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Sefirat HaOmer – zwischen Pessach und Schawuot

Schlomo HOFMEISTER

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Warum ist diese Nacht so anders als alle anderen Nächte des ganzen Jahres? Jedes Jahr stellen wir am Seder-Abend die berühmten vier Fragen bezüglich Matzot, Maror, des Eintauchens von Karpas und Maror sowie des Anlehnens während des Essens und Trinkens an diesem Abend. Es gibt aber noch eine Reihe weiterer Mitzwot an Pessach, über die man ebenfalls Fragen stellen kann, um sie besser zu verstehen.

Jedes Jahr am zweiten Tag von Pessach beginnen Juden auf der ganzen Welt mit der Mitzwa von Sefirat HaOmer - dem täglichen Mitzählen der insgesamt 49 Tage zwischen Pessach und Schawuot. Warum ist diese Mitzwa anders als alle anderen Mitzwot des ganzen Jahres?

Alle anderen Mitzwot von Pessach werden entweder am Vorabend von Pessach erfüllt, wie das Verbrennen des Chametz oder - zu Zeiten des Jerusalemer Tempels - das Schlachten des Pessach-Lamms beziehungsweise mit Beginn des Feiertags wie die Mitzwot des Pessach-Seders, die Erzählung vom Auszug aus Ägypten und das Essen von Matzot, Maror und das Trinken der vier Becher Wein. Aber warum beginnt die Mitzwa von Sefirat HaOmer erst am zweiten Abend von Pessach?

Alle anderen Mitzwot der verschiedenen Feiertage sind explizit mit der Erwähnung eines bestimmten Datums geboten. Warum erwähnt die Tora aber die Mitzwa von Sefirat HaOmer nur mit der indirekten Datumsangabe, nämlich „am Tag nach dem Feiertag", also dem Tag nach dem 15. Nissan, und nennt nicht explizit als Datum den 16. Nissan?

Es gibt auch andere Mitzwot, die etwas mit Zeit und Zeitrahmen zu tun haben, aber weder die sieben Tage, die eine Frau zählen muss, bevor sie in die Mikwe geht, noch die acht Tage von Chanuka oder die zehn Busstage von Rosch HaSchana bis Jom Kippur zählen wir jeden Tag laut. Warum müssen wir die 49 Tage der Omer-Zeit aber jeden Abend laut zählen und sogar jedes Mal dazu eine Bracha machen?

Die von der Tora gebotenen Opfergaben zu den verschiedenen Feiertagen bestehen normalerweise aus Lebensmittleln, die durch menschlichen Einsatz erzeugt oder verarbeitet werden müssen, wie beispielsweise Brot, Fleisch und Wein - Dinge, die auch für ein königliches Festmahl geeignet wären. Warum besteht das Omer-Opfer aber nur aus einfacher, roher Gerste, wie sie auch als Viehfutter verwendet wird?

  

Jeder der 49 Tage ist eine Stufe

Die Antwort zu diesen Fragen finden wir in der eigentlichen Bedeutung jenes Zeitraums zwischen Pessach und Schawuot, diesen sieben Wochen, also den 49 Tagen, die wir täglich zählen, um uns vor Augen zu führen, wie weit wir nach der Befreiung aus der Sklaverei noch von der Offenbarung am Berg Sinai entfernt sind. Unsere Weisen erwähnen in diesem Zusammenhang die 49 spirituellen Stufen, auf die unsere Vorfahren in den Jahren der ägyptischen Knechtschaft herunter gesunken waren - auf die vorletzte von insgesamt 50, welche deren unwiederbringliche Assimilation bedeutet hätte. Seit jeher, in jeder Generation, wenn wir am Seder-Abend die Haggada lesen, sollen wir die damaligen Ereignisse unserer Vorfahren nachempfinden, als ob wir selbst in jener Nacht aus Ägypten befreit worden wären.

Und so, wie die Euphorie, ausgelöst durch jene dramatischen Ereignisse dieser Nacht, unsere Vorfahren damals motivierte, sich tatsächlich vorzunehmen, die 49 Stufen wieder zu erklimmen, so liegen auch für uns am Seder-Abend die guten Vorsätze in greifbarer Nähe. Eigentlich fühlen wir uns in dieser Nacht schon bereit, am Berg Sinai zu stehen. Doch am nächsten Tag, wenn es um die tatsächliche Umsetzung der Reiseplanungen geht, kommt die Ernüchterung. Es ist ein weiter Weg ins Ungewisse, durch die Hitze trockener Wüstenlandschaften, auf dem wir die Ernsthaftigkeit unserer Vorsätze erst noch beweisen müssen. Auch unsere Vorfahren beschwerten sich bei Mosche und wollten wieder umkehren. Der Seder-Abend ist wie ein Katalysator, der uns motiviert aufzubrechen, aber der Weg zum Berg Sinai erfordert unsere eigene Anstrengung, um ihn besteigen zu können.

Die Sefira, das tägliche Zählen jedes einzelnen der 49 Tage zwischen Pessach und Schawuot, beginnt daher genau an diesem Tiefpunkt und soll uns jeden Tag daran erinnern, die Richtung beizubehalten und uns nicht durch die Angelegenheiten des Alltags vom Weg abbringen oder gar aufzugeben zu lassen. Jeder Tag, den wir in vollem Bewusstsein seiner Bedeutung zählen sollen, steht für eine Stufe auf dem Weg zum Berg Sinai und verdient seine eigene Bracha. Am Beginn der Sefira steht das erwähnte Omer-Opfer aus Gerste, passend zu unseren tierischen Instinkten der 49sten Stufe, die es jedoch in der Entwicklung unseres Charakters zu überwinden gilt. Am Ende stehen die zwei Brote, die Opfergabe von Schawuot, die bewusst verarbeiteten Rohstoffe, als Symbole der menschlichen Nahrung.

Für uns kann der Seder-Abend heute tatsächlich die gleiche Bedeutung haben wie die Nacht der Befreiung für unsere Vorfahren, für die damit die 49-tägige Wanderung zur Offenbarung am Berg Sinai begann. Jeder Tag war beschwerlich und stellte eine persönliche Herausforderung dar. Jeder Tag zählt auch für uns, und daher zählen wir jeden Tag, bis wir wieder am Berg Sinai stehen, und sagen „Naaseh veNischmah" - wir werden die Tora befolgen und lernen!