Nach ihrer    Ankunft in Israel befanden sich die deutschsprachigen Schriftsteller in    einem geistigen Vakuum. Deutsch galt als Sprache der Nazis, als verpönte    Sprache. Literaten wie Else Lasker-Schüler, Mascha Kaleko, Josef Kastein,    Simon Kronberg, Manfred Sturmann, Moshe Ya‘akov Ben-Gavriel (geboren in Wien    als Eugen Hoeflich), Max Zweig oder Werner Kraft lebten und arbeiteten in    der Isolation, teilweise ins hebräische Kulturleben integrieren konnte sich    Max Brod. Es gab und gibt zwar deutschsprachige Zeitungen in    Israel, Martin Feuchtwanger und Hugo Gold gründeten Verlage für    deutschsprachige Veröffentlichungen, es gelang den Autoren jedoch    nur in    seltenen Fällen, in Kontakt mit dem deutschen und österreichischen    Kulturleben der Nachkriegszeit zu treten. Die meisten Texte wurden für    die    Schublade produziert. Im Schreiben lebt die Erinnerung Das zunehmende Interesse für die deutschsprachige    Literatur in Israel ist zwar erfreulich, kann aber über die Versäumnisse der    Nachkriegszeit nicht hinwegtäuschen. Manchen Autoren gelang es zwar, ein    wenig aus ihrer Isolation zu treten und ein deutschsprachiges Publikum zu    finden, für viele kam es aber zu spät. So paradox es klingen mag: Das Gefühl    der Zugehörigkeit zu den kulturellen Traditionen ihrer Herkunftsländer ist    Teil der israelischen Identität der Autoren. Die Komplexität ihrer jüdischen und israelischen    Identität äußert sich im Bewußtsein der Zugehörigkeit zu Israel bei    gleichzeitiger Bewahrung der Galuth-Sprache, die – paradoxerweise oder auch    nicht – als Medium dient, um über jüdische und israelische Themen zu    sprechen. Exemplarisch bringt Meir Faerber, der 1908 in    Mährisch-Ostrau geboren wurde und 1934 als Zionist in Palästina eingewandert    ist, diesen Aspekt einer mehrfachen Identität zum Ausdruck: "Es gibt    Kollegen, die sehr an ihrer deutschen Herkunft hängen und die sich auch in    Israel als Beinahe-Ausländer fühlen. Ich hingegen bin durch eine    traditionelle hebräische und jüdische Erziehung so stark im Judentum    verankert, daß mir die Übersiedlung nach Israel als Heimkehr nach Hause    erschienen ist. Daß ich trotzdem hängengeblieben bin an der deutschen    Sprache, hängt zum Teil mit der Situation des hebräischen Büchermarktes    zusammen. Meine Bücher sind, auch wenn ich sie in deutscher Sprache    schreibe, voll von jüdischem Inhalt und hebräischen Geist." Im Unterschied zu Faerber kam der im Jänner 1992    verstorbene Doyen der deutschsprachigen Literatur in Israel, Max Zweig, eher    zufällig ins Land. Der 1892 im mährischen Proßnitz geborene Dramatiker    reiste 1938 zur Uraufführung seines Dramas "Die Marranen" nach Palästina. Da    in der Zwischenzeit deutsche Truppen in die Tschechoslowakei einmarschiert    waren, gab es für ihn keine Rückkehr mehr. Er litt unter dem "Schmerz des    Schriftstellers, der die Gewißheit besitzt, aus dem Bereich seiner    Muttersprache auf ewig verbannt zu sein". In seinen Dramen stellt Zweig    urjüdisches Schicksal von der biblischen Zeit ("Saul") über die    Leidensgeschichte in der Diaspora ("Die Marranen") und den Holocaust    ("Ghetto Warschau", "Aufruhr des Herzens") bis hin zum Aufbau des jüdischen    Gemeinwesens in Palästina ("Davidia") dar. Mit seinen Dramen schuf Max Zweig    einen Gründungsmythos des Staates Israel. Zur Tragik des in deutscher    Sprache schreibenden Schriftstellers gehörte es aber, dass sein Schaffen –    bis auf wenige Ausnahmen – ohne Widerhall blieb. Die Anforderung, mehrmals im Leben sich einer neuen    Sprache, dem Leben in einer neuen, ungewohnten Umgebung anpassen zu müssen,    erklärt die Multikulturalität der Autoren und das häufige Phänomen