Zwei Wege führen nach Kafr Kara, einem arabischen Dorf  zwischen Hadera und Afula im Norden Israels. Der eine führt über die Straße  Nummer 65, eine wichtige und dicht befahrene West-Ost-Route von Hadera bis ins  Jordantal. Wadi Ara wird der erste Abschnitt dieser Straße genannt, nach seinem  arabischen Namen, denn zu seinen Seiten liegen elf arabische Dörfer, eine der am  dichtesten arabisch bevölkerten Regionen Israels. 
 
 Wadi Ara führt knapp an der  Grünen Linie vorbei, und bei Umm-El-Fahm, dem größten arabischen Dorf in Israel,  liegt nur dieser Ort zwischen der Straße und den palästinensischen Gebieten. Bis  zur Errichtung des Schutzwalls ein beliebter Durchgangsort für Eindringlinge aus  dem nur wenige Kilometer entfernten Jenin. In den Tagen der massenhaften  Terroranschläge im Jahr 2002 hat Wadi Ara traurige Berühmtheit erlangt als die  Straße, auf der die meisten Busse explodierten. Zu den Opfern zählten stets auch  Araber.
 Der andere Weg führt durch eine pastorale Landschaft bei Alona, einer Region aus  Moshavim und Kibbutzim, vielen Feldern, Wein, Zypressen und Eukalyptushainen;  die israelische Provence. Vor Amikam biegt man rechts ab, dann führt die Straße  über einen Hügel. Dahinter taucht wie eine Fata Morgana das arabische Dorf aus  der Tiefe auf. 
 
 Das Gebäude, um das es uns geht, ist das zweite hinter der Dorfeinfahrt.
 Hier ist ein Projekt untergebracht, das in Israel als experimentell und  revolutionär gilt, obwohl es doch eigentlich nahe liegend ist: Eine Schule, in  der jüdische und arabische Schüler gemeinsam lernen. Doch geschieht dies hier  nicht auf Grund der Bevölkerungsstruktur, wie in Jaffa oder anderen gemischt  jüdisch-arabischen Städten. An dieser Schule ist das gemeinsame Lernen Programm.  Alles gibt es hier zwei Mal, wie im Spiegelbild: zwei Direktoren, zwei Lehrer in  jeder Klasse, in jeder Klasse eine exakt gleiche Anzahl an arabischen und  jüdischen Kindern. "Brücke über den Wadi" heißt diese Schule. Sie ist erst die  dritte ihrer Art in Israel und mit der Gründung im September 2004 die jüngste.  Das Projekt in Jerusalem begann 1997 mit 20 Kindern, heute werden dort 270  Kinder in 11 Klassen unterrichtet. Auch die Schule in Misgav im nördlichen  Galiläa existiert seit 1997 und kann 170 Schüler aufweisen. 106 Kinder besuchen  mittlerweile die Schule in Kafr Kara. Sie nennen sich "Bilingual Schools",  zweisprachige Schulen, doch es geht, natürlich, um viel mehr.
 
 Der jüdische Pädagoge Jochanan Eschar und die arabische Pädagogin Noha Khatieb  teilen sich die Leitung der Schule in Kafr Kana. Khatieb hat schon sechs Jahre  lang in Misgav unterrichtet und ist mit dem System vertraut. 
 "Meine Erfahrung lehrt, dass die Kinder im Laufe der Zeit unabhängig von den  rassischen Unterschieden Freundschaften schließen", sagt sie, und spricht damit  genau eine der Sorgen an, die grundsätzlich interessierte jüdische Eltern bei  den Einführungsversammlungen äußern. "Was ist, wenn meine halbwüchsige Tochter  sich in einen arabischen Klassenkameraden verliebt?", heißt es da. Eschar und  Khatieb lächeln. Sie kennen die Frage sehr gut, sie hören sie oft. "Sie  verlieben sich genau so wie andere Jugendliche, und wie andere Jugendliche  verlieben sie sich in Menschen in ihrem Umfeld, die ihnen vertraut sind." Und  dann sagen sie: "Unsere Schule ist auch eine Schule für die Eltern. Sie bekommen  hier einen kostenlosen Kurs in Toleranz und Offenheit dem Anderen gegenüber."  Einige Eltern, die zu Beginn Interesse zeigten, sprangen ab, als das arabische  Dorf Kafr Kana als Standort für die Schule gewählt wurde. Mit ihnen gemeinsam  lernen, ja, aber gleich mitten unter ihnen?
 
