Ausgabe

Ein geistiges Zentrum der Wiener jüdischen Studentenschaft

Gregor Gatscher-Riedl

Die Lese- und Redehalle jüdischer Hochschüler 1894-1938

Die ab 1882 entstandenen jüdisch-­akademischen Studentenvereine und -verbindungen waren der Versuch, auf Hochschulebene Räume jüdischer Kulturautonomie zu verwirklichen. Wohl nicht ausgelöst, aber beschleunigt wurde die Entwicklung dieser Körperschaften durch den aggress­iven ­Antisemitismus, der durch das Versagen der liberalen Eliten in den 1880er und 1890er Jahren
im akademischen ­Mainstream ­angekommen war. Eine reiche ­jüdische Subkultur war das ­Ergebnis, die in Wien zu rund fünfzehn farbentragenden ­Verbindungen und weiteren ­Organisationen geführt hat.

Inhalt

Am Beginn dieses Prozesses steht die legendäre Kadimah  die 1882 zunächst als Kulturverein ihre Tätigkeit begann und eine gleichermassen gegen Assimilation und Orthodoxie gerichtete Selbstverortung innerhalb des Judentums vornahm. Schrittweise gab sich die Gruppe die Gestalt einer farbentragenden, waffenstudentischen Verbindung. Mit der „korporativen Schliessung“ Kadimahs erhielt diese zwar eine straffere Form und Binnenorganisation, doch schreckte das Verbindungswesen, das zudem als „unjüdisch“ in der Kritik stand, am Gemeinschaftsleben oder spezifisch jüdischen Bildungsinhalten durchaus interessierte Studenten ab.

h123_05.jpg

Gruppenaufnahme im Lesesaal zum 35. Stiftungsfest der Lese- und Redehalle im März 1929.
Der damalige Präses Dr. Karl Jellinek erste Reihe stehend, 9. v. r.
Im Hintergrund der Wappenschild mit Zirkel und Farbenband

Foto: Mit freundlicher Genehmigung
von Paulette Jellinek

Spannungsverhältnis zwischen Kadertruppe
und Breitenorganisation

Dieses Manko wurde von Kadimah erkannt, die ihren exklusiven Charakter als zionistische Elite beibehalten, aber zugleich auf ein breites Mitglieder- und Unterstützerreservoir nicht verzichten wollte. Kadimahs Stifter Ruben Bierer, der in Lemberg Mitbegründer des ersten jüdisch-politischen Vereins Österreich-Ungarns, Schomer Israel gewesen war, übernahm auch in diesem Fall die Initiative einer Neugründung, die am 11. März 1893 vorbesprochen wurde. Der Verein wurde am 16. September 1894 als „Jüdische Akademische Lesehalle“ unter der Patronanz von Kadimah gegründet, bald aber in „Lese- und Redehalle jüdischer Hochschüler“ umbenannt. Als Vorbilder dienten gleichnamige Institutionen der deutschnationalen und liberalen Studentenschaft, die sich am 1848 in Prag gegründeten Vorbild orientierten. Es handelte sich dabei freilich um kein Gebäude, sondern einen literarischen Topos, einen fiktiven Ort im Sinne etwa eines „Tempels“ oder „Freundschaftssaales“. Mit Sicherheit vermittelten auch die antike athenische „Stoa“ (offene Säulengalerie) oder der aristotelische „Peripatos“ (Wandelhalle) als begriffsmächtige Orte des Philosophierens und der Lehre eine Inspiration für die Benennung.

h123_14.jpg

Mitglieder der Lese- und Redehalle 1929 vor dem Grab Theodor Herzls Halle-Präses Dr. Jellinek (3. v. rechts), war auch nach seiner Flucht
in die USA im Rahmen der zioni­stischen und farbstudentischen Idee tätig

Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Paulette Jellinek

Diese in der Kurzform als „Halle“ bezeichneten Vereine waren wichtige gesellschaftliche, aber auch wissenschaftliche Zentren, die ihren Mitgliedern nicht nur Klubräumlichkeiten sowie ein Programm an Informationsveranstaltungen zu politischen und studentischen Belangen, sondern auch eine eigene Bibliothek und Zeitschriften bieten konnten. Von unmittelbarer Vorbildwirkung am Hochschulort war die am 14. Februar 1870 gegründete „Wiener Akademische Lesehalle“, in der Theodor Herzl ab 1879 seine Freunde Heinrich Kana und Oswald Boxer oder Arthur Schnitzler kennengelernt hatte.

In der ursprünglichen Konzeption hätte die „Halle“ als Dachorganisation für die neben Kadimah mittlerweile zahlreichen akademischen Verbindungen fungieren sollen, allerdings kam es dazu nicht, da ein allzu provokantes zionistisches Engagement vermieden werden wollte. Die politische Neutralität sollte die Attraktivität für Studenten wie auch Sponsoren, darunter die Wiener Kultusgemeinde, aufrechterhalten. Die Gratwanderung zwischen der zionistischen Ausrichtung, die 1897 durch die Annahme des „Basler Programms“ verankert wurde, und dem Charakter einer offenen Service- und Bildungsplattform für jüdische Studenten gelang, trotz so mancher heftigen inhaltlichen Auseinandersetzung, die entlang der Linie zwischen Korporierten und Nicht-Verbindungsstudenten verlief.

h123_13.jpg

Farbenband studentisches Monogrammm („Zirkel“)
der Lese-und Redehalle.

Aufnahme des Verfassers.

Wichtiger Ort intellektuellen Austauschs

Diese Richtungsstreitigkeiten taten der Wirkmächtigkeit der „Halle“ für eine jüdisch-akademische „Dissimilation“ im Sinne von Shulamith Volkov keinen Abbruch. Der Verein war bereits Ende 1896 die zweitgrösste studentische Organisation an der Universität, dessen Mitgliederzahl bald auf 1.000 anwuchs, „und immer mehr entwickelte sich die Halle zu dem, wozu sie von Haus aus bestimmt war: zu einem geistigen >

Zentrum der Wiener jüdischen Studentenschaft. […] Fast alle Kultusgemeinden von Olmütz über Debreczin bis Agram zählten vor dem Kriege zu den Förderern der ‚Halle‘“, wie es im Jahresbericht des Vereinsjahres 1923/24 heisst. Dieser Schrift ist auch zu entnehmen, dass Leo Trotzki während seiner Wiener Jahre ein häufiger Gast gewesen sein soll.

Die Lese- und Redehalle verfügte über Vereinsräumlichkeiten in Universitätsnähe, zunächst in der Währinger Strasse, später in der Hörlgasse 11, Grünentorgasse 19a und ab 1913 an der Adresse Türkenstrasse 9 (alle Wien IX.) in den ehemaligen Räumen der Zionistischen Weltorganisation. Hier fand das Klubleben statt, das 1907 in acht Sektionen organisiert war und die unterschiedlichen Interessensphären der Mitglieder berücksichtigte. Neben einer naturwissenschaftlichen und einer zionistischen gab es eine hebräische, französische, Esperanto- sowie literarische Sektion, wobei letztere für den Literaturteil der „Jahresberichte“ verantwortlich zeichnete, der durch Beiträge von Rainer Maria Rilke oder Martin Buber aufgewertet wurde.

Aktive Freizeitgestaltung gab es in der Musikgruppe und der Turn- und Fechtriege, die am 26. September 1909 im durch „Halle“-Mitglieder neu gegründeten Sportverein Hakoah aufging. Später wurde das Angebot erweitert: Sprach- und Stenographiekurse, Nachhilfestunden-Vermittlung, Tanzstunden und eine Jobbörse sollten für Zusatzqualifikationen sorgen. Vorträge wurden vor 1914 im Hörsaal 33 des Universitäts-Hauptgebäudes abgehalten.

