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„Die meisten Länder machten ihre Grenzen für jüdische Flüchtlinge dicht“

Kerstin KELLERMANN

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Adolf Eichmanns „Zentralstelle für jüdische Auswanderung" organisierte die Vertreibung der Juden aus Österreich. Bis heute ist es ein Tabu, dass eine weitaus grössere Zahl von jüdischen Flüchtlingen hätte gerettet werden können, wenn mögliche Aufnahmestaaten nicht gerade zu diesem Zeitpunkt ihre Grenzen dicht gemacht hätten. Bertold Storfer brachte trotz aller Widrigkeiten noch Schiffe voller Menschen aus dem Deutschen Reich heraus, wie die Autorin und Wissenschafterin Gabriele Anderl im Gespräch mit DAVID erläutert.

DAVID: Wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass der jüdische Geschäftsmann Berthold Storfer mit Adolf Eichmann in der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung" zusammenarbeitete?

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Berthold Storfer in Karlsbad,
Foto: privat.

Gabriele Anderl: Berthold Storfer hatte als Finanzexperte und Geschäftsmann schon 1938 verschiedenen NS-Stellen in Wien angeboten, die jüdische Auswanderung zu organisieren. Im August 1938 gründete Adolf Eichmann die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung". Als Eichmann bemerkte, dass die Zionisten ihr eigenes Süppchen kochen, beauftragte er Storfer schon 1939, deren Transporte zu überwachen und eigene zu organisieren. Hinzu kam, dass die jüdische Gemeinde zwar in die Finanzierung der Transporte involviert war, es aber zu heikel für sie war, sich offiziell mit illegalen Transporten zu befassen. Es sollte nach aussen hin so aussehen, dass die Gemeinde damit nichts zu tun hätte.

Storfer agierte nicht selbständig, sondern konnte überhaupt nur unter der Aufsicht Eichmanns arbeiten. Eichmann war die massgebliche Instanz in Sachen Vertreibung. Eine ganz wichtige Methode, um seine Ziele umzusetzen, war eben die Instrumentalisierung der gesamten jüdischen Gemeindeleitung und der jüdischen Funktionäre, was immer bedeutet hat, dass diese die organisatorische Arbeit gemacht haben. Eichmann kümmerte sich nicht um Einwanderungsmöglichkeiten oder die Beschaffung von Schiffen, das mussten die Verfolgten selbst leisten. Die Funktionäre der Kultusgemeinde und der jüdischen Organisationen sahen keine Handlungsalternative. Die jüdische Bevölkerung war entrechtet, ihrer materiellen Lebensgrundlage beraubt und innerhalb der Gesamtbevölkerung völlig isoliert, sie hatte keinerlei Schutz und Hilfe zu erwarten, und insofern war das wahrscheinlich wirklich die einzige Option und sie haben möglichst alles getan, um möglichst viele Leute herauszubringen. Es gab natürlich  massiven Druck: Es funktionierte so, dass Eichmann der Gemeindeleitung regelmässig gesagt hat, in einem gewissen Zeitraum muss eine bestimmte Anzahl von Menschen ausgewandert sein. Insofern verschleiern Kollaborationsvorwürfe die Machtverhältnisse. Doron Rabinovici hat die Zwangslage der jüdischen Führung in seinem Buch „Instanzen der Ohnmacht" präzise analysiert.

Storfer konnte doch zu dem frühen Zeitpunkt noch nicht wissen, dass es zum industriell betriebenen Massenmord kommen wird? 

