Sonntag, 13. März 1938: Österreich existiert als selbständiger Staat nicht mehr. Im ganzen Land ist eine riesige Verhaftungswelle im Gang. "In Wien", steht in einem gründlich recherchierten Buch über den Anschluss Österreichs zu lesen, "wurde der Gesandte Hornbostel von uniformierten SS-Männern aus seiner Wohnung geholt. In dem Alarmwagen, der ihn abtransportierte, saßen schon zwei Häftlinge: der Präsident der Pressekammer, Gesandter Ludwig, und der Chef des Bundespressedienstes, Oberst Adam. In der Schulerstraße hielt der Wagen. Zwei der Bewacher verschwanden in einem Haus. Nanu, wer wohnt denn von uns da? fragte Hornbostel. Schließlich fiel es ihnen ein: der alte Jude Kunwald. Als die SS-Männer alleine zurückkehrten, sagten sie: Schon vorbei. Sie hatten Kunwald erschossen aufgefunden." Das stimmt nicht. Dr. Gottfried Kunwald, seit Jahrzehnten in der Schulerstraße Nr. 1-3 im Zentrum Wiens wohnhaft, lebte noch. Allerdings nicht mehr lange. In einem Polizeibericht, den ich ausfindig gemacht habe, hielt der Polizeirevierinspektor, der die betreffende Amtshandlung leitete, folgendes fest: "Am 14. März 1938 um 10 Uhr 45 Minuten wurde ich von SA Führer Heribert Raya, Standarte 81, aufgefordert, in die Wohnung des Rechtskonsulenten Dr. Gottfried Kunwald, 69 Jahre, I Schulerstraße Nr. 1/II/49 zu kommen, da dieser anscheinend Selbstmord begangen habe. Ich verständigte sofort fernmündlich die Rettungsgesellschaft und begab mich in die Wohnung. Dort konnte ich folgendes feststellen: Am Sonntag 13. März um 12,30 Uhr erschien in der Wohnung des Dr. Kunwald eine Abteilung SA zu seiner Überwachung. Nach Angabe des Dieners Seel begab sich Dr. Kunwald um 24 Uhr zu Bett. Die weitere Überwachung der Wohnung übernahm die SA. Seel gibt weiters an, dass er das letzte Mal um 4 Uhr durch ein Glockenzeichen von Dr. Kunwald gerufen wurde. Er verlangte von seinem Diener auf das Klosett geführt zu werden und gab ihm den Auftrag, um 10 Uhr ihn zu wecken. Um 10,30 Uhr ging Seel in das Schlafzimmer und fand Dr. Kunwald anscheinend tot vor. Der Arzt der erschienenen Rettungsgesellschaft konnte keine Todesursache feststellen, vermutete aber, dass Vergiftung durch ein narkotisches Mittel vorliege. Um 12,45 Uhr erschien die polizeiliche Kommission unter Leitung des Herrn Polizeirates Dr. Mottl und veranlasste die Überführung in das Gerichtsmedizinische Institut. Die Leiche wurde um 13,50 Uhr von der Sanität abgeholt. Die Wohnung wurde zur Gänze versperrt und die Schlüssel mit der Meldung eingesendet. Das in der Wohnung vorgefundene Testament liegt bei." Über Auftrag des genannten SA Führers wurden die Personen, die sich in der Wohnung befanden, festgenommen und in das Polizeikommissariat gebracht. Sie wurden nach eingehender Perlustrierung, da kein strafbarer Tatbestand vorlag, wieder freigelassen. Bei den angehaltenen Personen handelte es sich neben dem erwähnten Hausdiener um zwei Schwestern Kunwalds (Hedwig und Ella), seine Nichte Johanna Stadlen, den Sekretär Dr. Wilhelm Hammelrath, seiner Köchin und einer gewissen Käthe Grohmann. Ein paar Tage später wurde der Leichnam im Grab seiner Eltern auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt (1. Tor, Gruppe 51, Reihe 1, Grab Nr. 62). Wer war dieser Dr. Gottfried Kunwald, an dem sich die drei oben genannten Christlichsozialen, die im Beamtenapparat des Ständestaates führende Positionen einnahmen, so vage erinnerten? Nehmen wir es vorweg: er war Jahre hindurch der maßgebendste Berater von Bundeskanzler Dr. Ignaz Seipel in Finanz- und Wirtschaftsfragen und bis zu dessen Tod sein Freund. Ein einflussreicher Mann also, allerdings hinter den Kulissen und von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt. Das dürfte auch der Grund sein, warum man selbst in Standardwerken über die Erste Österreichische Republik und in einschlägigen Biographien seinem Namen gar nicht oder nur gelegentlich und eher nebenher begegnet. Die Zeitgeschichtsforschung hat sich mit seiner Persönlichkeit und seiner entscheidenden Einflussnahme auf die Geschicke der jungen Republik noch nicht oder kaum noch beschäftigt. Ein weites Betätigungsfeld tut sich da auf, zumal riesige Aktenbestände über seine Tätigkeit in Moskauer Archiven der Bearbeitung harren. Dr. Gottfried