Ausgabe

Antisemitismus in den „verlorenen Gebieten“ Frankreichs

Karl PFEIFER

Content

„Jüdische Hündinnen, youpine, Du bist eine Hure, ausserdem jüdisch" - dies waren nur ein paar der Beleidigungen, die 15-jährige Zwillingsschwestern, Schülerinnen im Pariser Bergson Gymnasium (XIXe) umringt von einem Dutzend maghrebinisch-französischer Mitschüler 40 Minuten lang ertragen mussten. Ihre Gesichter und Kleider wurden mit Käse beschmiert, weil „Juden stinken" und von einer der Schwestern wurde verlangt, sie solle sich hinknien und um „Entschuldigung bitten, jüdisch zu sein".

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Buchcover

So beginnt das Buch „Die verlorenen Territorien der Republik"1, in dem eine Gruppe französischer Mittelschullehrer im Herbst 2002 über weit verbreiteten Antisemitismus, Sexismus und Islamismus in den AHS und Gymnasien berichtete. Das Buch wurde damals totgeschwiegen und bei der dritten Auflage, 13 Jahre später, war das Echo auch nicht sehr laut. Gerade deswegen ist es wichtig, über den Inhalt dieses Buches zu berichten.


Diese Auflage wurde nach den Pariser Attentaten im Januar 2015 redigiert und vom Historiker Georges Bensoussan mit einem Nachwort versehen, in dem dieser anmerkt, dass die Brüder Kouachi, die den Mord an den Mitarbeitern von Charlie Hebdo verübten sowie Ahmed Coulibaly, der im koscheren Supermarkt mordete, gerade 2002 in französischen Schulen sozialisiert worden waren. Diese Atmosphäre des Verschweigens und der Leugnung der Realität führte zu einer Welle von Verbrechen. „Als das Buch erschien, gab es ein langes Schweigen der Medien, aber auch der Politik, das aus der Linken kam, von wo wir auch kamen", schrieb Bensoussan. „Wir stiessen auf diese Verweigerung, der französischen Gesellschaft zuzuhören. Die Stigmatisierung kam von einem Teil der Linken, die uns die Öffentlichkeit versperrte. Wir wurden als „Rassisten" und als „islamophob" abqualifiziert. Es war für sie schwierig, die neue Realität eines Antisemitismus zu sehen, dessen Ursprung arabisch-muslimisch war. All diese Lehrer, die nicht mehr Teile der Geschichte, die mit Juden zu tun hatten, die Hebräer in der sechsten Klasse, Nazismus, Frankreich während der 1930er Jahre oder die Shoa in der dritten Klasse lehren konnten, kamen aus der Linken, wie Iannis Roder erzählte, der Geschichte und Geographie in einer Mittelschule in Seine-Saint-Denis lehrte. Die Stereotypen erschallten, die alten Wörter des ewigen Antisemitismus wurden wiederbelebt.


Doch 2003 denunzierte Dominique Vidal in Le Monde diplomatique dieses „schizophrene Buch", und das zu einer Zeit, als die Situation junger Juden in den öffentlichen Schulen rund um Paris von solchen Zwischenfällen charakterisiert war. „Während wir das Buch redigierten, haben wir vom Unterrichtsministerium (das von Jack Lang geführt war) um Zahlen von antisemitischen Vorfällen gebeten, wir haben keine Antwort erhalten", erinnert sich Georges Bensoussan. Dieser „neue" Antisemitismus in Frankreich ist mit einer schweren historischen Hypothek belastet, denn ein Teil der französischen Bevölkerung hatte 1940 und 1941 kein Problem, als die ersten antisemitischen Massnahmen von der Regierung in Vichy getroffen wurden. Als die Universitäten auf Grund der Gesetze von Vichy 140 Professoren jüdischer Abstammung entliessen, haben die Universitäten geschwiegen. Als das erste antijüdische Gesetz (3. und 4.10.1940) erlassen wurde, hat die Versammlung der französischen Kardinäle und Bischöfe die Einschränkung der Rechte von Juden gut geheissen.


Ein Teil der französischen Linken hat keine Probleme mit der von Proudhon kommenden Tradition, die den Antikapitalismus mit dem Antisemitismus vermengt. Laut einer Untersuchung von Fondapol (Oktober 2014) kann man bei Mitgliedern der linken Wahlplattform Front de gauche die gleich starken antisemitischen Vorurteile wie bei der Front National finden.