der Zwei-    und Mehrsprachigkeit. Vor allem schreibende Frauen sind es, die ihre Texte    mehrsprachig verfassen. Eine von ihnen, die in Stettin geborene Lyrikerin    Lilit Pavell, kam 1933 als Zionistin nach Palästina. Bemerkenswert ist, dass    sie zunächst begann, Lyrik in englischer Sprache zu schreiben und erst    später, seit 1970 auf deutsch. Ausgelöst wurde ihr Schreiben in deutscher Sprache durch    eine Reise nach Deutschland: Ausgesetzt der Erinnerung an Vergangenes    schrieb sie hier ihr erstes deutschsprachiges Gedicht mit dem bezeichnenden    Titel "Vergessene Kindheit". Das Schreiben versteht Lilit Pavell als Akt des    Widerstandes gegen "Vergänglichkeit" und "Vergeblichkeit". Der Klang von alten Trauermärchen Else Keren wurde in Czernowitz geboren. Zwischen 1947 und    1950 lebte sie in Paris, seither in Israel. Ihre Texte, die sie im Lyrikband    "... dann ging ich über den Pont des Arts" (1983) sowie in Zeitschriften und    Anthologien veröffentlicht hat, faszinieren durch die Intensität des    lyrischen Ausdrucks. Else Kerens Gedichte und Prosaminiaturen verdichten    Erlebtes, Gedachtes und Gefühltes in ausdrucksstarke, gebrochene    Sprachbilder. Assoziationen, Gedankenfragmente öffnen Einblick in    Bewußtseinszustände, die einem immanenten Gefühl der Bedrohung ausgesetzt    sind. Die Texte evozieren den "Klang von alten Trauermärchen",    Erinnerung gestaltet sich als Archäologie des Leidens. Das Gedicht wird zu    einer Instanz der Erinnerung, die in Ausweglosigkeit mündet, der es    überlassen bleibt, Fragmente der Zerstörung, die Scherben des Gewesenen    einzusammeln und zu benennen, etwa in "Die Schale zerbrach": "Die Schale zerbrach / das Klirren verfängt sich / in den    Falten / der Stille / und die Waage kommt / in das Zeichen Schuld / Das    Gestern liegt in Scherben / glitzerbunt verloren / Ich sammle sie / in meine    Urnen." Hanna Blitzer wuchs in Oberschlesien auf und wanderte    1933, 18jährig, nach Palästina aus. Ihre Texte liegen in den Bänden "Staub    und Sterne" (1982), "Lyrik" (1984) und "Noch ein Akkord" (1987) vor, 1988    erschienen ausgewählte Gedichte auch in hebräischer Übersetzung. Hanna    Blitzers Lyrik wird von zwei Themen geprägt, dem Bemühen um die Bewahrung    des Gedächtnisses und der Konfrontation zwischen der Erinnerung an die    Kindheit in Europa mit der Beschreibung des Lebens in Israel. Im Versuch zur literarischen Identitätsfindung evoziert    die Lyrikerin Bilder aus ihrer Kindheit, die scheinbare Idylle erweist sich    jedoch als gebrochen – der Ort der Kindheit enthüllt sich als Todesstätte,    über die der Rauch aus den Krematorien von Auschwitz weht: "Europa, / Landschaft meiner Kindheit, / Kastanienbäume /    mit Blätterkronen breit, /schattige Platanenalleen, / Gärten, / in denen    Kirsch- und Apfelbäume stehn, / Häuser, / an deren Fenstern Geranien blühn,    / Landstraßen, / gesäumt von Birken in zartem Grün, / Bäche so kristallklar,    /Europa, / das die Landschaft meiner Kindheit war, / aber Dein Himmel,    Europa, so schwarz, / vom Rauch der Gräber / in der Luft, / verweste Deiner    Blumen / Duft." Schreiben versteht Hanna Blitzer als eine symbolische    Handlung – "Ein Zeichen setzen" -, ihre Texte offenbaren sich gleichermaßen    als existentielle Überlebens-Zeichen des zwischen imaginären Orten    wandernden schreibenden Subjekts und als Mahn-Zeichen der beständigen    Erinnerung an das Geschehene. Die Autorin ist sich bewusst, "zwischen zwei    Kulturen zu leben", gerade hierin erblickt sie aber eine Bereicherung, "denn    ich glaube nicht, dass eine monolithische Kultur fruchtbar ist". Am intensivsten mit der Problematik des modernen Israel    befaßt sich die Erzählerin