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Soldatengräber mit „Davidstern“

Claus STEPHANI

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Es ist ein stiller Ort des Gedenkens, ein Soldatenfriedhof oben auf einem Berg, dem Kühbergl in Bruneck-Brunico, im Südtiroler Pustertal, das italienisch Val Pusteria heisst. Schmale Serpentinen führen durch einen lauschigen Wald mit vielen Vogelstimmen langsam den Berg hinauf, bis man dann davor steht - vor dem Eingang zu einem abgetrennten  kleinen „Guten Ort", wie es auf Jiddisch heisst, oder einem Bejt HaOlam, einem „Haus der Ewigkeit". Unten an der Strasse, vor den ersten Treppen zum Waldweg steht auf einer Holztafel: „Wanderer tritt ein und grüsse die toten Helden die hier ruhen nach erfüllter Pflicht."

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Heldenfriedhof jüdischer Soldaten, Bruneck.

Man sollte bei einem Besuch in Bruneck auch hier vorbeikommen und je einen kleinen Stein auf die Gräber legen, die ein Magen David, ein „Schild Davids" oder „Davidstern"  kennzeichnet. Denn hier ruhen „nach erfüllter Pflicht" auch jüdische Soldaten, die einst im Ersten Weltkrieg für den mächtigen Kaiser in Wien gekämpft hatten. Doch es gibt da keine Mazewot, keine Grabsteine, weil auf diesem Heldenfriedhof alle gleich sind - wenigstens jetzt hier, im Tod. So stehen auf den Gräbern der Christen schlichte Kreuze aus ungeschältem Tannenholz, und auf den 25 Gräbern der Juden und Moslems, stehen einfache Stelen, die ebenfalls aus Tannenholz sind. An Stelen und Kreuzen aber haftet noch die graue harzige Rinde der Waldbäume, die zur Erinnerung dieser männlichen Kriegsopfer gefällt wurden.

In Bruneck gab es zwischen 1914 und 1918 mehrere Kriegslazarette, in denen Verwundete, Angehörige der k.u.k.-Armee und auch Kriegsgefangene behandelt wurden. Viele erlagen ihren Verletzungen und wurden nachher auf dem Heldenfriedhof in Einzel- oder Gemeinschaftsgräbern bestattet. Es waren insgesamt 546 österreichisch-ungarische Militärangehörige und 123 russische, serbische und rumänische Kriegsgefangene. Bei einem Gemeinschaftsgrab, in dem acht k.u.k.-Soldaten ruhen, kann man die Namen der Toten lesen. Und dann wird einem bewusst: Zusammen mit den Österreichern liegen da auch ein Ungar, ein Tscheche, ein Kroate, ein Ruthene und ein Rumäne, ehemals Soldaten aus Ländern und Provinzen, die damals zu einem grossen, gemeinsamen Reich gehörten.

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Grab des Soldaten Israel Krigsmann. 4.IX.1916.

Nicht weit davon ist jener vermutlich kleinste jüdische Friedhof, jedoch mit einem eigenen Eingang, gleich neben dem der Moslems, und so am Rande von dem grossen Friedhof der Christen. Er darf nicht, wie sonst bei Christen üblich, irgendwann „geräumt" werden, um einzelne Gräber oder Grabfelder „nach Ablauf der Ruhefristen" neu „zu vermieten und belegen". Denn dieses ist ein Heldenfriedhof, und diese Helden der multiethnischen k.k.-Monarchie werden wohl niemals post mortem das gleiche „Schicksal" haben, wie die Toten auf zahlreichen anderen jüdischen Friedhöfen, die von den Nationalsozialisten geschändet, beraubt, enteignet, zerstört oder einfach eingeebnet und dann bebaut wurden. Er wird weiter dastehen, als stiller Ort des Gedenkens, oben im Wald auf dem Kühbergl, und als stummes Mahnmal, das an den Ersten Weltkrieg, 1914-1918, erinnert, als es unter den vielen Völkern des riesigen österreichisch-ungarischen, kaiserlich-königlichen Habsburgerreiches zeitweilig keine Unterschiede gab - jedenfalls nicht im Sterben für das Vaterland.

Liest man nach in der Geschichte, kann man leicht feststellen, dass von den ca. 300.000 jüdischen Soldaten in der k.u.k.-Armee mehr als 30.000 auf dem „Feld der Ehre" starben. Das ist eine Tatsache, die immer noch zu wenig gewürdigt wird, da heute wieder im Nachbarland neofaschistische Gruppen die Juden als „Ungarn mit nichtungarischem Herzen" bezeichnen und man jene Helden totschweigt - auch wenn sie schon längst tot sind.

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Tor zum Heldenfriedhof Bruneck.