Nach dem Mord an vier Juden im koscheren Supermarkt behauptete Dominique Vidal in Le Monde diplomatique (Februar 2015), es handle sich lediglich um ein „kurzes Aufflackern". Der Titel seines Artikels „Ein heftiger, doch marginaler Antisemitismus" hat es in sich. Er nimmt wahr, dass seit 2006 in Frankreich neun Juden ermordet wurden, ohne die Opfer des jungen Franzosen Mehdi Nemmouche mit zu zählen, der im jüdischen Museum in Brüssel im Mai 2014 vier Menschen ermordete. Vidal erkennt auch an, dass es mehr antisemitische Ausschreitungen gibt. Doch er verharmlost. Einerseits lässt er die Untersuchung von Fondapol vom Oktober 2014 nicht gelten, weil diese nur auf 600 Personen gründet. Andererseits meint er, CRIF (die Vertretung der französischen jüdischen Gemeinden) „die mit Zähnen und Klauen die Politik von Tel Aviv verteidigt", nähre „das Amalgam zwischen Juden und Israelis". Deswegen ist Dominique Vidal sicher: „Der Antisemitismus als Geisteshaltung ist daher nicht sehr verbreitet." Im Übrigen, resümiert er, würde dieser nur so „empfunden".


In der gleichen Woche, am 6. Februar 2015, veröffentlichte der Philosophielehrer Sofiane Zitouni in der Tageszeitung Libération einen Artikel „Weshalb habe ich an der Mittelschule Averroès gekündigt". Er hatte bereits am 15. Januar 2015 einen Artikel in Libération unter dem Titel „Der Prophet ist auch Charlie" publiziert. Deswegen wurde er gemobbt, was ihn bewog, diese staatlich subventionierte muslimische Schule zu verlassen. Zitouni erklärte:

„Zuallererst das immer wiederkehrende und zwanghafte Thema die Juden [...] in meiner mehr als zwanzig Jahre dauernden Karriere im schulischen Milieu habe ich nie zuvor so viele antisemitische  Aussprüche aus dem Mund von Schülern gehört wie in dieser Mittelschule! Eine Schülerin wagte es eines Tages zu behaupten, dass „die jüdische Rasse eine von Allah verfluchte Rasse ist! Viele islamische Wissenschaftler sagen das!" [...] Dieser fast „kulturelle" Antisemitismus einer Anzahl der Averroès-Schüler hat sich, selbst als ich einen Kurs über den Philosophen Spinoza gab, manifestiert: einer von diesen hat mich unumwunden gefragt, weshalb ich in meiner Einleitung nicht präzisierte, dass dieser Philosoph Jude war. Implizit hat man verstanden, dass das Wort „Jude" für ihn ein Problem bedeutete."


Bensoussan betont: „Unsere intellektuelle „Software" wurde durch die Berufung auf die extrem Rechten und das Vichy Regime blockiert, womit man sich ohne Risiko im „Lager der Guten" befand und sich auf die herbeiphantasierte Moral des Zweiten Weltkriegs stützte." Tatsächlich wird von vielen Linken, nur der Antisemitismus wahrgenommen, der von Neonazis oder Rechtsextremisten kommt, und wer es wagt, auf den Antisemitismus hinzuweisen, der aus linken und islamischen Kreisen kommt, dem wird vorgeworfen, die Geschäfte Marine le Pens zu betreiben.


