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Aktion Kulturdenkmal Jüdischer Friedhof Wiener Neustadt

Werner SULZGRUBER

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Nach dem Wiedererstehen der jüdischen Gemeinde in Wiener Neustadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl der Mitglieder vor allem wegen der Zuwanderung aus Böhmen, Mähren und Ungarn kontinuierlich auf über 300 Personen an.

Obgleich die 1871 konstituierte Kultusgemeinde bald zu einer der größten Niederösterreichs zählte, bestand bis in die späten 80er Jahre des 19. Jahrhunderts keine Möglichkeit, die Verstorbenen vor Ort zu bestatten. Die Toten wurden traditionell in die Gemeinden ihrer Vorfahren, zum Beispiel nach Mattersdorf, gebracht und dort bestattet oder innerhalb der österreichischen Reichshälfte, zum Beispiel in Baden, begraben.

Da die Überführung der Verstorbenen in der wachsenden Gemeinde mit Schwierigkeiten und Kosten verbunden war, fasste die IKG die „Errichtung eines eigenen Friedhofes für die Angehörigen" mosaischer Konfession ins Auge. 1888 versuchten der damalige Kultusvorsteher Dr. Friedenthal und sein Stellvertreter Ignaz Schischa in einem Schreiben an den Stadtrat die Notwendigkeit ihres Anliegens darzustellen und ersuchten um die „entgeltliche Überlassung einer der Stadt gehörigen Parzelle in der Nähe des städtischen Friedhofes".

Nach einem ersten Antrag wurde vorerst auch ein zweites Ersuchen der IKG um die käufliche Überlassung einer Parzelle seitens des Stadtrats im Juni 1888 abgelehnt, und so beschloss die IKG, „von der Errichtung eines selbständigen Gottesackers bis auf Weiteres gänzlich abzulassen". Bedingt durch den Umstand, dass der Bedarf an einem eigenen Friedhof dennoch sehr dringend war und weil aufgrund vermehrt notwendiger Überführungen die Kosten weiter anstiegen, konnte das Ankaufsprojekt allerdings nur kurzzeitig hintangestellt werden. Offensichtlich durch weitere Gespräche dazu veranlasst, entschied der Stadtrat nach wenigen Monaten, am 19. Oktober 1888, der IKG Wiener Neustadt zur Errichtung eines „israelitischen Friedhofes" die Parzelle 2283 um den Betrag von 200 Gulden käuflich zu überlassen. Am 11. Dezember 1888 wurde der Kaufvertrag zwischen der Stadtgemeinde und der Kultusgemeinde abgeschlossen.

 

Ein Team beim Beginn des Rückschnitts im Südosten des Friedhofes (alter Zustand). Foto: W. Sulzgruber

Die Verantwortlichen der IKG Wiener Neustadt verloren nun keine Zeit, sodass 1889 nach der Vorlage des Bauplans rasch mit der Errichtung einzelner Gebäude begonnen wurde. Die Parzelle, die an der Reichsstraße lag, war Ende des 19. Jahrhunderts von Verkehrswegen eingeschlossen. Zuerst fasste man das Areal mit einer rund zwei Meter hohen Einfriedungsmauer ein, deren Verlauf an die vorhandenen Wege und Straßen angepasst wurde. Dann errichtete man im östlichen Zugangsbereich zwei Gebäude: ein „Gärtnerhaus" und ein „Leichenhaus". Das Konzept für eine prunkvolle „Zeremonienhalle" wurde nicht realisiert, sei es aus zeitlichen oder finanziellen Gründen.

Noch vor der endgültigen Bewilligung des Begräbnisplans erfolgte das erste Begräbnis am „neuen" jüdischen Friedhof am 20. November 1889. Es handelte sich um Regine Rosenberger, die Gattin des Uhrmachers Adolf Rosenberger.

Bis 1938 wurden an diesem Ort über 250 Personen bestattet. Obgleich 1938 zahlreiche jüdische Friedhöfe in Österreich geschändet, demoliert und zerstört wurden, blieb der jüdische Friedhof in Wiener Neustadt unangetastet und wurde von den Nationalsozialisten nicht zerstört. 1940 erwarb die Stadtgemeinde den Friedhof. Trotz der massiven Bombardierung der Rüstungsstadt im Zweiten Weltkrieg blieb das Areal, das im Industriegebiet der Stadtgemeinde lag, fast unbeschädigt.

