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Jiddische Literatur im 20. Jahrhundert

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Armin Eidherr: Sonnenuntergang auf eisig-blauen Wegen. Zur Thematisierung von Diaspora und Sprache in der jiddischen Literatur des 20. Jahrhunderts

Göttingen: Vienna University Press, V&R unipress 2012

382 Seiten, Euro 53,90

ISBN 3899719948

„Es heisst, dass die Juden in der Zerstreuung stets ihre Heimat bei sich getragen hätten: in der Gestalt des Talmud. ... Fast zweitausend Jahre später gewann Literatur erneut die Bedeutung von Ersatzwelt. Als kollektive Ausdrucksform der osteuropäischen Juden wurde die jiddische Literatur zu einem Symbol für nationale Identität", schreibt Otto F. Best. Um jüdische Identität in der Diaspora geht es in Armin Eidherrs umfang- und enorm kenntnisreichem Buch über die jiddische Literatur des 20. Jahrhunderts. Eine Sprache und Literatur, die durch die Shoa fast ausgestorben und in Vergessenheit geraten ist.

Das Buch umfasst den Zeitraum von den 1880er Jahren bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts und konzentriert sich vorwiegend auf Lyrik und Autobiographie insbesondere österreichischer bzw. galizischer Autoren. Während auf Jiddisch ungefähr bis 1800 vorwiegend religiöse Bücher erschienen, und zwar vor allem für Frauen, die des Hebräischen nicht kundig waren, begann mit zunehmender Verbreitung der Haskala das Jiddische an Bedeutung zu gewinnen, um die Massen zu erreichen, und damit auch jene Männer, die ebenfalls nur über spärliche Hebräischkenntnisse verfügten. Ausführlich widmet sich Eidherr dem Leben und Werk der Familie Bergner, vor allem Melech Rawitsch (1893-1976), geboren als Sacharja-Chava Bergner, Sohn von Hinde Bergner und Vater des Malers Jossel Bergner. Rawitsch ist in Ostgalizien geboren, war in Wien einige Jahre Bankangestellter, übersiedelte 1921 nach Warschau ins Zentrum der jiddischen Literatur, wo er sein geistiges Zuhause zu finden hoffte, und lebte schliesslich bis zu seinem Tod in Montreal. Er schrieb vorwiegend Gedichte, aber auch eine dreibändige, umfangreiche Autobiographie.

Hinde Bergners „Winternächte" umfasst den Zeitraum von 1870 bis 1900 und schildert fast ausschliesslich das Leben, den Alltag und die Festtage in den „Städteln" Galiziens. Rawitschs „Geschichtenbuch" ist das mittlere der „autobiographischen Trilogie" der Familie Bergner. Er setzt mit seinen Memoiren seiner Mutter fort und behandelt die Jahre 1893 bis 1934. Jossel Bergners Autobiographie schliesslich umfasst den Zeitraum von 1920 bis 1995. Wenngleich Jossel Bergners Muttersprache Jiddisch ist, hat er seine Autobiographie der israelischen Journalistin Ruth Bondi auf Englisch erzählt, die sie wiederum in Buchform in hebräischer Sprache herausgegeben hat.

Für Mendel Neugröschel, einen der bedeutendsten jiddischen Lyriker, der von Anfang der 1920er Jahre bis 1939 in Wien lebte, wird in dem Gedicht „Gebet für die jiddische Sprache" das Jiddische zur angebeteten Sprache, ja sogar der „Heilige Geist", der in der jiddischen Sprache schlummere, wird beschworen. Der Geist aber war nun schon erweckt. Die jiddische Kultur entfaltete sich damals rasant mit einer Literatur, die Weltliteratur im wahrsten Sinne des Wortes ist, mit Zeitungen und Zeitschriften aller Schattierungen, mit Theaterstücken, Filmen, wissenschaftlichen Institutionen, Schulen und so fort. Und in dem Gedicht „kum arein" („komm herein") wird eine poetisch-utopische Welt beschrieben, in der die Beschränkungen von einst über Bord geworfen und vergessen werden sollen. Viele andere Autoren werden noch behandelt, deren Thema der Diaspora-Nationalismus bzw. „Galuth-Nationalismus" ist, wobei Diaspora nicht Exil bedeutet, sondern eine Art Heimat ist.

Im zweiten Teil behandelt Eidherr Esau und Elija in der jiddischen Literatur: Esau ist dabei immer der Andere, der Fremde, der Goji, aber auch der Böse bzw. Jakob der Jude, Esau der Nichtjude. Immer wieder kommen in der jiddischen Literatur die Hände Esaus und die Stimme Jakobs vor. Das Motiv Esau vs. Jakob taucht beispielsweise in Scholem Alejchems „Tewje, der Milchmann" auf. Ebenso findet sich das Motiv bei Jizchok Lejb Perez oder Shalom Asch. Von der Beliebtheit des Elija vor allem als Begleiter in der Diaspora zeugen in der ostjüdischen Kultur, neben zahlreichen Volksliedern, Volkserzählungen, wie etwa im Ma'assebuch (bzw. Majsseh-Buch), deren Elija-Bild die ganze Zeit bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts lebendig bleibt.

Am Schluss des Buches geht es um Übersetzungen ins Jiddische. Ab 1900 bis in die vierziger und fünfziger Jahre hinein wurden Hunderte von Werken der Weltliteratur ins Jiddische übersetzt: Plato, Shakespeare, Spinoza, Byron, Goethe, Schopenhauer, Heine, Dostojewski, Tolstoi, Bakunin, Wilde, Schnitzler usw. Eidherr listet auf 11 Seiten die wichtigsten Übersetzungen ins Jiddische auf. Mit der Abnahme der Leserschaft verringern sich die Übersetzungen. Jedoch ist in jüngster Zeit ein Aufleben der Übersetzungen ins Jiddische zu bemerken. In Deutschland erschienen der „Struwwelpeter" und „Max und Moritz" sowie Übersetzungen von Saint-Exupéry, Orwell, Brecht und den Gebrüdern Grimm.

Als bekannter Übersetzer zahlreicher Werke aus dem Jiddischen schöpft Eidherr aufgrund seiner enormen Kenntnis der jiddischen Literatur aus dem Vollen. Er behandelt nicht nur bekannte jiddische Autoren wie Isaak Leib Perez, sondern bringt uns vor allem unbekannte, aber nicht minder bedeutende Autoren in wissenschaftlicher Interpretation näher. Obwohl „Sonnenaufgang" ein wissenschaftliches Buch ist und somit nicht immer leicht lesbar, eröffnet es jedem, der an jiddischer Literatur interessiert ist, einen wahren Schatz an Lektüre-Anregungen, Denkanstössen und Einsichten in die Bedeutung dieser die jüdische Identität gleichermassen spiegelnden wie prägenden Werke.