Kunwald, der am 13. September 1869 in Baden bei Wien zur Welt kam, entstammte dem assimilierten jüdischen Großbürgertum. Sein Vater, der k.u.k. Hofs- und Gerichtsadvokat Dr. Ludwig Kunwald, spielte im gesellschaftlichen Leben der Kaiserstadt eine nicht unbedeutende Rolle. Er gehörte verschiedenen Freimaurerlogen und Wohltätigkeitsvereinen an und u.a. mit Ferdinand v. Saar befreundet. Bertha von Suttner gehörte zu seinen Klienten. Die Mutter, eine geborene Emma Pollak, zählte den bekannten Erzähler und Publizisten Leopold Kompert zu ihren Vorfahren, der als Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde tatkräftig für die Assimilation und Integration der Juden eintrat. Gottfried war das zweite von sechs Kindern. Sein älterer Bruder Ernst (geb. 14. April 1868) machte sich später als Dirigent der Berliner Symphoniker und anderer großer Orchester in der Musikwelt einen guten Namen. Sein jüngerer Bruder Lothar (geb. 27. März 1878) war praktischer Arzt. Ella, eine seiner drei Schwestern war Konzertsängerin, ihre Zwillingsschwester Meta verdämmerte ihr Leben in der Irrenanstalt am Steinhof. Die Jüngste, Hedwig, heiratete Dr. Max Stadlen, der 1909 die Rechtsanwaltskanzlei des Schwiegervaters übernahm. Soviel zur Familiengeschichte der Kunwalds. Gottfried kam mit einem Geburtsfehler zur Welt. Seine Beine hatten sich im Mutterleib nicht voll entwickelt. An diesem körperlichen Defekt hatte Gottfried Kunwald zeitlebens schwer zu tragen. Der Vater schickte seine beiden ältesten Söhne nach der Elementarschule zur weiteren Ausbildung in das angesehene Schottengymnasium der Benediktiner auf der Freyung. Gottfried legte dort im Sommer 1887 die Reifeprüfung ab und ergriff anschließend das Jusstudium an der Wiener Universität, das er 1891 abschloss. Seine Promotion zum Dr. juris fand erst vier Jahre später, am 23. Juli 1895, statt. Zu den bekanntesten akademischen Lehrern des keineswegs brillanten Studenten zählten Prof. Heinrich Lammasch (Völkerrecht), Prof. August von Miaskowski (Nationalökonomie), Prof. Karl Theodor Inama-Sternegg (Verwaltungslehre und Wirtschaftspolitik) sowie Prof. Carl Menger (Nationalökonomie). Schon der Student zeigte, wie man sieht, ein reges Interesse für volkswirtschaftliche und nationalökonomische Fragen und Probleme. Das Wissen, das er sich nach und nach auf diesem Gebiet erwarb, nutzte er dann in seiner Anwaltspraxis. Noch in den Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges profilierte er sich als Advokat, als Rechtsberater und Finanzkonsulent verschiedener Banken, Unternehmungen und Firmen, erstellte Expertengutachten, machte Vorschläge für die Finanzierung und Kreditierung von (Bau) Projekten, etwa der Elektrifizierung diverser Eisenbahnstrecken, den Kauf und Verkauf von Aktien, fertigte Rentabilitätsstudien an, schlug Handelsgeschäfte vor und veröffentlichte Artikel zu wirtschaftlichen und politischen Themen. Der durch das kultivierte, musische Elternhaus sozial und kulturell geprägte Rechtsanwalt betätigte sich als Herausgeber der Musik- und Theaterzeitschrift "Der Merker", stand im Briefwechsel mit Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal, schrieb Gedichte und verfasste ein Bühnenwerk. Weltanschaulich fühlte er sich den Ideen seines Völkerrechtslehrers Heinrich Lammasch verbunden, später war er in der "Paneuropäischen Union" Coudenhove-Kalergis tätig. Heinrich Lammasch dürfte Kunwald auch mit Ignaz Seipel bekannt gemacht haben, mit dem ihn dann bis zum Tod des Prälaten am 2. August 1932 eine enge Männerbekanntschaft verband. Aus den Tagebüchern Seipels, deren Herausgabe durch Frau Univ.