Nach dem Krieg kam es zu keiner Neukonstituierung der IKG, wenige jüdische Einwohner hatten überlebt und nur vereinzelt kehrten sie in die Stadt zurück. 1952, als die Synagoge am Baumkirchnerring abgetragen wurde, erfolgte die Rückstellung des jüdischen Friedhofs.

In den späten 80er Jahren entbrannte eine politische Diskussion über die Begräbnisstätte. Der Zustand des Areals wurde als „bedenklich" eingestuft. In den „Wiener Neustädter Nachrichten" hieß es damals zum Beispiel: „Leider sind heute viele der Grabsteine umgestürzt, Steinfraß und Umweltverschmutzung tragen das Ihre dazu bei, die Inschriften der Grabtafeln für immer verschwinden zu lassen. Manche der Grabsteine sind unter Gestrüpp und hohem Unkraut überhaupt nicht mehr auszumachen." In den Zeitungen war vom „vergessenen Friedhof" und „total vernachlässigten Judenfriedhof" die Rede.

Zur Situation des jüdischen Friedhofs

Die Stadtgemeinde Wiener Neustadt ist heute keineswegs untätig, sondern bemüht sich durchaus um eine Mindestpflege des Friedhofs. So wird beispielsweise in regelmäßigen Abständen die Wiesenfläche gemäht und Laub weggeführt.

Doch Begehungen im Winter 2006 und im Frühjahr 2007 zeigten, dass Handlungsbedarf besteht: Die gesamten Randzonen des Areals (konkret die Süd-, West- und Nordseite) waren von massiven Verwüchsen und Wildwuchs gekennzeichnet. Größere Mengen Plastik, Glasflaschen und anderer Müll befanden sich auf dem Gelände. Unter anderem wurden (und werden) bedenkenlos und kontinuierlich Abfälle über die Mauer des Friedhofs geworfen und die Fenster des Gärtnerhauses von Vandalen beschädigt. Die alte Einfriedungsmauer zeigt an einigen Stellen massive Auflösungserscheinungen, ganze Befestigungselemente fallen heraus.

Zweifellos würden für eine umfassende Sanierung, die den Baumbestand, die Grabstellen, alle Gebäude und die Einfriedung mit einschließen müsste und in größerem Maßstab notwendig ist, enorme Geldsummen benötigt werden, die von der Stadtgemeinde allein nicht aufgebracht werden können.

Die Idee einer ersten Aktion und ihre Umsetzung

In Anbetracht der Sachlage und im Bestreben, eine Veränderung des Ist-Zustandes herbeizuführen, wurde vom Autor die „Aktion Kulturdenkmal Jüdischer Friedhof" (AKJF Wiener Neustadt) initiiert: Auf Basis eines Schulprojektes sollten sich Schüler aktiv für dieses wichtige Kulturdenkmal engagieren. Es galt vor allem eine Freimachung und Reinigung des Areals und der Grabstellen durchzuführen.

In diesem Kontext muss klargestellt werden, dass es in Österreich immer wieder Schulprojekte gibt, wo Schüler auf Friedhöfen Efeu und Verwuchs zurückschneiden. In Wiener Neustadt hatte es ein solches Projekt bislang noch nie gegeben. Für Wiener Neustadt hätte eine symbolische, oberflächliche Behandlung allerdings nicht genügt, weshalb eine nachhaltigere, intensive Vorgangsweise versucht werden musste, die jedoch nur mit Unterstützung von Profis erfolgen konnte. Nach dem Einholen aller Bewilligungen, der Klärung der rechtlichen Rahmenbedingungen, dem Informieren aller Verantwortlichen, der Terminfestlegung und der Abstimmungen des zeitlichen Rahmens wurde mit der Detailorganisation begonnen.

Zentral für das Gelingen eines Projekts dieser Dimension waren zum einen die Bereitschaft von Personen, praktisch tätig zu werden, und die Kooperation von Institutionen und Fachleuten, die den Planungs- und Arbeitsprozess professionell unterstützen konnten, sowie zum anderen die Einbindung von Sponsoren, die finanzielle Hilfe geben wollten.