Mirjam Michaelis. Geboren wurde die Autorin 1908    in Berlin, 1934 schloß sie ihr geisteswissenschaftliches Studium ab, in    Berlin begegnete sie Erich Mühsam und Karl Otten, zwischen 1935 und 1938    leitete sie Jugendalijagruppen, die sich in Deutschland, Holland und    Dänemark auf die Einwanderung nach Palästina vorbereiteten, 1938 wanderte    sie selbst ein und gründete mit Freunden den Kibbuz Dalia. Ihre Erzählungen, die in deutscher und hebräischer    Sprache erscheinen (zuletzt veröffentlichte sie den Band "Ein Brief an    Ophira"), zeigen ein umfassendes Panorama des Lebens in Israel. Die    Situation der Einwanderer aus unterschiedlichen Kulturen, das Verhältnis    zwischen den aus Europa eingewanderten aschkenasischen und den aus dem    arabisch-orientalischen Kulturkreis kommenden sephardischen Juden, das    Alltagsleben im Kibbuz, der israelische Kulturbetrieb und immer wieder das    Aufbrechen der Erinnerung an die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes sind    ständig wiederkehrende Themen im Oeuvre der Erzählerin. Beobachtungen und    Erlebnisse aus dem Bereich des Alltäglichen geben Anlaß zur fiktionalen    Beschreibung von Lebensgeschichten und Bewußtseinszuständen, die in ihrer    Unterschiedlichkeit und Widersprüchlichkeit die Komplexität der israelischen    Identität zum Ausdruck bringen. Die Texte, die von Kibbuzniks, Musikern,    Einwanderern und im Lande geborenen Israelis erzählen, zeigen Israel als ein    Land, das wie kein anderes von Geschichte geprägt ist und für dessen    Selbstverständnis die Erinnerung unabdingbar ist. Als ihr "sechstes Leben" bezeichnet die aus Wien    stammende Psychologin, Schriftstellerin und Übersetzerin Anna Maria Jokl ihr    Leben in Israel. Nach Wien, Berlin, Prag, England, Ost- und Westberlin fand    sie 1965 den Weg nach Jerusalem. Aufgewachsen in einem nicht-religiösen    Elternhaus, war ihr das Judentum eine Selbstverständlichkeit, bewußter wurde    ihr die jüdische Identität durch die Shoah, die als "Zeitenwende", als    "ständige Situation" im Zentrum ihres Bewußtseins steht. Das Erlebte ist    ständig anwesend. "Aber man vergißt nichts, nichts. Man ist alles Gewesene,    die Verschmelzung aller Abläufe in Gleichzeitigkeit." Die Befassung mit der hebräischen Sprache, mit ihrer    Essenz und der Assoziationsvielfalt des einzelnen Wortes, hat ihr eigenes    Schreiben mitgeprägt. In den "Essenzen", die demnächst als Buch erscheinen,    gestaltet sie prägnante, auf das Wesentliche reduzierte Erzähltexte. Gute    Sprache entsteht ihrer Auffassung nach aus der Brechung von Sprache.    Wenngleich die Erfahrung des Nationalsozialismus ihr Verhältnis zum    Deutschen nicht belastet hat, hat sie es während ihres Aufenthalts im    Nachkriegsdeutschland doch unterlassen, literarische Texte in deutscher    Sprache zu verfassen, erst in Israel wurde es ihr wieder möglich, sich am    literarischen Leben in Deutschland zu beteiligen. "Wir sind vergessene Menschen hier" Mit diesen Beispielen sind erst einige wenige Aspekte und    Persönlichkeiten der deutschsprachigen Literatur in Israel vorgestellt. Wie    reichhaltig diese gerade in Österreich nahezu unbekannte Literatur ist,    zeigt schon die bloße Aufzählung von Namen weiterer Autoren wie etwa Jenny    Aloni, Schalom Ben-Chorin, Schlomo Erel, Herbert Freeden oder David Neumann,    der aus dem Burgenland stammende Lyriker. Des weiteren Benno Fruchtmann,    Arie Efrat, Salomea Mischel-Grünspan, Ephraim Pistiner, Josef N. Rudel,    Josef Hans Speer und andere. In Jerusalem leitet Annemarie Koenigsberger die Gruppe "Lyris",    der unter anderem Magali Zibaso und Manfred Winkler angehören. "Lyris"    veranstaltet regelmäßige Zusammenkünfte, auf