Tagtäglich wird die arabische Welt im Fernsehen antisemitisch bearbeitet, und diese Sendungen werden auch in Europa konsumiert. Doch wenige kennen die Realität, und noch weniger Menschen sind bereit, dies zur Kenntnis zu nehmen. Dafür gibt es mehrere Gründe: das schlechte Gewissen, das mit der Kolonialgeschichte und dem Krieg in Algerien zu tun hat, oder auch die bewusst hingenommene Blindheit, was die neuen kulturellen und sozialen Realitäten in Frankreich betrifft. Bensoussan schreibt: Wir konnten sehr schnell feststellen, dass zahlreiche Leiter von Schulen bevorzugten, sich zu arrangieren, „um keine Unannehmlichkeiten" zu haben. Sie waren besorgt um den Ruf ihrer Institutionen, aber auch um ihre Karriere und ihre Beförderung. Viele haben die Vorfälle dem Unterrichtsministerium nicht gemeldet. Ebenso war diese Leugnung der Realität durch viele französische Intellektuelle tabuisiert.
Bensoussan zitiert Nicolas Chamfort (1741-1794), der sagte: „In Frankreich lässt man die Brandstifter in Ruhe und verfolgt die, welche die Sturmglocke läuten."Als im Mai 1990 ein jüdischer Friedhof in Carpentras geschändet wurde, gingen Massen von Franzosen auf die Strasse. Doch das sollte sich ändern. Die Historikerin Mona Ozouf  wies am 24. Januar 2015 auf „die schrecklichen Gewissensbisse" hin, nicht während der Affäre Merah (März 2012) demonstriert zu haben, als man darüber hinwegging, dass die Schweigeminute, die vom Unterrichtsministerium angeordnet wurde nach dem Mord in der jüdischen Schule in Toulouse und dem Mord an französischen Soldaten in Montauban, in vielen Schulen nicht gehalten werden konnte (weil Schüler aus muslimisch-migrantischem Milieu dies verhinderten). Zwei Jahre später, als Mehdi Nemmouche im Mai 2014 vier Menschen ermordete, gab es ebenfalls keine Demonstrationen. Der Judenmord in Frankreich hat die französische Gesellschaft kalt gelassen, erst als die Mitarbeiter von Charlie Hebdo im Januar 2015 ermordet wurden, kam es zu beeindruckenden Demonstrationen in Frankreich.
Eine Untersuchung ergab 2014, dass 46% der praktizierenden (30% der nicht praktizierenden) Muslime antijüdische Ressentiments äusserten, während 80% der praktizierenden Muslime eine positive Meinung über das Christentum hatten.


Der Antisemitismus eint. So verbünden sich extrem Rechte (z.B. A. Soral) mit Antisemiten aus muslimisch-migrantischem Milieu und schwarzen Identitären wie Dieudonné. Die französische Menschenrechtskommission (CNCDH) stellte 2013 fünfzig antimuslimische Aktionen fest. Gegen Juden gab es im gleichen Jahr 423 Aktionen. Es gibt wenigstens zehn Mal mehr Muslime als Juden in Frankreich.

Wer geglaubt hatte, nach dem Mord an jüdischen Kindern würde der Antisemitismus zurückgehen, der irrte. Es kam allein in der Zeit zwischen dem 19. März und dem 30. April 2012 zu 140 antijüdischen Angriffen. Abdelghani Merah, der Bruder des Mörders, brachte es auf den Punkt, als er vom „kulturellen Antisemitismus, den banalisierten Judenhass" sprach, den er in seiner Jugend in seiner Familie erfuhr.

Während an französischen Schulen Tafeln angebracht werden, auf denen an die aus der Schule ausgeschlossenen jüdischen Schüler erinnert wird, die oft noch von französischen Polizisten eingefangen wurden, um sie in die Vernichtungslager zu deportieren, empfahlen die Direktoren dieser und anderer Schulen jüdischen Eltern, ihr Kind aus der Schule zu nehmen.
Der Titel des Buches wurde von Medien und Politikern benützt, um aufzuzeigen, wie mit den Werten der französischen Republik umgegangen wird, doch auf den Inhalt ist das offizielle Frankreich nicht eingegangen.


13 Jahre nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe der „Verlorenen Territorien der Republik" ist der Auszug jüdischer Schüler aus den öffentlichen Schulen massive Tatsache. Sie gehen in jüdische, private oder katholische Schulen. Einzelne jüdische Kinder, deren Namen nicht zu jüdisch klingen, sind in den öffentlichen Schulen geblieben. In der Zeit von 2000 und bis 2012 sind fast 30.000 Juden nach Israel ausgewandert. Und 2014 gab es zum ersten Mal mehr jüdische Einwanderer aus Frankreich als irgendwann nach 1948. Dazu kommt noch die Auswanderung in das Vereinte Königreich, in die USA, nach Kanada, Australien und Neuseeland. Hauptsächlich wandern junge Akademiker und religiöse Juden aus.
Kein Wunder, denn der Antisemitismus blüht in den „verlorenen Gebieten" Frankreichs, während es an politischer Courage mangelt und man noch immer antisemitische Aggressionen als „Gewalt zwischen Gemeinschaften" maskiert und verharmlost.

1  Les territoires perdus de la République, Postface de Georges Bensoussan, Fayard/Pluriel 2015. Das Titelblatt zeigt die Unruhen in Sarcelles am 20. Juli 2014.