Als die antisemitische Propaganda im Deutschen Reich während des Ersten Weltkriegs immer wieder behauptete, die Juden wären „Feiglinge" und „Drückeberger" und sie würden sich dem Kriegsdienst gern entziehen, erschien am 11. Oktober 1916 der Erlass des preussischen Kriegsministers Adolf Wild von Hohenborn. Es sollte der Anteil jüdischer Soldaten im deutschen Heer - sowohl der wehrpflichtigen, im Einsatz befindlichen, als auch der bereits an der Front gefallenen -  ermittelt werden. Nachdem die Endergebnisse jedoch nicht im Sinne der einflussreichen antisemitischen rechtskonservativen Verbände, Parteien und Medien waren, wurden sie bis nach Kriegsende geheimgehalten, um so die Ressentiments weiterhin zu schüren.

Erst 1922 konnte man schliesslich erfahren, dass mit 17,3 Prozent anteilig ebenso viele deutsche Juden wie Nichtjuden zum Kriegsdienst eingezogen worden waren, obwohl alters- oder berufsbedingt nur 15,6 Prozent der Juden am Krieg hätten teilnehmen müssen. Der Einsatz deutscher Juden war also grösser, als der von nichtjüdischen Deutschen. Von den fast 100.000 jüdischen deutschen Soldaten hatten 77 Prozent an der Front gekämpft.

Doch schon im selben Jahr, 1922, begann der Nationalsozialismus sich bemerkbar zu machen und mit ihm die neue, arteigene Rassenhetze: Im Juli 1921 wurde ein gewisser Adolf Hitler Vorsitzender der NSDAP im Deutschen Reichstag. Und schon ein Jahr später, im November 1923, versuchte dieser ehemalige Gefreite zum ersten Mal, mit einem Putsch von Bayern aus, die Machtverhältnisse zu ändern.

Michael Berger, Buchautor und Historikeroffizier im Militärgeschichtlichen Forschungsamt der deutschen Bundeswehr und Gründungsvorsitzender des Bundes jüdischer Soldaten e.V., stellte in seinem Werk  „Eisernes Kreuz - Doppeladler - Davidstern" (2010) fest, dass fast 100.000 deutsche Juden während des Ersten Weltkriegs in Heer und Marine dienten, 12. 000 waren gleich zu Kriegsbeginn 1914 als Freiwillige zu den Fahnen geeilt; 77.000 kämpften an vorderster Front; 30.000 wurden mit zum Teil höchsten Auszeichnungen dekoriert und mehr als 20.000 befördert. Unter den jüdischen Soldaten in der kaiserlichen Armee waren 3000 Offiziere, Sanitätsoffiziere und Militärbeamte im Offiziersrang. Insgesamt 12.000 deutsche jüdische Soldaten starben im Ersten Weltkrieg den Heldentod.

Bereits im Februar 1919 wurde auf Initiative von Dr. Leo Löwenstein, promovierter Physiker und Chemiker, Erfinder der Schallmessung, der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) gegründet. Als ehemaliger Hauptmann der kaiserlichen Armee wollte Löwenstein so dem aufflammenden Antisemitismus, der vorher durch die sogenannte „Judenzählung" oder „Judenstatistik" Verleumdung und Hass verbreitet hatte, entgegentreten.

Obwohl Löwenstein - wie auch nicht wenige andere jüdische Offiziere - Träger des „Eisernen Kreuzes" war, wurden er und seine Frau 1940 zur Zwangsarbeit und 1943 ins KZ Theresienstadt deportiert. Sie überlebten den Holocaust wie durch ein Wunder und wanderten dann nach Schweden aus und von dort in die Schweiz. Löwenstein starb 1956 auf einer Besuchsreise  in Israel. Seit Januar 2014 ist in Aachen die Dr. Leo Löwenstein-Kaserne nach ihm benannt. Diese Kaserne, 1938 errichtet, trug vorher den Namen des Judenhassers und Generals Max von Gallwitz (verstorben 1937), Reichstagsabgeordneter der Deutschnationalen Volkspartei.

Mag sein, dass diese postume Würdigung von Dr. Leo Löwenstein ein mahnendes Zeichen gesetzt hat. So wie auch die Inschrift beim Ausgang des Heldenfriedhofs, oben am Tor im Wald: „Ruhet sanft die ihr fürs Vaterland gekämpfet." Auch wenn jenes Vaterland nachher, seine dort ruhenden jüdischen Soldaten und die vielen anderen sehr bald vergessen hat - die Gedanken an den Ersten Weltkrieg, der vor 101 Jahren ausgebrochen war, und das Erinnern an all das, was danach folgte, sind wieder da, wenn man sich die Mühe macht und auf dem stillen Waldweg hinauf steigt zu den Namen der vergessenen Helden.

 

Alle Fotos: C. Stephani, mit freundlicher Genehmigung.