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Der Mittlere Osten im Umbruch

Gustav C. GRESSEL

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War die strategische Situation im Mittleren Osten seit Anfang 2011 in einem ständigen, kaum vorhersehbaren Fluss, so haben sich in den letzten Monaten die Grundzüge der neuen politischen Ordnung der Region herauskristallisiert. „In the Middle East there is no good or bad, only bad and worse" - diese Weisheit scheint sich dabei wieder aufs Neue zu bewahrheiten.

Saudi-Arabien und die Türkei sind die Gewinner der gegenwärtigen Situation. Beide konnten in allen post-revolutionären Wahlen - mit Ausnahme Libyens - religiös-konservative sunnitische Parteien dank kräftiger finanzieller Unterstützung an die Macht bringen. In Ägypten und Tunesien versuchen derzeit noch die demokratischen Kräfte, die Revolution zu retten - vermutlich vergebens. Ziel Riads ist es, die sunnitisch-wahabitischen sozialen Ordnungsmodelle durch religiös-autoritäre Regimen durchsetzen und festigen zu lassen. Religiöse Minderheiten werden dabei über die Klinge springen müssen: koptische Christen ebenso wie die verstreuten schiitischen Minderheiten und Alewiten. Die Ziele Ankaras sind ähnlich gelagert, auch wenn man sich weniger radikaler Gruppen bedient.

Höhepunkt der bisherigen Auseinandersetzungen ist der syrische Bürgerkrieg. Zwar kämpfen auf Seiten der Rebellen durchwegs auch moderate und demokratieorientierte Gruppen, den militärischen Ausschlag geben jedoch von den Golfstaaten und der Türkei finanzierte radikale sunnitische Gruppen: Islamistische Internationalisten aus der Golfregion und Pakistan, Veteranen aus dem Irakkrieg (früher dort im Rahmen von al-Kaida im Irak gegen die USA kämpfend) sowie aus dem Libyen-Konflikt (dort auf beiden Seiten kämpfend) machen den wirkungsvollen Kern der Rebellen aus. Auch der Vormarsch sunnitisch-wahabitischer Islamisten in Mali (teils ehemalige Kämpfer der Islamischen Brigaden Gaddafis, teils Tuareg, teils arabische Internationalisten) wäre ohne finanzielle Unterstützung aus den Golfstaaten kaum möglich gewesen. Die islamische Mission - vorgetragen sowohl mit Koran als auch Kalaschnikow - zieht die Unterstützung von fundamentalistischen Rebellengruppen in Mali, dem Tschad, Südsudan, dem Kongo, der Zentralafrikanischen Republik, Somalia und Äthiopien nach sich.

Irans Interessen in Syrien

Auf der anderen Seite sucht der Iran seine letzten Schäfchen zu retten: Das Assad-Regime hält sich mit iranischer und russischer Hilfe über Wasser. Dem Iran geht es um die Erhaltung der Verbindung in den Libanon sowie darum, den Verlust eines der letzten Alliierten zu verhindern. Denn andere Gruppen, allen voran die Hamas, sind bereits ins andere Lager übergelaufen: Sie kündigten Assad und verlegten ihr politisches Hauptquartier nach Katar. Damit verbunden war auch ein Schwenk der finanziellen Unterstützung der Golfstaaten: Gelder, die früher in die Kassen der Fatah wanderten, fliessen jetzt zur Hamas. Dies zeigt auch, dass in der saudischen Vorstellung eines „neuen Mittleren Ostens" Israel ebenso wenig einen Platz hat wie in der iranischen!

Neben dem Iran finden sich freilich noch Mithelfer, deren Ziele weniger ambitioniert sind: Kurden, Alewiten und Christen in Syrien kämpfen um das nackte Überleben. Kurden im Nordirak fürchten eine Stärkung der Türkei und stellen ihr Territorium daher als Durchzugsgebiet für iranische Unterstützung zur Verfügung. Der Irak selbst ist derart instabil, dass die kleinste Erschütterung zum Wiederaufflammen konfessioneller Gewalt führen kann. Zudem fürchtet man eine Rückkehr jener nun in Syrien kämpfenden sunnitischen Extremisten. Daher lässt man die iranische Unterstützung Assads stillschweigend gewähren.

Der Krieg in Syrien hat aber auch gezeigt, wie beschränkt die iranischen Mittel zur Machtprojektion tatsächlich sind. Dies hat eine gute wie eine schlechte Seite. Die gute ist, dass die libanesische Hizb‘Allah demonstriert bekommt, wie wenig sie sich auf Iran vertrauend militärisch hinauslehnen kann. Die negative Seite ist, dass sich die „Wagenburgmentalität" im Iran - aus der auch der unbedingte Wunsch zur nuklearen Bewaffnung entspringt - verstärkt. Von Pakistan bis Libyen geht es schiitischen Minderheiten an den Kragen. Verbunden mit den Erlebnissen aus dem Iran-Irak-Krieg hinterlässt das Spuren in der persischen Psyche.

