Bernward Dörner: Die Deutschen und der Holocaust. Die Behauptung, man hätte von der Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen nichts gewusst, war und ist zentraler Topos individueller und kollektiver bewusster Verdrängung der NS-Verbrechen zum Zweck der Aufrechterhaltung der eigenen Lebenslüge. Am Beginn der Untersuchung steht zuerst die Frage nach möglichen „Hindernissen der Wahrnehmung" der Vernichtung. So hätten anfängliche Geheimhaltung, Tarnbegriffe, Desinformation sowie die Beschränkung des Täterkreises und Tempo der Tatausführung den Wahrnehmungsprozess behindert. Sehr rasch haben sich allerdings, so Dörner, die Informationen so weit verdichtet, dass spätestens ab Sommer 1942 die Massenmorde ein offenes Geheimnis in der deutschen Bevölkerung waren. Anhand der Analyse der „Möglichkeiten der Wahrnehmung" und der verschiedenen Informationsquellen zeigt Dörner, dass Informationen über die Vernichtung sehr rasch und umfassend bekannt wurden. So haben ebenso die Berichte von Wehrmachtssoldaten und Angehörigen der Polizeieinheiten sowie von Zivilisten und „Fremdarbeitern" die Vernichtung „im Osten" thematisiert und Gerüchte verifziert. Gleichzeitig wurden in der deutschen Öffentlichkeit, in den NS-Medien, in Reden und in der Presse permanent Vernichtungsdrohung ausgesprochen und wobei teilweise offen von „Ausmerzung" und „Ausrottung" die Rede war. Als weitere Informationsquelle können die alliierten Rundfunksender und über Deutschland abgeworfene Flugblätter betrachtet werden, die die Vernichtung thematisieren. Am Beispiel geheimer NS-Lage- und Stimmungsberichte sowie zahlreicher dokumentierter Äußerungen von Einzelpersonen und autobiographischer Quellen zeigt Dörner schließlich auf, in welchem Ausmaß die Massenmorde an der „Heimatfront" bekannt waren. Auf Basis dieser Ergebnisse versucht Dörner den „gesellschaftlichen Wahrnehmungs- und Reaktionsprozess" von den Vorzeichen zu Beginn der NS-Herrschaft über die Gewissheit bis hin zur Verdrängung angesichts der drohenden militärischen Niederlage zu skizzieren. Diese Verdrängung, das „Nicht-gewusst-haben-Wollen", setzt sich auch und vor allem, wie der Autor eindrucksvoll zeigt, in zahllosen Stellungnahmen nach 1945 fort. Bernward Dörners Conclusio ist schon bekannt: der Judenmord war kein Geheimnis. Die Bedeutung des Buches liegt vor allem in der systematischen Analyse und Darstellung der Möglichkeiten der Information und der Bekanntheit der Vernichtung der Juden und Jüdinnen. Dennoch bleiben manche Kritikpunkte. Dörner tendiert dazu, die deutsche Bevölkerung als passive Masse im Zusammenhang mit dem Holocaust zu betrachten, etwa wenn er behauptet, dass vor allem der Terror der Nazis in den letzten Kriegsjahren jeglichen Widerstand unmöglich gemacht hätte. Zahlreiche Verbrechen aus Eigeninitiative gegen Kriegsende werfen ein anderes Licht auf diese Frage. Auch manche verstörenden bzw. verunglückten sprachlichen Formulierungen des Autors beeinträchtigen die Lektüre, die jedoch trotz allem einen wichtigen Beitrag in diesem zentralen Teilbereich der NS-Forschung darstellt.
Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte.
Berlin: Propyläen-Verlag 2007
890 Seiten, Euro 30,80.-
ISBN 979-3-549-07315-5
Zahlreiche Quellen und Berichte aus dem Dritten Reich zeigen jedoch, dass Verfolgung, Deportation und Vernichtung keineswegs unter völliger Geheimhaltung „am deutschen Volk vorbei" durchgeführt wurden. Bernward Dörner, Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, untersucht in seinem Buch „Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte" mittels systematischer Analyse zeitgenössischer Dokumente in „welchem Maß der deutschen Bevölkerung die Ermordung der europäischen Juden von 1945 bekannt wurde und wie sie diese Informationen aufnahm."