Nach dem „Anschluss" Österreichs wurde schnell klar, dass es den Nazis um die systematische Vertreibung der jüdischen Bevölkerung ging, kombiniert mit der vollständigen materiellen Beraubung. Es gab viele jüdische und nicht-jüdische Gruppierungen und Einzelpersonen, die Konzepte für die kollektive jüdische Auswanderung entwarfen - auf nichtjüdischer Seite vor allem aufgrund von Antisemitismus und aus Geschäftsinteresse. Zum Beispiel der Wiener Trabrennverein tat sich hervor - der war damals ganz eindeutig antisemitisch eingestellt. Ob bei Storfer selbst der Rettungsgedanke im Vordergrund stand oder ob er vor allem etwas von seinem Einfluss oder Vermögen retten wollte, wissen wir nicht. Ich habe in den Quellen keine Hinweise gefunden, die das wirklich klar machen würden. Die Situation war paradox: Die SS hat die zionistische Auswanderung gefördert, weil sie die Juden loswerden wollte. Aber sie merkte natürlich, dass die Zionisten eigene Ziele verfolgten, einen Staat gründen und vor allem den Jungen, Gesunden und Wehrfähigen zur Auswanderung verhelfen wollten. Die SS wollte auch die Alten, Kranken und Menschen, die in Dachau und Buchenwald inhaftiert waren, in grossem Stil loswerden. Sie erwartete von Storfer, dass er alle diese Menschen auf die Schiffe pfercht. De facto unterschieden sich die Transporte, die die Zionisten organisiert haben, und die, die Storfer machte, nicht so stark voneinander. Auch die Zionisten mussten Leute mitnehmen, die grössere Summen bezahlen konnten, und sie waren ebenfalls nicht in der Lage, immer ihren Prinzipien treu zu bleiben. Alle wussten, dass es eine Zwangslage war. Und warum hätten Alte und Kranke nicht gerettet werden sollen?

Wie haben Sie denn alle diese Einzelheiten über Storfers Schiffe herausgefunden?

Die Beschäftigung mit Storfer resultiert aus meiner langen Beschäftigung mit dem Thema „Flucht aus Österreich" während des Nationalsozialismus. Auf vier Donaudampfern und drei Hochseeschiffen organisierte Berthold Storfer 1939 und 1940 den grössten illegalen Transport nach Palästina während der NS-Zeit. Zur Organisation dieses Transportes gibt es einen Aktenbestand, der sich in den „Central Archives for the History of the Jewish People" in Jerusalem befindet. Storfers Aktentasche voll mit Dokumenten wurde erst vor etwas mehr als zehn Jahren von der Historikerin Evelyn Adunka in einem Wiener Depot der Kultusgemeinde entdeckt. Storfer verfasste regelmässig Mitteilungen für die Leitung der Kultusgemeinde und für Eichmann und die Zentralstelle für jüdische Auswanderung, die über jeden seiner Schritte genau informiert sein wollten. Ich fand neben zahlreichen anderen Dokumenten noch einen Strafprozess gegen Storfers Schwager Josef Goldner, der wie die ganze Familie für Storfer arbeitete - schon vorher in seinem Bankhaus. Goldner ging wegen der Organisation der Transporte nach Rumänien, kehrte dann aber ins Deutsche Reich zurück, was seltsam ist, denn Juden, die das Reichsgebiet verlassen hatten, durften normalerweise nicht mehr wiedereinreisen. Storfers Schwager kehrte also in das nationalsozialistische Österreich zurück, mit dem Projekt, in die USA auszuwandern. Im Rahmen des Prozesses wird Goldners Arbeit für Storfers „Ausschuss für jüdische Überseetransporte" aufgerollt und deutlich, inwieweit Storfers Verwandte an den Transporten mitgewirkt haben.

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Foto: privat.

Sie arbeiten in Ihrem Buch den Druck, unter dem Storfer auch von zionistischer Seite stand, deutlich heraus.

Die zionistischen Organisationen, die selbst Flüchtlingstransporte organisierten, empfanden Storfer, der Jude, aber kein Zionist war, als massiven, arroganten Konkurrenten. Einzelne haben später ihre Memoiren geschrieben, was Storfer nicht tun konnte, weil er in Auschwitz erschossen wurde. Die anderen stehen heute als Helden da, während er als Kollaborateur und Verräter gebrandmarkt wurde. Es gab die-se Feindseligkeit gegenüber einem Konkurrenten in Bezug auf die wenigen in Frage kommenden Schiffe. Storfer wurde ihnen vor die Nase gesetzt, um sie zu kontrollieren - und mit einem entsetzlichen Hass sind sie auf ihn losgegangen. Sie versuchten auch, seine organisatorischen Bemühungen zu hintertreiben, indem sie Geldüberweisungen blockierten, was für die Menschen ganz katastrophale Folgen hatte. Storfer war extrem gekränkt, er sprach von „zündelnden Handlungen" seiner zionistischen Gegner. Deren Vorwurf, dass er sich mit den Transporten bereichert habe, entbehrt, so weit aus den Akten ersichtlich ist, jeder Grundlage. Auf der anderen Seite hatte Storfer dieses Büro in der Rotenturmstrasse. Es gibt schöne Berichte über das, was sich dort abgespielt hat. Dass es gewaltsam von verzweifelten Menschen gestürmt wurde, weil es um das nackte Überleben ging, dass Storfer selbst nie erreichbar war, weil er eben so beschäftigt war. Aber er wies seine Verwandten  und andere Mitarbeiter an, trotz allem eine gewisse Ordnung beizubehalten.