 

„Verjüdischung des Wesens“ als Organisationsziel

Gleichartige Vereinigungen bildeten sich nach dem Wiener Vorbild 1903 in Brünn und 1908 in Prag, die am 19. März 1914 ein Kartell der jüdisch-akademischen Lese- und Redehallen Österreichs abschlossen, das 1923 wiederbelebt wurde. Das Ziel der gemeinsamen Arbeit sollte in der „Verjüdischung des Wesens“ der Mitglieder bestehen, wozu auch das gemeinsame Zeitungsprojekt „Der jüdische Student“ dienen sollte. Ein gleichnamiges Blatt entstand 1933 als Organ der „Judäa“, der Gesamtvertretung der jüdischen Hochschüler in Österreich.

Der im Herbst 1918 erfolgte Neustart war von einer Konsolidierungsphase geprägt, die 1923 abgeschlossen werden konnte. Wirtschaftliche Probleme wie auch eine bislang nicht gekannte antisemitische Qualität erschwerten den Neubeginn: Im April 1920 etwa wurde die 1911 aus der „Halle“ hervorgegangene Mensa Academica Judaica von mehreren hundert deutschnationalen Hochschülern überfallen, die Gäste verprügelt und das Lokal verwüstet. Unter dem Präses Karl Jellinek erlebte die „Halle“ einen Aufschwung und erneuerte mit der Annahme des Ehrenvorsitzes durch den Wiener Oberrabbiner Zwi Perez Chajes die starke Verbindung zur Wiener Kultusgemeinde, für die Alt-Mitglieder wie Josef Löwenherz als Vizepräsident oder Leopold Plaschkes als Vorstandsmitglied Verantwortung übernahmen.

Durch den Wegfall vieler, nunmehr in den Nachbarländern gelegenen Kultusgemeinden als Förderer gewann das bei Studentenverbinden übliche Lebensbundprinzip bei der „Halle“ an Bedeutung. Die Studenten blieben nach Abschluss als fördernde „Alte Herren“ weiter Mitglieder und bildeten ein berufliches und wissenschaftliches Netzwerk. Die Übernahme studentischer Traditionen manifestierte sich auch in der Annahme eines monogrammartigen „Zirkels“ und der Farben silber-blau-silber. Folgerichtig trat die „Halle“ als nicht-farbentragender Verein dem 1929 gegründeten Ring der Altherrenverbände (IGUL) bei.

 

Bibliothek mit Lesesaal als Herzstück

Die „Halle“ wurde in der Aussenwahrnehmung sehr stark mit ihrem Lesesaal identifiziert, der am 24. Jänner 1924 durch Oberrabbiner Chajes und im Beisein des Präsidenten der Kultusgemeinde Alois Pick eröffnet wurde. Besonderen Anteil am Zustandekommen dieser Einrichtung hatte der „Verein für jüdische Geschichte und Literatur“ unter dem Vorsitz des bedeutenden Gelehrten Samuel Krauss. Die Bibliothek umfasste mehrere tausend Bände und im Lesesaal, der an Werktagen von 15-20 Uhr geöffnet war, lagen 136 verschiedene Zeitungen und Zeitschriften aus, die von einem „Zeitungsverweser“ und Bibliothekar betreut wurden.

Die Klubräumlichkeiten wurden auch anderen Organisationen zur Verfügung gestellt: die jüdische Künstlervereinigung Haruach unter dem Vorsitz von Felix Salten, der wie Sigmund Freud (Sohn Martin Freud war Kadimahner) auch dem „Halle“-Ehrenkomitee angehört hatte, der hebräische Sprachverein Beth-Waad-L’ivrim oder der akademischen Zionistenklub Hechawer.

