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Benjamin Murmelstein, der Letzte der Ungerechten

Tina WALZER

Content

Benjamin Murmelstein organisierte für Adolf Eichmann die Deportationen aus Wien, überlebte als Judenältester des Konzentrationslagers Theresienstadt1 die Schoa und verbrachte, ausgestossen aus der jüdischen Gemeinschaft, in Rom eine Art innerjüdisches Exil. Claude Lanzmann führt den Wiener Rabbiner mit viel Respekt und Einfühlungsvermögen als gestrandeten Menschen vor.

Ein alter und ein junger Mann sitzen auf einer Terrasse, im Hintergrund das Panorama der Ewigen Stadt, Rom. Farben und Kleidung verweisen auf 1975. Gegenwarts-Sequenzen unterbrechen das Gespräch, die im Interview erwähnten Schauplätze werden erläutert: Ein Bahnsteig in der Tschechischen Republik, Bohusovice nad Ohri, 2013. Der Zug fährt ein, Lautsprecherdurchsagen, der Zug fährt ab, Menschen sind ausgestiegen, bleiben zurück. Zwischen ihnen steht der Filmemacher Claude Lanzmann. 140.000 Juden wurden hier so antransportiert in der Schoa, erläutert er. Der 88-Jährige bringt den Zuseher vom Bahnsteig weg ins nahegelegene Terezín. Beschwerlich ist ihm der Aufstieg über die Treppen der einstigen mariatheresianischen Kaserne zu einem heute leeren Dachboden. Mit zitternder Hand liest Lanzmann seine Gedanken und Gefühle zu dem einstigen Schlafsaal des KZs von einem Blatt in die Kamera, erweckt über die gezeigte Ergriffenheit Mitgefühl mit den einst hier Internierten. Der Regisseur wird zu seinem eigenen Hauptdarsteller. Selbst Teilnehmer an Partisanenkämpfen in Frankreich, nimmt er eine klare Position ein. Sichtlich auf der Suche nach seiner jüdischen Identität, führt er den Zuseher in die Tiefe der folgenden Erzählungen. Beinahe vier Stunden Abtauchen in Benjamin Murmelsteins Erleben der Schoa bedeutet der Film, und keine Minute wird zu lang.

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Claude Lanzmann erläutert auf dem Bahnsteig von Bohusovice nad Ohri dieTransporte ins KZ Theresienstadt. Filmszene aus Le Dernier des Injustes, 2013. Mit freundlicher Genehmigung VIENNALE, Wien.

Le Dernier des Injustes

Le Dernier des Injustes, so der Titel des bei der VIEN-NALE 2013 gezeigten Streifens im Original, folgt jenem eines französischen Romans aus dem Jahr 1959, Le Dernier des Justes. Der französisch-jüdische Autor André Schwarz-Bart kreist um die Frage der Opferrolle von Juden, der jahrhundertelangen Geschichte der Judenverfolgungen und der Identifikation mit dem Leiden der Opfer, zu einer Zeit, als über Einzelschicksale während der Schoa noch so gut wie nichts einer breiteren Öffentlichkeit bekannt war. Das Buch wurde ein internationaler Bestseller. Dessen Fragestellungen bewegten ganz offensichtlich Claude Lanzmann immer noch, als er das Material jenes Interviews mit dem Wiener Rabbiner Benjamin Murmelstein, das er im Zuge der Arbeit an seinem epochalen Film Shoa geführt, aber dort letztlich nicht verwendet hatte, 38 Jahre danach doch noch zu einem eigenständigen filmischen Kunstwerk umgestaltete. Die jüdische Legende von den 36 Gerechten (hebr. lamed-waw zadikim), die zu allen Zeiten leben und deren anonym ausgeführte gute Taten das Fortbestehen der Welt erst ermöglichen, findet sich auch im Konzept der israelischen Schoa-Gedenkstätte Yad Vashem mit ihren Gerechten unter den Völkern. Lanzmanns Protagonist aber ist einer jener jüdischen Männer, die in der Schoa die fragwürdige und vieldiskutierte Rolle von Handlangern des NS-Regimes bei der Judenvernichtung spielten. Während seine Zeitgenossen Murmelstein äusserst negativ beurteilt haben, ist die neuere Fachliteratur von dem Bemühen gekennzeichnet, den Ohnmachts-charakter seiner Position herauszustreichen. In der Schluss-Sequenz des Filmes wandern Lanzmann und Murmelstein in freundschaftlicher Umarmung aus dem Bild. Wer war Benjamin Murmelstein? Um diese Frage kreist der Film, und um sie kreisen auch die Gedanken des Zusehers, der nach Vorstellungsende mit dem verstörenden Gefühl zurück bleibt, eben etwas Ungeheuerliches miterlebt zu haben. Ein Organisator der Deportationen als jüdisches Opfer, ein Überlebender, vom Regisseur in seinen pathologischen psychischen Erscheinungsbildern ohne jedes Mitleid gezeigt. Für Trauer bleibt hier wenig Raum, und wo sie stattfinden kann, ist sie vom Regisseur inszeniert.

