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Postnazismus als Begriff der Kritik

Stephan GRIGAT

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Der Begriff des Postnazismus und der früher geläufigere Begriff des Postfaschismus versuchen die Tatsache zu fassen, dass 1945 zwar das Morden geendet hat, aber nicht die viel beschworene „Stunde Null" stattfand. Die nachnationalsozialistischen Demokratien haben Struktur- und Ideologieelemente des Faschismus und des Nationalsozialismus in sich aufgenommen. Der deutsche Korporatismus und die österreichische Sozialpartnerschaft sind ohne die nationalsozialistische „Betriebsgemeinschaft" nicht zu verstehen; die spezifischen Ausprägungen des Antisemitismus und des Antiamerikanismus oder auch die Gleichzeitigkeit von Antikommunismus und Antiliberalismus in den Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus können ohne Reflexion auf die real gewordene Volksgemeinschaft vor 1945 nicht sinnvoll analysiert werden.

In der Nachkriegszeit wurden unter Postfaschismus in erster Linie personelle Kontinuitäten gefasst, also die massenhaft ungebrochenen Karrieren ehemaliger Nazis in der Demokratie, kaum jedoch strukturelles Fortleben. In den 1960er-Jahren kam es zu Diskussionen, in denen der Begriff des Postfaschismus etwas mehr an Konturen gewann. Man denke nur an einen der wohl am meisten gelesenen Aufsätze Theodor W. Adornos aus dem Jahr 1959: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit". Dort weist der Mitbegründer der Kritischen Theorie nachdrücklich darauf hin, dass er das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potenziell bedrohlicher erachte als das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie: „Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloss als Gespenst dessen, was so monströs war, dass es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern."1

Unterschiedlicher geschichtlicher Kontext

Der lange gebräuchliche Begriff Postfaschismus beinhaltet allerdings das Problem, dass der Nationalsozialismus zugunsten eines falsch verallgemeinernden Faschismusbegriffs verschwindet. Deshalb wird seit etwa zehn Jahren der Bezug auf das nazistische Erbe in den Vordergrund gerückt.2 Als Begriffe der Kritik zielen Postfaschismus und Postnazismus auf die modifizierte Fortsetzung faschistischer und nationalsozialistischer Ideen in der und durch die Demokratie und sind als positive Kategorien nicht denkbar. Sie beabsichtigen die Denunziation des aktuellen politischen Souveräns mittels des Hinweises, dass jeder Staat auf den Erfahrungen seines Vorgängers aufbaut; und sie kritisieren das gegenwärtige Massenbewusstsein als Ausdruck einer nicht oder falsch aufgearbeiteten Vergangenheit.

Selbstverständlich sind viele jener Entwicklungen, an denen mit dem Begriff des Postnazismus Kritik geübt werden soll, auch in anderen Gesellschaften als der deutschen und österreichischen zu beobachten. Gerade die Wahlerfolge rechtsextremer Parteien wie auch das erschreckende Ausmass eines sich als links begreifenden Israelhasses in anderen Ländern lassen es merkwürdig anmuten, die Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus gesondert zu behandeln. Der permanente Hinweis gerade deutscher und österreichischer Autoren und Autorinnen allerdings, an der Entwicklung in Österreich und Deutschland sei doch gar nichts besonderes, in anderen Demokratien gäbe es schliesslich auch Rassismus und Antisemitismus, blendet die unterschiedlichen Ausgangslagen bewusst aus.

Die Entwicklungen in zahlreichen, durchaus nicht nur europäischen Gesellschaften, verweisen zwar darauf, dass sich das, was in einem ideologiekritischen Sinne als „deutsch" bezeichnet werden kann, zusehends als verallgemeinerungsfähig erweist. Genau darauf zielen die relativierenden Einwürfe aber gerade nicht. Gegen die etablierte Rechtspopulismusforschung bleibt darauf zu beharren, dass ähnliche Entwicklungen schon auf Grund der unterschiedlichen historischen Bezüge nicht die gleiche Bedeutung haben. In Deutschland ist der Nationalsozialismus als massenhaft legitimierte Volksbewegung an die Macht gekommen, und die deutsch-österreichische Volksgemeinschaft hat gerade im zur Tat schreitenden Antisemitismus und im Vernichtungskrieg an der Ostfront zu sich gefunden. In den Niederlanden hingegen hat die Bevölkerung einen Generalstreik zum Schutz der holländischen Juden organisiert, und in Dänemark fanden gross angelegte Fluchthilfeaktionen statt, was aber selbstverständlich kein Grund ist, die massenhafte Kollaboration mit den Nazis, die es in fast allen europäischen Ländern gegeben hat, nicht ebenfalls zu thematisieren.

