Mit George Weidenfeld verstarb im letzten Frühjahr vermutlich das letzte Mitglied einer jüdisch-nationalen Studentenverbindung, wie sie an der Universität Wien vor 1938 Bestand hatten. In seinen Lebenserinnerungen widmete er der Studentenzeit in seiner schlagenden Verbindung Unitas, der auch der Polyhistor und Abenteurer Arthur Koestler angehörte, viel Raum. Mit ihm endet eine direkte Traditionslinie, die am Ausgang des 19. Jahrhunderts grundgelegt wurde und zur Formung eines jüdischen Selbstverständnisses auf Hochschulboden wie auch der Verbreitung der Ideenwelt Theodor Herzls ein wesentlichen, aber beinahe vergessenen Beitrag geliefert hat.
Der ehemalige Burschenschafter Theodor Herzl war Ehrenmitglied und zentrale Identifikationsfigur der ältesten jüdisch-akademischen Verbindung „Kadimah“, Foto: Sammlung des Autors, mit freundlicher Genehmigung.
Der farbentragende Student mit Band und Mütze galt bis in die Zwischenkriegszeit als idealtypische Verkörperung des akademischen Nachwuchses. Die Verbindungen selbst waren als Hochschulkörperschaften fester Bestandteil des akademischen Lebens, wobei an den österreichischen Hochschulen nach einem kurzen, aber intensiven vormärzlichen Aufflackern erst wieder ab 1859 Korporationen gegründet werden konnten. Die grossdeutschen Burschenschaften fanden dabei ab 1871 besonderen Zulauf, radikalisierten sich unter dem um sich greifende Rassenantisemitismus eines Georg Schönerer jedoch rasch. Für die jüdischen Mitglieder bedeutete dieser Prozess das Ende ihrer Zugehörigkeit, wie Theodor Herzl (1860-1904) als Mitglied der Wiener Burschenschaft Albia durch seinen Austritt 1883 unter Beweis stellte.
Zeitgleich entwickelte eine jüngere Generation im aufkommenden Zionismus ein neues Selbstwertgefühl. Die Abgrenzung zu den Assimilitationstendenzen der Vätergeneration formte sich auf Hochschulebene erstmals in Wien aus. Der 1882 gegründete akademische Verein Kadimah verdankte seine Entstehung der Begegnung zweier junger Wiener Studenten, des Mediziners Moritz Tobias Schnirer (1861-1941) und des Juristen Nathan Birnbaum (1864-1937) mit dem Arzt Ruben Bierer (1835-1931), der in Lemberg Mitbegründer des ersten jüdisch-politischen Vereins Österreich-Ungarns, Schomer Israel gewesen war.
Verbindungsgründungen als Reaktion auf Assimilationstendenzen
Als prägende intellektuelle Gestalt stiess der Pub-lizist Perez Smolenskin (1842-1885) zu dieser Gruppe, der mit der hebräischen Zeitschrift Ha Schachar den Übergang der Haskalah zum modernen jüdischen Nationalismus begleitete. Er gab dem Verein mit dem hebräischen Namen Kadimah einen dichotomen Auftrag mit auf den Weg: „Kadimah ostwärts in die alte Heimat gegen die Assimilation und Kadimah vorwärts gegen Zelotismus in eine neue Freiheit", wie Isidor Schalit (1871-1954) in der Festschrift zum 50-jährigen Bestand 1933 schrieb.
Die Farbenbänder einiger Wiener Studentenverbindungen. Neumitglieder trugen in den ersten beiden Semestern ihrer Zugehörigkeit ein lediglich zweifärbiges „Fuchsenband. Band und Anstecknadel in den Farben der ältesten Wiener Verbindung „Kadimah“, gegründet 1882. Foto: G. Gatscher-Riedl, mit freundlicher Genehmigung.