Aber finanziell ist es sich gar nicht ausgegangen - Storfer musste doch Geld für den Transport auftreiben?

Die Kosten der Reise sind richtiggehend explodiert. Im Juni 1940 begann der Krieg im Mittelmeer, die Fahrten auf den ausgedienten, überfüllten Dampfern wurden noch gefährlicher. Schiffseigentümer, Kapitäne und Mannschaft wussten auch, dass die Beschlagnahme der Schiffe drohte, dass alle eingesperrt werden können, weil sie in illegale Unternehmungen involviert sind. Viele nutzten die Lage dazu, den fünf- bis zehnfachen Lohn zu verlangen. Die Donaudampfschifffahrtsgesellschaft nutzte völlig skrupellos die Situation aus, das ist sehr schön dokumentiert durch viele anklagende Briefe. Storfer beklagte sich ständig, sowohl bei der jüdischen Gemeinde als auch bei der Zentralstelle - vor allem über diese Eigenmächtigkeiten der DDSG. Die Briefe sind schon sehr spitz, aber dezent und gewählt formuliert - stilistisch finde ich Storfer souverän.

Aber die Warterei hatte auch die Konsequenz, dass Leute wieder zurück ins KZ mussten!

Ja, furchtbar. Der Transport verzögerte sich um mehr als ein halbes Jahr, es verschärfte sich die gesamte Situation. 

Was bedeutete eigentlich Illegalität in diesem Zusammenhang?

Die Ausreise aus dem Deutschen Reich war in dieser Phase legal, von den Nazis erzwungen und gewollt. Wenn die Menschen ihre „Steuerunbedenklichkeitserklärung" hatten und ihr Vermögen zurückblieb, sollten sie verschwinden. Die Illegalität bezieht sich auf die Einreise in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina. Die Briten hatten 1917 in der Balfour-Erklärung versprochen, die Errichtung einer jüdischen Heimstätte zu fördern. Aber sie hatten geopolitische Interessen im Nahen Osten, die Ölfelder, den Suezkanal, und sie wollten, vor allem während des Krieges, keine Probleme mit dem arabischen Widerstand gegen die jüdische Einwanderung. Also wurde mit dem Weissbuch vom Mai 1939 die legale Einreise auf ein Minimum reduziert.

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Foto: privat.

Hatten diese Ereignisse auch damit zu tun, dass sonst niemand jüdische Flüchtlinge aufnahm, oder war die zionistische Bewegung so stark?

Obwohl es in Deutschland und Österreich vor der NS-Zeit viele zionistische Organisationen gab, war die Bereitschaft, tatsächlich nach Palästina auszuwandern, gering. Nur einige verhältnismässig kleine, radikale Jugendorganisationen setzten sich konsequent dafür ein. Der Grossteil der Zionisten beschränkte sich vor 1938 darauf, das Aufbauwerk in Palästina ideell zu unterstützten, Geld zu spenden und vielleicht etwas Hebräisch zu lernen. Nach dem „Anschluss" sah sich die jüdische Bevölkerung zur Flucht gezwungen, aber die meisten Länder machten ihre Grenzen dicht! Befragungen unter Israelis österreichischer und auch deutscher Herkunft haben gezeigt, dass sehr viele von ihnen erst durch den Nationalsozialismus zu Zionisten geworden sind.

Aber gibt es nicht ein gewisses Tabu dahinter?