Entsprechender Stellenwert wurde dem Grundsatz eingeräumt, dass dieses Projekt, im Speziellen der „Aktionstag", nur von Schülern der Oberstufe und nur von Freiwilligen durchgeführt werden sollte. Schließlich galt es körperlich anstrengende Arbeit zu leisten und alle Teilnehmer sollten auch selbst davon überzeugt sein, was sie tun. Freiwilligkeit und die innere Bereitschaft für die Sache – das Bewusstsein, warum man es macht – waren äußerst wichtig.

Im März 2007 meldeten sich dann fast 60 Schüler und Schülerinnen des BRG Gröhrmühlgasse 27 (Klassen 6.A, 7.B, 7.C, 8.B und 8.C). Mit dem 11. April 2007 wurde in jenen Klassen, wo Schüler an dem Projekt teilnehmen wollten, ein projektorientierter Unterricht begonnen. Im Unterrichtsgegenstand „Geschichte, Sozialkunde und politische Bildung" setzten sich die Schüler mit der regionalen Zeitgeschichte auseinander. Hier wurden die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Wiener Neustadt, die Zeit des Nationalsozialismus und damit der Zerstörung der jüdischen Gemeinde behandelt. In einzelnen Klassen war dies auch der Auftakt für eine intensivere Beschäftigung mit jüdischer Kulturgeschichte und Kultur im Religionsunterricht. Auf diese Art wurde der Weg auf den jüdischen Friedhof in Wiener Neustadt inhaltlich vorbereitet.

Die Schüler und Schülerinnen sollten geschichtliche und kulturgeschichtliche Hintergründe erfahren, Informationen über die jüdische Bevölkerung und diesen historischen Ort kennen sowie wissen, dass der jüdische Friedhof in der Wiener Straße 95 die letzte Stätte ist, die auf die Präsenz einer großen jüdischen Gemeinde in der Stadt hinweist. Über 700 jüdische Männer, Frauen und Kinder hatten einst bis 1938 in Wiener Neustadt gelebt.

Der sogenannte „Aktionstag" am 16. April 2007, der Tag der Realisierung des Projekts, wurde bewusst zu einem Termin mit Symbolkraft angesetzt (Jom haShoah). Er stand unter besonderen Zielsetzungen: Er war „ein Tag des aktiven Engagements für ein Kulturdenkmal der Stadt", „ein Tag des Sich-Erinnerns anlässlich des Shoa-Gedenktages" und „ein Tag für Toleranz und ein friedliches Zusammenleben der Kulturen".

Die Schüler und Schülerinnen hatten die erforderlichen Arbeitsgeräte von zuhause mitgenommen. Einzelne Schüler und Eltern übernahmen sogar Transporte. Firmen und Privatpersonen waren bereit gewesen, den „Aktionstag" zu unterstützen: Getränke und Essen für alle Helfer wurde zur Verfügung gestellt (Firma Linauer, Fischapark/Interspar) und auf Basis von Geldspenden (Bank Austria Creditanstalt, Re/Max Exclusiv) konnte Notwendiges zugekauft werden. Zwei Männer der Freiwilligen Feuerwehr hatten wenige Tage zuvor auf dem Gelände einzelne größere Verwüchse herausgeschnitten und damit eine wichtige Vorarbeit für das Gelingen des „Aktionstags" geleistet.

Das Engagement der Helfer war großartig, sicherlich überdurchschnittlich. Es gelang auf Grund des großen persönlichen Einsatzes der Schüler und Schülerinnen einen weit besseren Zustand des Friedhofs zu erreichen, als man es ursprünglich für möglich gehalten hatte. Der Freimachung und Grobreinigung folgte sogar noch eine Feinreinigung. Die Freiwilligen mussten viele Grabsteine erst einmal entdecken, sich also auf die Suche begeben und „Zeugen aus Stein" sichtbar machen. Manches, was seit Langem verschollen gewesen war, konnte wieder ans Tageslicht gebracht werden. Mit intensiver Arbeit und großem Einsatz legten die Jugendlichen alte Grabstellen frei, schnitten massive Überwucherungen und Verwüchse zurück und richteten Grab um Grab wieder her.

Die Stadtgemeinde entsorgte an diesem Tag unter anderem vier volle LKW-Ladungen Astwerk, Schnitt und Laub. Sie richtete in Folge auch einige Grabsteine auf, die in den vergangenen Jahren umgefallen waren. Ein Mitarbeiter der Stadtgartenverwaltung betreute und half bei schwierigeren Tätigkeiten.

