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Im August wird der bekannte russisch-deutsche Künstler Nikolai Estis 80 Jahre alt. Er blickt auf die aufregende und bewegte geprägte Biographie eines Avantgardekünstlers zurück: Als Kind erlebte er den Kriegsbeginn, verbrachte die Jahre des Kriegs in der Evakuation in Baschkirien, wuchs in der antisemitisch geprägten Ukraine der Nachkriegszeit auf, erfuhr als nicht systemkonformer Künstler in der Sowjetunion Verfolgung und Repression, emigrierte später nach Deutschland. Heute geniesst sein Schaffen im deutschsprachigen Raum, in Russland und international hohe Anerkennung. Im Folgenden soll hier einer seiner eindrücklichsten Texte wiedergegeben werden.
Nikolai Estis
Gibt es den ›jüdischen Künstler‹? (1991)
Als ich in den 60-er Jahren begann, graphisch zu arbeiten, habe ich figurative, darstellende Blätter gemacht und zeichnete auch zu jüdischen Themen. Die Welt dieser Arbeiten ist recht beklemmend. Den Hauptinhalt meiner inneren Leidenschaften bildeten offenbar meine Kindheitserlebnisse, welche durchweg verbunden waren mit meiner jüdischen Herkunft und mit dem Leben im ukrainischen Schtetl der Kriegs- und Nachkriegsjahre. Hier drehten sich alle Gedanken um Krieg, Pogrome und Vernichtung. Obwohl ich selbst weder Krieg noch Pogrome jemals unmittelbar erlebt habe, spüre ich auf mir doch die Prägung der nationalen Erniedrigung. Fortwährend die eigene Nationalität schmerzlich empfinden zu müssen - auch das ist schon ein Pogrom.
Nikolai Estis, »Gespräch«, Blei auf Papier, 1971.
Die Schwarz-Weiss-Graphik ermöglichte mir, innere Dramatik und Leid zu vermitteln. Tusche und Papier sind geschmeidige, demokratische Materialien, und der Weg vom Erlebnis zur Darstellung ist hier kurz: Dein Gefühlszustand kann sich auf der Fläche sofort verwirklichen.
An einem bestimmten Punkt fragte ich mich: Was ist eigentlich Schmerz? Was ist Leid? Wenn ich Leid vermittels einer menschlichen Gestalt zum Ausdruck bringe, warum verleihe ich diesem Leid jüdische Gesichtszüge? Hat dieses Leid bei einem Spanier, einem Chinesen etwa keine Nationalität? Es muss also mein Ziel sein, die Kunst von den konkreten Merkmalen des jeweilgen Ortes, der Zeit, der Nationalität wie der Psychologie der Figuren zu läutern, damit der Zustand des Leidens allein über die Plastik wiedergegeben werde.
Nikolai Estis, »Menschenzug«, Blei auf Papier, 1971.
Ich erkannte, dass eine graphische oder malerische Komposition gerade dann viel mehr Gram in sich zu fassen vermag, wenn sie von jeglicher Bindung an das Konkrete befreit ist.
Als ich an einer Serie von Lithographien arbeitete, die sich Motiven aus Gedichten von Federico García Lorca widmet, versuchte ich über das Leid der Menschen zu sprechen, ohne das Thema durch irgendwelche nationalen Grenzen zu verengen.
Nikolai Estis, aus dem Zyklus »Babylon«, Tempera auf Leinwand, 1990.
Diese Serie war meine letzte Arbeit im Bereich der Schwarz-Weiss-Graphik. Ich fühlte, dass zwei Farben mir nicht ausreichten. Mehrfarbige Arbeiten entstanden, und seit 1974 arbeite ich nur noch mit Farben.
Die Malerei begann sich in mir zu entwickeln aus innerer Unruhe; sie wurde für mich zu einer anderen Methode, auf der Fläche zu reflektieren - nicht mehr so geradlinig und lakonisch. Das malerische Element entspricht in höherem Masse meinem Temperament, drückt meinen inneren Zustand treffender aus.
Nikolai Estis, »Helles Judenhaus: Sie setzten meine Mutter bei« (P. Mandelstam), Tempera auf Leinwand, 1999.