Die zweite negative Seite ist, dass die saudische Wahnidee, jede schiitische Minderheit als fünfte Kolonne des Irans zu brandmarken, Teheran jene historische Mission zuschanzen könnte, die das Regime schon seit Jahren auszufüllen versucht. Denn abgesehen vom Libanon und Syrien (obwohl die syrischen Alewiten keine Schiiten im engeren Sinn sind) ist der faktische iranische Einfluss auf die schiitischen Gemeinschaften im Mittleren Osten gering. Gerade wegen seiner religiösen Radikalität, fehlenden wirtschaftlichen Attraktivität und der politischen Engstirnigkeit wurde das Mullah-Regime selten als Vorbild betrachtet. Gerät man aber noch stärker in Bedrängnis, könnte dieses Regime als der letzte Rettungsanker betrachtet werden! Dass der Iran diese Rolle mit allen subversiven Mitteln auszugestalten suchen wird - so er die Chance bekommt -, ist klar. Hier sollten vor allem westliche Staaten aufpassen, nicht durch unreflektiertes Übernehmen saudischer Argumente dem eigenen Feind in die Hände zu spielen.

Zwiespältige westliche Bilanz

Die Bilanz der westlichen Staaten in diesem Spiel fällt durchwegs durchwachsen aus. Die USA suchten 2011 über die Armee in Ägypten eine geordnete Machtübergabe zu organisieren und möglichst säkular-demokratische Elemente zu stärken. Dass sie darin scheiterten, ist mittlerweile offenkundig. Die amerikanischen Bemühungen, innerhalb der syrischen Opposition moderatere Elemente zu stärken, dürfte ähnliche „Erfolgsaussichten" haben. Auch muss Washington (besonders der früheren Aussenministerin Hilary Clinton) vorgehalten werden, dass es sich seit dem Rückzug aus dem Irak von der Türkei am Nasenring durch den Mittleren Osten führen lässt. Weder in Syrien noch in Ägypten oder Libyen führte der indirekte weg über Ankara zum Ziel. Man musste stets die Führung akzeptieren, die man eigentlich verhindern wollte.

Besser hat sich hier Frankreich geschlagen: In Libyen zog man das politische Ruder durch die Intervention an sich, konnte selbst durch Spezialkräfte und Agenten am Boden die lose Stammeskoalitionen so beeinflussen, dass moderate Kräfte die Oberhand behielten. Dies war auch deshalb möglich, weil Ex-Präsident Sarkozy bewusst die Türkei aus wichtigen Entscheidungen heraushielt und versuchte, den Türken stets voraus zu sein. In Westafrika versucht Sarkozys Nachfolger Hollande den Scherbenhaufen des malischen Staatsgebildes wieder zusammenzuflicken und das Entstehen eines weiteren Afghanistans vor der europäischen Haustüre zu verhindern. Dabei greift Paris stets auf eilig geschmiedete Koalitionen moderater lokaler Kräfte zurück, um diese Erfolge abzusichern. Auch wenn Frankreich Schwierigkeiten hat, diese Kriegsschauplätze adäquat militärisch zu bedienen, muss man doch anerkennend vor der französischen Diplomatie (und dem Geheimdiensten) den Hut ziehen! Sie beherrscht ihr Handwerk.

In Israel hat der Versuch, sunnitische und schiitische Fundamentalisten (Saudi-Arabien und Iran) gegeneinander auszuspielen, langsam sein Ende erreicht. Bis in die 1980er Jahre verstand man den Iran als Gegengewicht zu den Arabern, versuchte noch zwischen beiden zu vermitteln - was unter anderem zu den Iran-Contra-Geschäften führte. Seit Mitte der 1990er Jahre sucht man sich bei den Arabern als einziges wirkungsvolles Gegengewicht gegen eine iranische Atommacht zu präsentieren). Weder Teheran noch Riad werden Israel auf Dauer akzeptieren. Das zeigen auch die jüngsten Ereignisse. Andererseits hat es Israel unter der vergangenen Regierung nicht geschafft, eine Brücke zu den moderateren arabischen Elementen zu schlagen. Gerade das scheint aber vor allem angesichts der schwachen Performance der USA im Nahen Osten dringend notwendig!

Tzipi Livni ins Boot der nächsten Regierung zu holen ist ein Vorzeichen, dass dies zumindest versucht wird. Sie wird nicht nur Obama bei seinem Besuch im März in die Region „einnorden" müssen, sie hat vielmehr auch erkannt, dass es jenseits der gegenwärtigen Führungsgeneration der Fatah1 in der Region keine anderen Ansprechpartner gibt. Freilich werden sich allfällige direkte Verhandlungen schwierig gestalten und sich auch nur um einen Separatfrieden um die Westbank drehen können. Allerdings kann die Diskussion um die langfristige Verankerung Israels in der Region nicht mehr auf einen Mittler (weder in der Region noch in Washington) ausgelagert werden. Sie wird direkt zwischen Israel und seinen Nachbarn zu führen sein.

Anmerkung

1 Die ältere Generation um Arafat wollte nie ernsthaften Frieden mit Israel schliessen. Die jüngere Generation in der Fatah ist weit stärker radikalisiert und hat auch keine Erinnerung an Exil und Dauerkrieg. Sie ist daher wieder konfliktbereit. Die gegenwärtigen Führungsgeneration um Abbas ist jedoch durch die Erlebnisse der Vergangenheit (syrischer, libanesischer Bürgerkrieg, Exil in Tunesien etc.) weitgehend abgeschreckt, nicht erneut den Konflikt zu suchen, auf der anderen Seite nicht im religiösen Eifer jüngerer Generationen gross geworden, um sich von der gegenwärtigen Machtverschiebung Positives zu erwarten. Sie ist daher noch am ehesten ein Verhandlungspartner.