Was das Verhalten der übrigen Welt betrifft: Es ist bis heute ein gewisses Tabu, darauf hinzuweisen, dass viel mehr Verfolgte hätten gerettet werden können, wenn sich die potentiellen Zufluchtsländer anders verhalten hätten. Und die Zahl der Überlebenden wäre ohne massive illegale Einwanderung auch in die Schweiz, nach Belgien, Frankreich und andere Länder, ohne die Zuhilfenahme von „Schleppern", wesentlich geringer gewesen.

Die Konferenz von Evian stand gewissermassen am Anfang der modernen Ausländergesetzgebung und dem Prinzip, dass man nur bestimmte Ausländer aufnehmen möchte. In Evian haben die 32 teilnehmenden Länder unisono bekräftigt, dass sie zwar gerne jüdische Flüchtlinge aufnehmen würden, aber nicht könnten. Aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen oder weil sie, so sagten einige, mit den jüdischen Flüchtlingen nicht den Antisemitismus importieren wollten. Die Konferenz ist eigentlich einberufen worden, um den Flüchtlingsstrom in geordnete Bahnen zu lenken, aber de facto wiesen die Folgen der Konferenz in die gegenteilige Richtung: Es ist zu immer mehr illegalen Grenzübertritten gekommen. Storfer war auch dort, aber das ist bis heute nicht wirklich klar, welche Rolle er gespielt hat.

Wieso kassierte die Donaudampfschiffsfahrtsgesellschaft im Zusammenhang mit den Flüchtlingstransporten so viel Geld?

Die DDSG gehörte nach dem „Anschluss" zu den Hermann-Göring-Werken und verschaffte sich ein Monopol über die Donauschifffahrt. Obwohl sie das aufgrund der Preisstoppverordnungen gar nicht durfte, verlangte sie für den Transport jüdischer Flüchtlinge zum Donaudelta horrende Preise. Franz Xaver Schötz hiess der Direktor, er war natürlich Parteimitglied. Die DDSG wurde vor einigen Jahren privatisiert und übergab den Rest ihrer Aktenbestände dem Österreichischen Staatsarchiv. Allerdings soll vorher ein Teil auf einem eigens veranstalteten Flohmarkt abverkauft worden sein! Was auch noch wichtig ist: Die Vertreibung der Juden wurde mit jüdischem Vermögen finanziert. Einerseits mit dem der Vertriebenen, zum anderen mussten ausländische jüdische Hilfsorganisationen wie der US-amerikanische „Joint" enorme Summen zur Verfügung stellen. Die jüdische Auswanderung wurde im Herbst 1941 verboten, doch schon nach Kriegsbeginn 1939 war die Flucht immer schwieriger geworden, weil durch die Expansionspolitik des Deutschen Reiches immer mehr Transitwege abgeschnitten waren. Die USA und Grossbritannien nahmen jeweils ungefähr 30.000 Flüchtlinge aus Österreich auf.

Storfer hat ja dann in Auschwitz noch mal mit Eichmann geredet. Wie war ihr Verhältnis?

Es gibt keine Zeugnisse mehr über Storfer im Archiv der Gedenkstätte in Auschwitz. Storfer wurde nicht in die Gaskammer geschickt, sondern einem Arbeitskommando zugeteilt. Eichmann berichtete während seines Prozesses in Jerusalem sehr zynisch, dass er Storfer auf dessen Wunsch in Auschwitz besucht habe. Storfer habe sich bei ihm beschwert, dass ihm die Arbeit so schwer falle, worauf er, Eichmann, gesagt habe: Arbeiten müsse Storfer nicht, denn der sei immer ganz ordentlich gewesen. Er fügte noch hinzu, dass Storfer nie Verrat am Judentum begangen habe ... Wann genau Storfer in Auschwitz erschossen worden ist, wissen wir nicht. Interessant ist der Altersunterschied: Eichmann war ein junger Schnösel, Storfer ein distinguierter bürgerlicher Herr über 60.

Frau Anderl, herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Literatur:

Gabriele Anderl (2012): 9096 Leben. Der unbekannte Judenretter Berthold Storfer, mit einem Vorwort von Arno Lustiger, Rotbuch Verlag.