War das inhaltliche Programm des Vereins, der sich gleichermassen gegen Assimilation wie Orthodoxie wandte, bereits in der Gründungsphase festgelegt, dauerte es bis zur endgültigen Wahl der Organisationsform noch einige Zeit. Die Diskussion, ob Kadimah als akademischer Verein bestehen bleiben oder die Form einer traditionellen Studentenverbindung annehmen sollte, führte zu heftigen Grabenkämpfen. Da sich 1891 in Czernowitz mit der von Kadimahnern gegründeten Hasmonäa eine erste jüdisch-nationale, waffenstudentische Verbindung etabliert hatte, zog der bisherige Verein 1896 nach und deklarierte sich als farbentragende Korporation mit den Farben rot-violett-gold und dem markigen Wahlspruch „Mit Wort und Wehr für Judas Ehr! Jedem Mitglied wurde auferlegt, hinkünftig auf Beleidigungen und Ehrenangelegenheiten mit dem Säbel als studentischer Commentwaffe Genugtuung zu geben.
Zweifärbiges „Fuchsen“- und dreifärbiges „Burschenband“ (unten) der Jüdisch-akademischen Verbindung „Libanonia“, die aus der „Lese- und Redehalle“ hervorgegangen war. Foto: G. Gatscher-Riedl, mit freundlicher Genehmigung.
Die Erklärung für die Annahme des akademischen Fechtens sieht der Chronist der Wiener jüdischen Verbindungen Fritz Roubicek (1913-1990), Angehöriger der Unitas und Auschwitz-Überlebender in der Herkunft der Mitglieder:
„Im Osten waren Pogrome an der Tagesordnung und die Gründer der Kadimah wollten ein sogenanntes jüdisches Schicksal, das darin bestand, demütig Prügel zu empfangen und demütig darüber zu wehklagen, nicht akzeptieren. Sie wollten als ebenbürtige Gegner zurückschlagen und das taten sie auch."
Das Auftreten der jüdischen nationalen Korporationen leitete einen Paradigmenwechsel für die Organisationsform jüdischer Hochschüler ein, der auch innerhalb des Judentums nicht unwidersprochen blieb. Das Auftreten der beschmissten Studenten mit Band und Mütze wurde als „jüdisches Teutonentum" bespöttelt und der Wiener Oberrabbiner Adolf Jellinek (1820-1893) warf der jungen Verbindung sogar vor, „sie führe heidnische Sitten ins Judentum ein".
Das Begräbnis des Wiener Oberrabiners Zwi Perez Chajes im Dezember 1927. Links vorne Angehörige der „Kadimah“, dahinter Couleurstudenten der „Zephira“. Ausschnitt aus „Das interessante Blatt“, 22. 12.1927.
Die Wiener Kadimah als Herzls Kadertruppe
1896 legte Theodor Herzl, der mit Max Nordau (1849-1923) zum Begründer der zionistischen Weltkongresse wurde, seine berühmte Schrift Der Judenstaat vor, in der er die alten jüdischen Gedanken der Wiederbesiedelung Zions zu einer nationalen und staatsrechtlichen Forderung verdichtete. Kadimah verstand sich in der Folge als loyale Kadertruppe Herzls, und wirkte wesentlich daran mit, ihr Ehrenmitglied, das sich nach der Veröffentlichung des Judenstaats eigentlich zurückziehen wollte, an die Spitze der zionistischen Weltbewegung zu setzen.
Das Konzept der jüdisch-nationalen Studentenverbindung fand bald rasche Verbreitung: 1894 rief der ehemalige Kadimahner Karl Pollak die Unitas ins Leben, die ihrerseits im Juli 1896 die Tochterverbindung Veritas an der Brünner Technischen Hochschule gründete. Unitas führte die Farben violett-weiss-gold mit taubengrauen Mützen. Bald wandelte sich die seit 1891 als Verein schlesischer Hochschüler bestehende Ivria in eine farbentragende Verbindung um, die als erste jüdische Korporation am 28. Februar 1896 ihre schwarz-gold-blauen Farben auf der Universität anlegte, schwarze Samtmützen kamen erst nach 1918 hinzu.