Gleichzeitig versuchte ich das Konkrete in meinen Arbeiten loszuwerden. Ich fürchtete mich vor dem übermässig Illustrativen nicht weil es an sich schlecht wäre, sondern weil unsere Sprache, die Sprache der Plastik und der Farben, keine Hilfe von irgendwelchen benachbarten Genres voraussetzt. Ob es dir gelingt, einen seelischen Zustand zu vermitteln, hängt davon ab, wie du mit der Farbe, mit der Fläche arbeitest - davon, was du erreichen kannst, indem du allein die malerische Sprache bemühst, ohne zu literaturähnlichen oder anderen Mitteln zu greifen.
Als Künstler bevorzuge ich es, über das Leid, über die Liebe, über das innere Leben eines jeden von uns zu sprechen, ohne mich auf die professionelle, nationale oder sonstige Erfahrung des Betrachters zu stützen. Die Erfahrung ist zweitrangig, das Seelenleben manifestiert sich nicht in materieller Gestalthaftigkeit und benötigt keine Illustration.
Nikolai Estis, aus dem Zyklus »Kompositionen«, Tempera auf Papier, 1989.
Ich bin dafür, dass Zustände des Leids, der Freude, der Liebe allein mit innerkünstlerischen Mitteln zum Ausdruck gebracht werden - das bereichert sowohl den Künstler als auch den Betrachter. Über die Malerei erlangt der Mensch etwas, das er sonst nicht erlangen könnte.
Jeder von uns ist zur Aufnahme von Malerei fähig, darin sind wir alle gleich. Aber bei vielen Menschen bleibt diese Fähigkeit unausgeprägt. Von Kind auf wird dem Menschen beigebracht, Malerei als Illustration zu diesem oder jenem historischen oder literarischen Motiv zu verstehen. Als Ergebnis entwickelt sich die Seele nicht, sondern sie verarmt.
Und nur im Zustand der Verliebtheit, des Leidens, sobald man über die Alltäglichkeit hinausgelangt, hört der Mensch auf, in der gegenständlichen Welt zu leben, und wird empfänglich für Kunst, Schmerz, Tragödie. Dann erschliessen sich im Innern des Menschen geradezu grenzenlose Möglichkeiten.
Nikolai Estis, aus dem Zyklus »Engel«, Tempera auf Papier, 1983.
Das Leiden ist ein besonderer Zustand der Seele, welches sie Gott gegenüber öffnet. Im Leiden und Mitleiden beginnt der Mensch, sich als Teil des Alls zu fühlen, er fühlt den Schmerz alles Lebendigen. Deshalb muss sich die Seele des Künstlers in ständiger Bereitschaft befinden, muss fein sein, fähig, schon eine minimale Schwingung der Aussenwelt zu erspüren und zu erwidern. Und diese Kunstseele bedarf eines folgsamen und von Beschränkungen freies Instruments für den Ausdruck seiner selbst. Das heisst: die Hand muss völlig frei sein, nicht eingeengt von irgendwelchen Aufgaben, Ideen oder literarischen Vorstellungen. Allein die freie Handbewegung vermag die Freiheit seelischer Regungen darzustellen, jener Ströme, die der Künstler wahrnimmt.
In alten Zeiten gingen die Ikonenmaler stets nur nach Gebet und mit »ehrfürchtiger Hand« an ihre Arbeit. Ich stelle mir das wörtlich vor: Im Gebet gelangt die Seele in den Zustand der Ehrfurcht, und die Hand muss selbstverständlich genauso feinfühlig sein. In der Bewegung einer freien Hand ist viel mehr vom Menschen selbst, von der Individualität des Künstlers, als in der Bewegung einer kontrollierten Hand.
Nach einem Ausdruck des Dichters Ossip Mandelstam ist der Mensch einzigartig in dem »Muster seiner Seele«; und jenes, was von seinem Verstand kommt, von seinem inneren Redakteur oder Zensor, ist frei von Originalität.
Die Summe all dessen, was man mittels des Verstandes erfassen kann, scheint mir sehr gering. Erkenntnis, wie sie über das Gebet entsteht, über das Erleben, Teil alles Lebendigen zu sein - und zwar ein unendlich kleiner Teil -, solche Erkenntnis gibt uns unendlich mehr als eine Erkenntnis aus der Sicht desjenigen, der schöpft, gestaltet oder, Gott behüte, umwandelt.