Die „Halle“ teilte 1938 das Schicksal jüdischer Organisationen und wurde zwangsweise aufgelöst. Die Räumlichkeiten wurden beschlagnahmt und die wertvolle Bibliothek gestohlen bzw. auf NS-Dienststellen wie das „Gauhaus“ im Parlament aufgeteilt. Zumindest ein Buch gelangte auch in den Besitz des NS-Propagandisten Julius Streicher, wo es 1945 von der U.S.-Armee sichergestellt wurde. Ihre Mitglieder erlitten Verfolgung oder wurden vertrieben, wie Karl Jellinek, der 1939 mit seiner Familie nach New York entkommen konnte, wo er als Vorsitzender die Mitglieder der „Halle“ und weiterer Studentenverbindungen im „IGUL-Alumni Association of Zionist Fraternities of Austrian Universities“ sammelte und als Delegierter der „Zionist Organization of America“ für einen unabhängigen Staat Israel arbeitete. Berthold Hirschl, Präses im Sommersemester 1911, baute nach dem 2. Weltkrieg die schulische Infrastruktur der Wiener Kultusgemeinde wieder auf. Die ideelle Nachfolge der „Halle“ trat in gewisser Hinsicht die am 20. März 1947 gegründete „Vereinigung jüdischer Hochschüler Österreichs“, heute „Jüdisch-österreichische HochschülerInnen“, an.

 

Literatur:

Evelyn Adunka, Die vierte Gemeinde.
Die Geschichte der Wiener Juden von 1945 bis heute. (Berlin-Wien 2000)

Tamara Ehs, Das extramurale Exil. Vereinsleben als Reaktion auf universitären Antisemitismus. In: Evelyn Adunka, Gerald Lamprecht, Georg Traska (Hg.), ­Jüdisches Vereinswesen in Österreich im 19. und 20. Jahrhundert. (= Schriften des Centrums für jüdische Studien, Band 18, Innsbruck-Wien-Bozen 2011)

Adolf Gaisbauer, Davidstern und Doppeladler. Zionismus und jüdischer Nationalismus 1882-1918. (=Veröffentlichungen der Kommission für Neuere ­Geschichte Österreichs, Bd. 78, Wien-Köln-Graz 1988)

Ders., Eine Jugendbewegung. Zur Geschichte der jüdisch-nationalen Studentenbewegung in Österreich 1882-1914. In: Zeitgeschichte, Jg. 2, Nr. 6, (Wien März 1975)

Angelika M. Hausenbichl, Jüdische Autoemanzipation. Ein Blick in das Vereinsleben der Donaumonarchie am Beispiel der akademischen Vereine Kadimah und Jüdische Kultur. In: Adunka, Lamprecht, Traska (Hg.), Jüdisches Vereinswesen in Österreich

Jahresberichte 1902, 1907, 1923/24 der Lese- und Redehalle jüdischer Hochschüler, Wien

Johanna Josephu, Jüdische Jugendorganisationen vor 1938 und nach 1945. Ein soziologischer Vergleich. (=Dissertationen der Universität Wien, Bd. 64, Wien 2000)

Fritz Roubicek, So streng war’n dort die Bräuche. Erinnerungen eines alten jüdisch-nationalen Couleurstudenten. (Hilden ³2000); Marsha l. Rozenblit, The Jews of Vienna, 1867-1914. Assimilation and Identity. (=SUNY Series in Modern Jewish History, Albany 1984)

Harald Seewann (Hg.), Theodor Herzl und die akademische Jugend. Eine Quellensammlung über die Bezüge Herzls zum Korporationsstudententum. (=Historia Academia Judaica, Bd. 6, Graz 1998)

Ders., Zirkel und Zionsstern. Bilder und Dokumente aus der versunkenen Welt des jüdisch-nationalen Korporationsstudententums. Ein Beitrag zur Geschichte des Zionismus auf akademischem Boden, 5 Bde. (Graz 1990-96)

Mit besonderem Dank an Paulette Jellinek, die Tochter von Alt-Präses Dr. Karl Jellinek (1894-1977)