-Prof. Dr. Michaela Kronthaler, der Leiterin des Instituts für Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz für das kommende Jahr vorgesehen ist, geht hervor, dass Seipel dem eindrucksvollen Mann mit dem Titanenhaupt am 2. Dezember 1918 gemeinsam mit seinem christlichsozialen Parteifreund Heinrich Mataja seinen ersten Besuch abstattete. Am 7. Februar 1919 hatte er mit dem charismatischen Feuergeist, dessen Rat er bald zu schätzen wusste," eine sehr wichtige Unterredung über Finanzfragen". Seipel und Kunwald trafen 1919 nicht weniger als 65mal zusammen, nicht nur in der aus drei Zimmern bestehenden Wohnung des Rechtskonsulenten im liftlosen Haus im 3.Stock in der Schulerstraße, sondern auch im Hotel Sacher, in das sich der schwer körperbehinderte Kunwald im Rollstuhl per Taxi bringen ließ. Es waren nicht nur Gespräche über Finanzfragen unter vier Augen, es kam selbstverständlich auch die Politik zu Wort. Der Prälat besprach im Beisein christlichsozialer Politiker (Heinrich Mataja, Rudolf Ramek, Eduard Heinl etc.) nach einem umfassenden Tagesprogramm mit Kunwald zumeist abends wesentliche aktuelle Fragen und Probleme. Im Jahr 1919 etwa das Sozialisierungsprogramm, die Gefahr einer Räteregierung usw. Seipel vertraute Kunwalds Urteil. Am 2.Juni heißt es im Tagebuch: …"Dann bei Kunwald. Sehr gute Aussprache über die Frage, ob ich das Mandat behalten soll, und über meine besonderen Aufgaben." Wie innig sich das persönliche Vertrauensverhältnis zwischen den beiden so verschiedenen Persönlichkeiten entwickelt hatte, beweist die Tagebucheintragung vom 9.Mai 1922:"Abends bei Kunwald", heißt es da." Redet mir sehr zu auszuspannen, da mein Verfall bereits allgemein sichtbar wird. Tatsächlich habe ich im Ausschuss für Äußeres kaum mehr geordnet reden können." Seipel hat sich an den Rat des Freundes nicht gehalten. Drei Wochen später bildete er sein erstes Kabinett. Welchen Einfluss Gottfried Kunwald auf die Entscheidungen des Bundeskanzlers im Zusammenhang mit der Völkerbundanleihe zur Sanierung der Staatsfinanzen in den Jahren zwischen 1922 und 1924 genommen hat, wird die historische Forschung im Detail noch zu klären haben. Kunwald dürfte Seipel zur Reise nach Verona geraten haben. Der Kanzlerberater überzeugte seinen priesterlichen Freund auch von der Notwendigkeit einer weiteren finanziellen Unterstützung der französischen Hochfinanz für Österreich. Diesem Zweck diente im Frühjahr 1925 eine Reise Bertha Zuckerkandls, die beste Beziehungen zu französischen Regierungskreisen unterhielt, nach Paris. Kunwald ließ es sich nicht nehmen, persönlich in die französische Hauptstadt zu reisen, um im Auftrag der Regierung die Abschaffung der noch bestehenden Völkerbund-Aufsicht über die österreichischen Staatsfinanzen zu urgieren. Ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr im Oktober 1925 geriet er in das Schussfeld der öffentlichen Kritik. Der gewiefte Finanzfachmann hatte 1921 gemeinsam mit dem kurzzeitigen Finanzminister Alois Schumpeter und anderen die Biedermann-Bank gegründet, die sich der Begünstigung durch staatliche Stellen und christlichsozialer Politiker erfreute. Als die Bank in Zahlungsschwierigkeiten geriet, wurde ein parlamentarischer Untersuchungs-ausschuss eingesetzt, der die Beschuldigungen mit Mehrheitsbeschluss zurückwies. Kunwald musste nicht nur vor dem Ausschuss aussagen, er wurde auch von der Tagespresse heftig attackiert. Sein Judentum spielte dabei eine nicht unbeträchtliche Rolle. Der Freundschaft mit Seipel hat diese Affäre nicht geschadet. Der Bundeskanzler und Parteiobmann der Christlichsozialen stattete seinem wirtschafts- und finanzpolitischen Mentor weiterhin seine Besuche ab, wenn auch in den Jahren vor seinem Tod nicht mehr so häufig wie früher. In den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts schrieb Gottfried Kunwald das grundlegende Werk: "Das Leben der Erwartungs- und Kreditwirtschaft" (1934),verfasste Artikel in einschlägigen Fachzeitschriften und hielt Vorträge. Auf die Geschicke seines Vaterlandes konnte der unerschütterliche Patriot, der von einem "katholischen, mittelländischen Österreich als Zentrum europäischer Kultur" schwärmte (Zitat aus seinem Testament) kaum mehr Einfluss nehmen. Dollfuß und Schuschnigg verzichteten auf seinen Rat. Gegenüber dem Philosophen und eifrigen Befürworter des österreichischen Ständestaates, Dietrich von Hildebrandt, der ihm gelegentlich einen Besuch abstattete, sprach er sich mit Entschiedenheit gegen den restriktiven Sparkurs und die deflatorische Finanzpolitik Viktor Kienböcks aus, die er für staatsgefährdend hielt. Über seinen Intimfeind fällte er kurz vor seinem Tod ein vernichtendes Urteil. Der letzte Satz in einem Letzten Willen lautet:" Dem Präsidenten Kienböck, der mein Vaterland aus persönlicher Eitelkeit zugrunde gerichtet hat, meinem (ein Wort unleserlich), möge Gott verzeihen."