denen die Mitglieder ihre Texte    vortragen, und gibt eine gleichnamige Lyrikanthologie heraus, von der bisher    vier Bände erschienen sind. Als die vielleicht interessanteste Erscheinung der    deutschsprachigen Literatur in Israel kann Elazar Benyoetz gelten, der durch    eine Reihe von Aphorismen-Bänden hervorgetreten ist – zuletzt erschienen die    Bücher "Treffpunkt Scheideweg" (1989) und "Filigranit" (1992). Geboren 1937    in Wiener Neustadt, kam Benyoetz mit seinen Eltern als Zweijähriger nach    Palästina, wuchs mit der hebräischen Sprache auf und publizierte erste    Lyrikbände in Hebräisch. In der Absicht, über das Schaffen deutsch-jüdischer    Schriftsteller zu forschen und ihre Werke zu übersetzen – gleichsam ins    Hebräische "heimzuführen" – lernte er Deutsch und begab sich zu einem    Studienaufenthalt nach Deutschland. Er sammelte Material, forschte unter anderem über Else    Lasker-Schüler und Annette Kolb und gründete das Forschungsinstitut "Bibliographia    Judaica" in Frankfurt am Main. Und nun geschah das Unvorhergesehene, der    rational nicht zu erklärende Vorgang, daß Benyoetz von den toten    Schriftstllern "ins Deutsche geholt" wurde. Er empfand es als seine    Verpflichtung, deutschjüdische "Symbiose" und deutsch-jüdische Trennung in    deutscher Sprache nachzuzeichnen und der deutschen Sprache durch das    Wiederbewußtmachen ihrer verlorengegangenen jüdischen Quellen und jüdischen    Assoziationen die "nomadische Beweglichkeit" zurückzugeben. Der Versuch einer sprachlichen Neuschöpfung der    deutsch-jüdischen "Symbiose" ist jedoch durch das ständig vorhandene    Bewußtsein ihres Zerbrechens gefährdet, ein solcher Versuch bleibt (und muß    es bleiben) fragmentarisch. In Elazar Benyoetz` Ein-Sätzen, die zugleich    komprimierte Weltbilder und Zeichen der Verunsicherung darstellen, trauert    die deutsche Sprache. Die Sprache wird zum subtil verwendeten    Instrumentarium auf der Suche nach der eigenen, jüdischen Identität des    Autors. Im Prozeß der Sprach-Arbeit und der Sprach-Kritik vollzieht sich    jedoch zugleich eine präzise Analyse des Verhältnisses zwischen Juden und    Deutschen, eines "Scheideweges", der in die Katastrophe des Holocaust    geführt hat. Die deutschsprachige Literatur in Israel ist eine    Literatur der Erinnerung. Als Zeugen der Vernichtung sind die Autoren dem    Gefühl der Verunsicherung, der Unbehaustheit, der ständigen Gefährdung    ausgeliefert. Ihre Versuche zur literarischen Bewältigung des Erlebten und    Erlittenen sind häufig gekennzeichnet vom Bemühen, einer dissonanten Welt    eine Vision von Humanität entgegenzusetzen, gleichsam einen "Humanismus nach    Auschwitz" zu schaffen. Für viele Autoren wurde der Kontakt mit der    hebräischen Sprache befruchtend für ihr Schreiben, insbesondere was die    Prägnanz des sprachlichen Ausdrucks anbelangt. In einer Situation der Isolation, aber zugleich    eingegliedert in die dynamische multikulturelle israelische Gesellschaft    leisten die deutschsprachigen Schriftsteller Israels einen bemerkenswerten    Beitrag zur Gegenwartsliteratur, der gerade unter dem Aspekt der    Mehrsprachigkeit, der Kulturvermittlung und der Erforschung "kleiner    Kulturen" stärkere Beachtung verdient. Die Autoren befinden sich zumeist in    einer Position des "Dazwischen". Obwohl die neue Umgebung befruchtend auf ihr Schaffen    wirkt, überwiegt doch oft die Resignation. Hanna Blitzer: "Wir sind    vergessene Menschen hier, das ist mir klar. Trotzdem schreibe ich weiter." Dieser Text wurde uns freundlicherweise von der Presse zur Verfügung    gestellt, wo er am 30. Jänner 1993 (Spectrum, S. VI) erschien.
Vor dem Vergessen bewahrt:
      Armin Alexander      Wallas