Mehr als 130 Grabsteine wurden vollständig freigemacht und zirka 220 Grabstellen gereinigt. Das Ergebnis des „Aktionstags" kann sich wirklich sehen lassen. Es ist großartig, was verändert werden kann, wenn sich so viele Jugendliche freiwillig engagieren und aktiv werden. Mit ihrem Einsatz und der primären Unterstützung von Magistrat, Feuerwehr und Lehrern konnte der jüdische Friedhof vorbildlich hergerichtet werden.

Kehrarbeiten eines Teams im südlichen Mittelteil des Friedhofes. Foto: Werner Sulzgruber

Der Ablauf und die Ergebnisse des „Aktionstags" wurden dokumentiert und noch im Mai in Form einer Internet-Präsentation veröffentlicht. Anhand von ausführlichen Beschreibungen des gesamten Projektablaufs und zahlreicher Fotos kann sich jeder Interessent ein Bild von dieser Initiative machen (http://www.brgg.at/index.php?id=514).

Am 25. Oktober 2007 fand für die Teilnehmer am Projekt ein Workshop statt, der von Dr. Johannes Reiss, dem Direktor des Österreichischen Jüdischen Museums in Eisenstadt, durchgeführt und von Kulturkontakt Austria finanziell unterstützt wurde ( http://www.brgg.at/index.php?id=536 ).

Ideen für die Zukunft des jüdischen Friedhofs von Wiener Neustadt

Dieses Projekt in Wiener Neustadt könnte der Auftakt zu einer Reihe von Aktivitäten dieser Art in Wiener Neustadt sein. Die „Aktion Kulturdenkmal Jüdischer Friedhof" (AKJF Wiener Neustadt) könnte schulübergreifend erweitert werden. Ein neues Ziel ist es, in Zusammenarbeit mit anderen Schulen ein Netzwerk zu knüpfen, mit dessen Hilfe in regelmäßigen Abständen, mindestens einmal jährlich ein „Aktionstag" durchgeführt wird, wie er erstmals im April 2007 verwirklicht wurde. Dies setzt aber voraus, dass solche Aktivitäten dauerhaft seitens der IKG Wien als Eigentümerin des jüdischen Friedhofs unterstützt werden und dass die Stadtgemeinde weiterhin ihre Mithilfe zusichert.

Der jüdische Friedhof ist als Kulturdenkmal auch ein Ort, der Zeitgeschichte erfahrbar macht und Erinnerung ermöglicht: Erinnerung an einen Teil der Stadtgeschichte, an die Geschichte der jüdischen Gemeinde, an Namen und persönliche Schicksale von Juden – an ihr Leben und ihren Tod. Der jüdische Friedhof kann ein Ort des Erinnerns werden, eine Gedenkstätte, die jungen Menschen ein Lernen vor Ort ermöglicht. Ist er doch der letzte sichtbare Rest einer einst blühenden und bedeutenden jüdischen Gemeinde in Wiener Neustadt.

Selbst wenn diese Idee aber Wirklichkeit wird, also wenn sich tatsächlich weitere Lehrer finden, die ihre Zeit investieren und die organisatorische Arbeit tun, und wenn sich Schüler finden, die den Sinn solcher Aktivitäten erkennen und sich persönlich einsetzen, so bleibt es dennoch nicht mehr als eine symbolische Handlung, solange nicht konkret Gelder investiert werden, um den Verfall des Friedhofs mit seinen Grabsteinen und Inschriften zu stoppen, und nicht jene zusätzlich notwendige Arbeit geleistet wird, die Jugendliche nicht mehr zu leisten vermögen. Idealismus allein genügt nicht. Es braucht finanzielle Unterstützung und den Willen aller Verantwortlichen, hier tatsächlich längerfristig den Erhalt dieses wertvollen Kulturgutes zu sichern.

Mag. Dr. Werner Sulzgruber ist AHS-Lehrer am BRG Gröhrmühlgasse Wiener Neustadt (Deutsch, Geschichte, Psychologie, Philosophie), Referent an der Fachhochschule Wiener Neustadt und Buchautor. Als Historiker hat er sich auf die zeitgeschichtliche Stadt- und Regionalgeschichte Wiener Neustadts spezialisiert und arbeitet zurzeit an der Erforschung jüdischer Personen- und Familiengeschichten, der Geschichte des Sprengels der IKG Wiener Neustadt und der Zeit des Nationalsozialismus.