Die Seele kann nicht verschlossen bleiben. Sie muss gegenüber demjenigen offen sein, das höher und grösser ist als sie. Nur dann wird die Aufnahme von Kunst möglich, nur dann beginnen die Menschen, einander zu verstehen, zu lieben, mit Gott zu sprechen und sich in der Welt der Kunst wohlzufühlen - als Betrachter wie als Schöpfer.
Nicht nach Didaxe, nicht nach Geschichte und nicht nach sozialen Lehrsätzen sucht der Mensch in der Kunst. Der Künstler lebt, strebt danach, sich selbst zu erkennen, und hinterlässt Spuren dieses Erkenntnisstrebens in seinen Arbeiten. Und den anderen Menschen wird seine seelische Arbeit dargeboten. Sie ist es, wonach die Menschen in der Kunst verlangen.
Die Kunst haust in solchen Höhen, wo all ihre je besonderen Charakterzüge - ob religiöse, nationale oder andere - unwesentlich werden, nichts mehr bestimmen. »Hohe Kunst« (und allein eine solche kann Kunst sein) - »hoch« steht hier nicht im Sinne professioneller Meisterschaft, vielmehr in geistigem, religiösem Sinn.
Kunst muss für sich existieren, wie sie für sich entstehen muss. Sie kann nicht irgend etwas abbilden, gegen irgend etwas ankämpfen, etwas verursachen wollen. Die Kunst ist aussernational. Jede Einteilung des Kunstkörpers nach nationalen oder sonstigen Merkmalen erfolgt später; das ist Sache von Kunstwissenschaftlern und Kritikern.
Wenn der Künstler sich einer bestimmten Gruppe, einer nationalen Gemeinschaft zugehörig wissen will, dann soll er dies tun; wenn er es nicht will, soll er es nicht - Hauptsache ist, dass er die Freiheit besitzen muss, es nicht zu tun. Wenn er sich als ein Weltbürger zu fühlen geneigt ist, dann mag er ein Weltbürger sein; oder er soll sich, wenn er es möchte, als der Bürger eines bestimmten Landes verstehen. Es wäre für mich volkommen unannehmbar, wenn einem Menschen, einem Künstler - oder auch seinem Werk - ein für allemal eine eindeutige Bestimmung gegeben werden sollte; erst recht, wenn diese Bestimmung dem eigentlichen Menschen vorgeordnet wäre.
Es gibt relative und absolute Werte. Mir scheint, dass der Künstler verpflichtet ist, in einer Welt absoluter Werte zu leben. Und auch jeder andere Mensch muss dies anstreben. Ich sehe den Künstler auf der Erde als ein Phänomen, das von Gott herrührt. Schliesslich sagt man das auch so: ein Künstler von Gottes Gnaden. Das bedeutet, dass die Seele des Künstlers mit einer besonderen Qualität ausgestattet ist. Dies ist eine Gabe, die zwar ihm verliehen wird, doch den anderen Menschen gehört: und er kann nicht, ja darf nicht mit dieser Gabe schalten und walten, wie es ihm gefällt - sie für Geld eintauschen, für Konjunktur, Popularität. Er muss alle Mühe daran setzen, diese Gabe zu vermehren und an die Menschen weiterzugeben. Nicht zu belehren, sondern zu zeigen, dass es ein Licht gibt. Das ist seine Berufung; so sehe ich den Künstler. (Übersetzung Alexander Estis)
Kurzbiografie
Nikolai Estis wurde am 8. August 1937 in Moskau in einer jüdischen Familie geboren. Er wuchs im Schtetl Chmilnyks in der Ukraine auf; während des deutschen Bombardements befand sich seine Familie in der Evakuierung in Baschkirien. Nach Abschluss der Mittelschule ging Nikolai Estis 1954 nach Moskau, um Kunst zu studieren, und erlangte 1958 dort das Diplom der Moskauer Hochschule für Kunstgraphik. In den folgenden zwei Jahren leistete er Wehrdienst bei der Sowjetarmee.