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Claude Lanzmann (li) und Benjamin Murmelstein in Rom 1975. Schluss-Sequenz des Filmes Le Dernier des Injustes, 2013. Mit freundlicher Genehmigung VIENNALE, Wien.

Keine Dokumentation

Benjamin Murmelstein macht es seinem Publikum schwer, für ihn Sympathie zu entwickeln. Er wirkt arrogant, machtbewusst, selbstgerecht. Seine lächelnde Unnahbarkeit irritiert. Die Sinnfrage der Schoa-Überlebenden vermittelt Murmelstein in einem Überlegenheitshabitus, der fatal an NS-Sprüche erinnert. Und doch, der Mann ist gebrochen, trägt sein mühsam konstruiertes Selbstbild eines Retters strauchelnd vor sich her, allzu sichtbar ist die Fragilität dieses schwankenden Gebäudes der Illusionslosigkeit. Er flüchtet zu antiken Mythen, um sich die Benennung des Unsagbaren, der Mechanismen der Vernichtung zu ersparen. Der Interviewte ist vor allem bemüht, jeder negativen Wertung zu entgehen. Doch das konstruierte Erinnern erweckt tiefes Unbehagen. Bei den wenigen gezeigten Gefühlen dominiert Stolz darauf, ein effizienter Organisator gewesen zu sein. Wie zufrieden Eichmann mit ihm war. Er, der Eichmann nach eigenen Aussagen so gut kannte wie keiner sonst. Handwerklich perfekt, entzieht Lanzmann sich selbst, aber auch seinen Protagonisten der Beurteilung. Unaufgelöst bleibt die Ambivalenz zwischen den zur Schau gestellten Monstrositäten in Murmelsteins Selbstdarstellung und Lanzmanns Sympathie mit ihm, sein Bemühen, ihn als Opfer zu verstehen. Der Film polarisiert gerade in seinem harmoniebetonten Ende, auch wenn dies der Symmetrie des Werkes entgegenkommt, schliesslich spielt der Regisseur die zweite Hauptrolle. Lanzmann greift als Interpret ein, bildet ein emotionales Gegengewicht zu Murmelstein, erzeugt Betroffenheit, wo diese durch die Eitelkeit des Protagonisten verstellt wird. Zu Recht beharrt Lanzmann auf dem Kunstcharakter seines Werkes, dies ist keine Dokumentation.

Der Regisseur lässt im Interview mit DAVID offen, ob er den Wiener Rabbiner für einen guten oder bösen Menschen hält, er bekennt lediglich, dieser habe ihn getroffen, mit seiner Intelligenz und seinem grossen Wissen, ja, seinem Humor, er sei aber kein Held für ihn.2 Fragen zu Murmelsteins Rollenverständnis wie zu seinem Verhältnis zum jüdischen Religionsgesetz, etwa in Zusammenhang mit den rassekundlichen Exhumierungen auf dem jüdischen Friedhof Währing, die dieser aktiv unterstützte, bleiben unbeantwortet. Der Filmemacher hat sich ausschliesslich auf die vom Interviewten selbst angeführten Ereignisse und auf dessen Perspektive konzentriert. Murmelsteins Tätigkeit in einem weiteren Kontext bleibt damit zwangsläufig ausgeblendet, und deren umfassende Beurteilung steht weiterhin aus.3

  

1   Heute Terezín, Tschechische Republik. Aus drucktechnischen Gründen muss auf die Wiedergabe diakritischer Zeichen verzichtet werden.

2   Interview mit Claude Lanzmann, Wien, 28.10.2013.

3   Das Interview-Material bietet hochinteressante Einblicke in die Geschichte der Wiener jüdischen Gemeinde während der NS-Zeit und verdient eine gründliche Aufarbeitung. Mittlerweile hat sich ein ganzes Buch anhand des Interviewmaterials an der Funktion von Murmelstein als Judenältester abgearbeitet; das Interviewmaterial ist im United States Holocaust Memorial Museum in Washington  aufbewahrt und benutzbar: Lisa Hauff, Zur politischen Rolle von Judenräten. Benjamin Murmelstein in Wien 1938-1942. Göttingen: Wallstein Verlag 2014.

  

Die 52. VIENNALE findet von 23.10. bis 06.11.2014 statt, Informationen: Vienna International Film Festival, www.viennale.at