Libanonia nahm 1896 die Farben hellblau-gold-hellrot und im Wintersemester 1898/99 himmelblaue Samtmützen an. Sie war aus der 1894 vom Kadimahner Ruben Bierer gegründeten Lese und Redehalle jüdischer Hochschüler hervorgegangen. Libanonia und die 1896 ins Leben gerufene Emunah mit blau-weiss-goldenen Bändern und weinroten Samtmützen teilten sich Räumlichkeiten in der Servitengasse 4 im IX. Bezirk. Eine Fotografie von Mitgliedern der Emunah diente als Plakat- und Katalogsujet der Ausstellung Die Universität. Eine Kampfzone, die bis März 2016 im Jüdischen Museum Wien gezeigt wurde.
Maccabaea (auch Makkabäa) entstand an der Technischen Hochschule 1897, nahm später auch Universitätsstudenten auf und legte am 20. Februar 1898 erstmals Bänder mit den Farben violett-grün-gold auf blau-weissen Grund an, am 15. Dezember 1905 folgten violette Tuchmützen.
Angehörige der Jüdisch-Akademischen Verbindung „Emunah“ während einer Säbelpartie in den Verbindungsräumlichkeiten in der Servitengasse 4. Foto Ze’ev Aleksandrowicz, 1925. Beit Hatefutsot, mit freundlicher Genehmigung W. Hanak-Lettner/Jüdisches Museum Wien aus der Ausstellung „Kampfzone Universität“.
Dem kulturellen Echoraum des Ostjudentums fühlte sich Jordania besonders verpflichtet, die sich im Februar 1904 als „Verein jüdischer Hörer aus der Bukowina" konstituierte und ab 1914 mit den Farben hellblau-violett-gold und später schwarzen Samtmützen auftrat. Zephira entstand 1904 mit den Farben rot-grün-gold und weissen Mützen. Ihr wohl bekanntestes Mitglied war Oskar Grünbaum, der Präsident der zionistischen Organisation in Österreich, der am 18. März 1938 im Gebäude der Kultusgemeinde verhaftet wurde.
Eine kurzlebige Verbindung war Robur, die im Juli 1912 aus einer Mittelschülerverbindung Jung-Juda hervorgegangen sein soll. Auf der Hochschule trug sie die Farben blau-weiss-violett mit blauen Mützen, doch stellte sie den Betrieb auf Grund von Nachwuchsmangel bereits um 1930 wieder ein.
Mit der Berufung von Zwi Perez Chajes (1876-1927) als Oberrabbiner änderte sich die ablehnende Stellung der Kultusgemeinde zu den jüdischen Verbindungen schlagartig. Unter seiner Führung war es jüdischen Couleurstudenten möglich geworden, Verantwortung in der Kultusgemeinde zu übernehmen: Josef Löwenherz (1884-1960), Mitglied der Lese- und Redehalle sowie Desider Friedmann (1880-1944 Auschwitz), Angehöriger der Libanonia als Vizepräsidenten sowie Robert Stricker (1879-1944 Auschwitz), Mitgründer der Veritas Brünn, als Vorstandsmitglied. Friedmann fungierte ab 1932 als Präsident der Wiener Kultusgemeinde, während die Grazer Kultusgemeinde seit 1922 unter der Leitung Robert Sonnenwalds, eines „Alten Herrn" der 1897 gestifteten und seit 1908 farbentragenden Grazer Verbindung Charitas war.