Seit Anfang der 60-er Jahre nahm er regelmässig an Ausstellungen in Moskau und der Sowjetunion teil. 1966 wurde die erste Einzelausstellung in Moskau eröffnet.
Seit Mitte der 60-er Jahre hielt er sich immer wieder in Künstlerhäusern auf, wo er Hunderte graphischer und malerischer Arbeiten schuf. 1971-1972 entstand eine Serie von Lithographien zu Motiven aus Gedichten von Federico García Lorca; Blätter daraus wurden schon bald von vielen russischen Museen erworben. In den Jahren 1982 und 1983 wurden die Werke von Nikolai Estis im Rahmen einer grossen Einzel-Wanderaustellung in vielen Städten Russlands präsentiert.
Nikolai Estis zählte zur progressiven Avantgarde und wurde daher ständig von den Geheimdiensten überwacht, sodass Bildvorführungen teilweise im Geheimen stattfinden mussten. Westliche Sammler, die sich mit Kunstwerken des sowjetischen Untergrundes befassten, zeigten schon damals grosses Interesse an der revolutionären und unverwechselbaren Formensprache von Nikolai Estis.
1996 siedelte Nikolai Estis nach Deutschland über, wo er einige Jahre Atelierstipendiat der »Landdrostei« Pinneberg war und später gemeinsam mit seiner Frau, der Künstlerin Lydia Schulgina, die »Kunstetage« in Rellingen führte. 2005 eröffnete er mit Unterstützung der Kulturbehörde das »Haus der Künstlers Nikolai Estis« in Hamburg. 2008 war er Stipendiat des Kulturzentrums Salzau.
Derzeit lebt und arbeitet Nikolai Estis in Hamburg und Moskau.
Seit den 60er-Jahren fanden in Österreich, Deutschland, Russland und anderen Ländern über 70 Einzelausstellungen des Künstlers statt; auch aktuell ist die Nachfrage nach seinen Arbeiten auf internationalen Ausstellungen und Messen und Auktionen (u.a. Montreux Art Gallery) ungebrochen hoch. Vielfach wurde Nikolai Estis mit unterschiedlichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet.
Werke des Künstlers befinden sich in Museen und privaten Sammlungen vieler Länder der Welt, u. a. in der Staatlichen Tretjakow-Galerie (Moskau) im Puschkin-Museum für Bildende Kunst (Moskau), im Staatlichen Literaturmuseum (Moskau), Staatlichen Kunstmuseum Estland, der Sammlung George Costakis in Griechenland, der Kunstsammlung von Michail Chodorkowski sowie der Sammlung der American Academy of Arts and Sciences.
Seit vielen Jahren gastiert Nikolai Estis auf Konferenzen und Tagungen verschiedener Universitäten und Hochschulen, hält Vorträge und gibt Meisterkurse (Universität Moskau, Hochschule für Graphikdesign Moskau, Universität Genf u.a.). Im »Haus des Künstlers Nikolai Estis« lädt er regelmässig zu künstlerischen Treffen ein.
Er ist Mitglied der Künstlerverbände Deutschlands und Russlands sowie der Internationalen Künstlervereinigung. Seine Arbeiten werden in Zeitschriften und Zeitungen abgedruckt; mehr als hundert Beiträge in Periodika und Sammelwerken widmen sich dem Schaffen des Künstlers. Sein Name hat u.a. in die in Russland verlegte »Jüdische Enzyklopädie« (Moskau 1997) sowie in das »Allgemeine Künstlerlexikon (AKL)« des DeGruyter-Verlags (München 2003) Eingang gefunden.
Seine Arbeiten werden in Zeitschriften und Zeitungen abgedruckt. Mehr als hundert Beiträge in Periodika und Sammelwerken widmen sich dem Schaffen des Künstlers.
Er ist Mitglied der Künstlerverbände Deutschlands und Russlands sowie der Internationalen Künstlervereinigung. Sein Name hat u.a. in die in Russland verlegte »Jüdische Enzyklopädie« (Moskau 1997) sowie in das »Allgemeine Künstlerlexikon (AKL)« des DeGruyter-Verlags (München 2003) Eingang gefunden.
Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung A. Estis.