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Russisch-jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg

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Simon Dubnow: Geschichte eines jüdischen Soldaten. Bekenntnis eines von vielen. Aus d. Russ. v. Vera Bischitzky, hg. v. Vera Bischitzky u. Stefan Schreiner.

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013.

248 Seiten, Euro 64,99 [D].

ISBN 978-3-525-31013-7

Wenn heute die Rede von verfolgten Juden ist, denkt man automatisch an die Schoa und die sechs Millionen ermordeten Juden in Europa. Sehr viel weniger präsent ist dagegen das Schicksal der Juden im Zarenreich. Nicht zuletzt dem russisch-jüdischen Historiker Simon Dubnow (1860-1941) ist die Kunde davon zu verdanken. Verfasst hat Dubnow diese Geschichte, wie er selbst sagt, „im zweiten Jahr des gegenwärtigen Krieges unter dem Eindruck der bedrückenden Erlebnisse der Juden im Hinterland wie in der Armee in jenen Tagen".

Die auf Russisch verfasste Geschichte erscheint im März und April 1916 in der Zeitschrift Evrejskaja Nedelj; 1918 bringt der Petrograder Verlag Razum die Geschichte als Separatdruck. 1929 gibt der Pariser Verlag Édition Erelji eine anonyme französische Übersetzung heraus, 1988 legen Les Éditions du Cerf die Histoire d un soldat juif (1881-1915) ein zweites Mal auf. Eine hebräische Übersetzung besorgt Dubnow selbst, die 1934/35 in der Zeitschrift Ha-Tekufah, Tel-Aviv, veröffentlicht wird. 1930 diskutiert man eine deutsche Übersetzung - aber verwirklicht wird diese Absicht erst mit der vorliegenden ausgiebig kommentierten Ausgabe.

Dubnow erzählt vom Leben eines Juden, der 1915 nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in einem Krankenhaus im Hinterland an seinen Verletzungen, den körperlichen wie den seelischen, stirbt. In die Zeit vor seinem Tod - es sind gut dreissig erzählte Jahre - fallen die „Pogromzeiten", wie Dubnow sie nennt, denn eigentlich wünscht man sich in Russland, wie der Oberprokuror des Heiligen Synod Konstantin Petrovitsch Pobedonoscev (1827-1907) es formuliert, „die Lösung der jüdischen Frage in Russland", die darin bestehe, „dass ein Drittel der Juden auswandere, ein Drittel sich assimiliere und ein Drittel untergehe." Man gibt sich grösste Mühe, diesen Wunsch zu verwirklichen: mithilfe der Judenpogrome nach der Ermordung von Zar Alexander II. im Jahr 1881 und der Vertreibung der Juden aus ihren Dörfern; dem Pogrom in Kischinev am 6. und 7. April 1903, später nach dem verlorenen Krieg gegen Japan im September 1905 mit weiteren Pogromen. 1911 erregt die Bejliss-Affäre die Gemüter und stachelt den russischen Mob zu erneuten Pogromen an. Als der Protagonist einberufen wird, gegen Deutschland in den Krieg zu ziehen, schiebt er alle Bedenken beiseite, denn jetzt müssten die Russen den Juden ja dankbar sein. Als er einem gefangenen deutsch-jüdischen Soldaten begegnet, erklärt dieser ihm, er sei in den Krieg gezogen, um seine russisch-jüdischen Brüder zu rächen. Nach der Niederlage bei Soldau, für die Deutschen bekannter unter dem Namen Tannenberg (Ostpreussen), hört der Held im Zug, wie polnische und russische Soldaten von „Juden" und „Verrat" tuscheln. Ende 1915 gibt es Kosakenpogrome gegen Juden, gefolgt von der Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem Kovnoer und Kurländischen Gouvernement und aus einem Teil des Grodnoer Gouvernements. Wegen weiterer Lügengeschichten über jüdischen Verrat vertreiben die Russen die Juden aus Litauen. Zwischen Rosch ha-Schana und Jom Kippur trifft das sich im Rückzug befindliche russische Heer auf die ausgewiesenen Juden. „Zerstörte Städte, ausgeraubte Häuser, verstümmelte oder ermordete Menschen, vergewaltigte Frauen - das sind die Trophäen des Rückzugs."  Tödlich verwundet an Leib und Seele stirbt der Autor, gerade einmal 35 Jahre alt.

Ein verstörendes Zeugnis einer grausamen Zeit - auf die nur zwei Jahrzehnte später eine für Juden noch grausamere folgen sollte.