Anders ausgedrückt: Auch wenn die Aufhebung des Widerspruchs von Kapital und Arbeit in der Volksgemeinschaft und die Radikalisierung des Antisemitismus zum Massenmord an Juden und Jüdinnen, an einem imaginierten inneren wie äusseren Feind, allen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften als Möglichkeit innewohnt - in Deutschland und Österreich ist sie Realität geworden. Nationalismus bedeutet immer ideologische Affirmation von Kapitalproduktivität und Staatsloyalität. Der Nationalsozialismus impliziert zudem aber Vernichtung von Menschen um der Vernichtung willen: den in Auschwitz und vielen anderen Orten praktizierte, aufs Ganze gehende, industriell wie handwerklich betriebene, bürokratisch geplante und von der Welt hingenommene Massenmord.

Die Deutschen haben gemeinsam mit ihren „Hilfsvölkern" agiert, nicht zuletzt mit jenen Osteuropäern und Osteuropäerinnen, die sich redlich bemüht haben, sich in das deutsch-österreichische Vernichtungswerk zu integrieren, was seinen Widerhall heute unter anderem in Ungarn findet, wo die Nachfahren der Horthy-Faschisten an der Regierung sind und die Erben der Pfeilkreuzler-Nazis eine der wichtigsten Oppositionsparteien stellen.

Offener Antisemitismus in der arabisch-islamischen Welt

Doch wenn heute über Postnazismus geredet wird, darf nicht nur über die Nachfolgegesellschaften des Nazismus gesprochen werden: Eine global orientierte Kritik der postnazistischen Konstellation muss konstatieren, dass sich das Zentrum der offenen antisemitischen Agitation nach 1945 von Europa in den arabisch-islamischen Raum verschoben hat, in dem auch schon die Nazis hervorragende Beziehungen unterhalten haben.

Die Deutschen und ihre Verbündeten haben nicht nur bewiesen, dass rassistische Weltbeherrschungsfantasien und ein wahnhaft-projektiver antisemitischer Antikapitalismus zur Rettung des Kapitals bis zum industriell betriebenen Massenmord an der jüdischen „Gegenrasse" und zum rassistischen Vernichtungskrieg gegen die slawischen „Untermenschen" gesteigert werden kann, sondern auch, dass man dafür selbst nach der totalen militärischen Niederlage keine ernsthaften Konsequenzen zu befürchten hat. Danach kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, wie attraktiv eine derartig pathologische, sowohl mörderische als auch selbstmörderische Krisenlösungsstrategie für antisemitische Massenbewegungen und Banden in anderen Weltregionen sein musste und bis heute ist.

Weil das so ist, gilt es heute neben der unversöhnlichen Denunziation der „deutschen Zustände", von denen schon der junge Marx wusste, dass sie „unter dem Niveau der Geschichte" und „unter aller Kritik" sind,3 insbesondere jene Kollaboration Österreichs und des Rechtsnachfolgers des „Dritten Reiches" mit dem iranischen Antisemiten-Regime ins Visier zu nehmen, aus der dem Staat der Shoah-Überlebenden und ihrer Nachkommen eine existenzielle Gefahr zu erwachsen droht. Dass Israel mit dieser Gefahr weitgehend alleine gelassen wird und die Europäische Union sich beispielsweise bis heute weigert, die jihadistische Mörderbande Hisbollah oder die iranischen Pasdaran als Terrororganisation einzustufen, zeigt einmal mehr, dass die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus im heutigen Postnazismus zu Gedenkroutine und Erinnerungsrhetorik verkommen ist, aus der kaum Konsequenzen zur Bekämpfung des aktuellen ubiquitären Antisemitismus gezogen werden.

Anmerkungen

1 Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Bd. 10.2, Frankfurt am Main 1997, S. 554.

2 Einer breiteren Öffentlichkeit wurde der Begriff durch den 2003 erschienenen Band „Transformation des Postnazismus" bekannt, der 2012 in stark erweiterter und geänderter Fassung unter dem Titel „Postnazismus revisited" im ça ira-Verlag neu aufgelegt wurde.

3 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1988 [1844], S. 380.