besten sind, tut dann noch sein Übriges. Die Erfahrung, sie ist das Kriterium, an welchem      sich die Gültigkeit von Werten für den neuzeitlichen Menschen zu messen hat:      Ein Wert, der nicht erfahrbar ist, hat auch keine Gültigkeit. – Gilt dieses      Prinzip also für religiöse Inhalte, so verlangt freilich die intellektuelle      Redlichkeit, dass auch jene Werte, die heute die Stelle höchster Werte      einnehmen, demselben Kriterium der Erfahrung unterzogen werden, und hierbei      zeigt sich Interessantes: Wohl können die genannten Werte positiv erfahren      werden, aber keineswegs uneingeschränkt: der Spaß ist ein gar flüchtiger      Geselle, Erfolg ist neben der eigenen Tüchtigkeit von vielen anderen und      mitunter auch anscheinend zufälligen Faktoren abhängig, der Konsum erweckt      das Verlangen nach ständiger Erneuerung und Überbietung, Familienglück und      Freundschaften lassen sich nicht vollständig planen und bewerkstelligen, die      Gesundheit ist jedem Menschen nur auf Zeit verliehen, und so fort. Allem,      was dem Menschen heilig ist, wohnt ein Moment der Unverfügbarkeit inne – und      es kommt sogar noch schlimmer: Es bedarf durchaus keines religiösen      Glaubens, um zu erfahren, dass das absolute Streben nach einem dieser Werte      sogar destruktive Folgen haben und krank machen kann. Wer oder was aber soll in diesem Allerheiligsten des      Menschenherzen wohnen, wenn Gott nicht so leicht auffindbar und sonst nichts      dieses Ortes würdig ist? – "Eben nichts", würden da die Buddhisten      antworten: Leerheit (sunyata) und Illusion ist der letzte Charakter aller      Wirklichkeit, daher ist dieser Thron von jeglicher Vorstellung freizuhalten.      Auch der chinesische Daoismus betont die immense Bedeutung der      "Leerstellen": Dreißig Speichen sind vereint in einer Nabe. – an ihren leeren Stellen liegt es, daß Wagen zu gebrauchen sind. Ton wird gebrannt und es entsteht ein Krug daraus. – An ihren leeren Stellen liegt es, daß Krüge zu gebrauchen sind. Türen und Fenster werden ausgemeißelt – An ihren leeren Stellen liegt es, daß Zimmer zu gebrauchen sind. (aus Laotse, Tao Te King 55 (11), hg. und übersetzt von      Hans-Georg Möller, Ffm 1995, 170) In der Tat bauen nicht nur spirituelle Praktiken      verschiedenster Herkunft auf die Wichtigkeit der inneren Distanz und      Indifferenz allen vordergründigen Zielen gegenüber: dieselben Erkenntnisse      finden sich auch in psychologischen Theorien, ja sogar in      Trainings-Seminaren für Topmanager – auf einer rein immanenten Ebene, das      heißt: allein schon um des besseren Erreichens eben dieser Ziele willen.      Kein Wunder also, dass sich diese ostasiatischen Lehren auch im Westen      wachsenden Zuspruchs erfreuen, und zwar nicht nur unter religiös      unbeheimateten Leuten, sondern auch unter Juden und Christen, und dies      wiederum zur Sorge der jeweiligen religiösen Autoritäten. Vielleicht dürfen jedoch diese fernöstlichen Strömungen in einem ganz      anderen Licht gesehen werden: als Kräfte, die – ebenso wie die      abendländische Religionskritik – zu einer gründlichen Reinigung des inneren      Tempels beitragen, der im Lauf der Zeit von so manchem überwuchert worden      ist, sodass das Allerheiligste schließlich wieder frei wird für denjenigen,      dem allein es gebührt.