Daseinszweck mit der Staatsgründung Israels erfüllt
Viel Raum in der Verbindungstätigkeit nahm naturgemäss die Vorbereitung auf die Alijah, die Heimkehr nach Zion, ein. Die verschiedenen Strömungen innerhalb des Zionismus aber drifteten immer mehr auseinander, wovon auch die Verbindungen nicht verschont blieben. So setzte etwa Unitas über Antrag ihres Mitglieds Wolfgang von Weisl (1896-1974) mit der Verleihung des Ehrenbandes an Wladimir Zeew Jabotinsky (1880-1940) ein deutliches Signal in Richtung eines revisionistisch-zionistischen Standpunktes, dem sich nach und nach auch die anderen Korporationen anschlossen. Die Mehrzahl der aktiven Mitglieder der Verbindungen engagierte sich in der Folge für den Revisionismus, eine militante und den autonomen jüdischen Staat als politisches Ziel fordernde Bewegung. Im September 1935 gründete Jabotinsky in Wien die Neue Zionistische Organisation auf einem Kongress im Konzerthaus, der von Kadimah, Ivria und Unitas vorbereitet worden war. Zu den Pflichten der Aktiven gehörten ab der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wöchentliche Waffen- und Exerzierübungen beim Sport- und Schützenverein Haganah.
Mit dem Anschluss 1938 wurden sämtliche Studentenverbindungen aufgelöst und die Mitglieder der zionistischen Korporationen mit besonderer Härte verfolgt. Als Beispiel für unzählige jüdische Couleurstudenten mag der 1883 geborene Kadimahner Fritz Löhner-Beda gelten, der als Librettist und Schlagertexter für zahlreiche Gassenhauer der Zwischenkriegszeit sorgte und 1909 mit seinen Couleurbrüdern den Sportverein Hakoah ins Leben rief. Er wurde 1942 in Auschwitz ermordet. Mit der Gründung des Staates Israel glaubten viele überlebende Mitglieder den Daseinszweck ihrer Verbindungen erfüllt, sodass es zu keinen Reaktivierungen an israelischen Hochschulen kommen sollte. Mit dem Tod Lord Weidenfelds ist die „alte Burschenherrlichkeit" zionistischer Ausprägung endgültig Geschichte geworden.
Literatur:
Adolf Gaisbauer, Davidstern und Doppeladler. Zionismus und jüdischer Nationalismus 1882-1918. (=Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, Bd. 78, Wien-Köln-Graz 1988); Ders., Eine Jugendbewegung. Zur Geschichte der jüdisch-nationalen Studentenbewegung in Österreich 1882-1914. In: Zeitgeschichte, Jg. 2, Nr. 6, (Wien März 1975); Arthur Koestler, Pfeil ins Blaue. Bericht eines Lebens 1905-1931. (München-Wien-Basel 1953); Ludwig Rosenhek (Hg.), Festschrift zu Feier des 100. Semesters der akademischen Verbindung Kadimah, (Mödling 1933); Fritz Roubicek, So streng warn dort die Bräuche. Erinnerungen eines alten jüdisch-nationalen Couleurstudenten. (Hilden ³2000); Ders., Von Basel bis Czernowitz. Die jüdisch-akademischen Studentenverbindungen in Europa. (Beiträge zur österreichischen Studentengeschichte, Bd. 12, Wien 1986); Oskar Franz Scheuer, Burschenschaft und Judenfrage. Der Rassenantisemitismus in der deutschen Studentenschaft. (Berlin 1927); Harald Seewann, Theodor Herzl, seine Vision „Der Judenstaat" und die jüdisch-nationalen Korporierten. In: Peter Platzer, Raimund Neuss (Hg.), Wien-Auschwitz-Wien. Fritz Roubicek zum Gedenken. (Vierow bei Greifswald 1997), Ders., Die jüdisch-nationalen Korporationen in Österreich. Ein zusammenfassender Rückblick. In: Die Vorträge der 15. Österreichischen Studentenhistorikertagung Eisenstadt 2002. (= Beiträge zur österreichischen Studentengeschichte, Bd. 28, Wien 2002); Ders. (Hg.), Zirkel und Zionsstern. Bilder und Dokumente aus der versunkenen Welt des jüdisch-nationalen Korporationsstudententums. Ein Beitrag zur Geschichte des Zionismus auf akademischem Boden. 5 Bde. (Graz 1990-96); George Weidenfeld, Von Menschen und Zeiten. Die Autobiographie, (Wien-München 1995).