 Vor drei Jahren begann eine kleine Gruppe jüdischer und arabischer Eltern aus  der Region um Wadi Ara, die Idee einer zweisprachigen multikulturellen Schule zu  entwickeln. Es war kurz nach dem Ausbruch der zweiten Intifada, an der zu Beginn  auch israelische Araber aus Wadi Ara beteiligt waren. Zwei Jahre dauerte es, bis  die massiven Widerstände im israelischen Bildungsministerium überwunden waren  und die Schule ihre Tore öffnen konnte. 
 Es gibt auf beiden Seiten Vorbehalte und Befürchtungen, doch Sinn der Schule ist  es gerade, die Vorurteile zumindest bei den Kindern, und auf dem Weg dorthin  auch bei den Eltern, durch persönliches Kennenlernen und durch die Erfahrung der  anderen Kultur zu beseitigen.
 
 Sowohl die jüdischen Feiertage als auch die islamischen werden gemeinsam  gefeiert und die Ferien so ausgerichtet, dass sie alle berücksichtigt werden.  Der israelische Unabhängigkeitstag wird genauso begangen wie das arabische  Gegenstück, die "Naqba", Katastrophe, die den Verlust des Landes und der  Autonomie auf palästinensischer Seite beklagt, die mit der Gründung Israels  einhergingen. 
 
 Wer aber fürchtet, sein jüdisches Kind würde hier islamisiert – die  entsprechende gegenteilige Angst exisitiert bei den arabischen Familien nicht -  täuscht sich. Orit Meoded ist eine der Gründungsmütter. "Das Positive an der  Sache ist, dass mein Sohn Assaf lernt, beide Narrative zu sehen, beide Seiten zu  sehen, dabei aber nie vergisst, dass er Jude ist." Durch die laufende  Auseinandersetzung mit der anderen Kultur schärft sich für die Kinder beider  Seiten sogar das Bewusstsein für die eigene Identität. "Im Grunde lernen unsere  Kinder nicht nur die andere Seite kennen, sondern auch ihren Schmerz, in einer  Weise, zu der nur Kinder fähig sind", sagt Eschar. "Die meisten Juden haben  keine Ahnung, wie sich die Araber wirklich fühlen, und das Thema wird in den  üblichen Schulen nicht angesprochen. Zugleich kennen die Araber aber auch nicht  unsere wirklichen Gefühle zum Beispiel zur Schoah," fügt er hinzu.
 
 Die Kinder werden von der Vorschulklasse an in beiden Sprachen unterrichtet. Es  sind stets zwei Lehrerinnen anwesend. Während in den ersten beiden Jahren eine  Lehrerin die andere noch jeweils übersetzt, gehen sie ab der zweiten Klasse zu  einem ergänzenden Unterricht über. Die hebräische Lehrerin erzählt  beispielsweise einen Abschnitt einer Geschichte, woraufhin die arabische  Lehrerin dort fortsetzt, wo die hebräische aufgehört hat. Das erfordert  intensive Vorbereitung, und die beiden müssen gut aufeinander eingespielt sein.  Die Kinder erlernen die jeweils andere Sprache spielend, und nach drei bis vier  Jahren können sie sich verständigen.
 
 Dudu Amitai, dessen Tochter Rotem die Schule besucht, spricht die Umstellung an,  welche die Erwachsenen durchmachen müssen. "Es ist eine große Herausforderung,  doch ich glaube, dass diese Schule zu unserer persönlichen Entwicklung und  Selbsterfüllung beiträgt," sagt er. "Wir sind uns der schwierigen Themen  bewusst, doch bei den Elternversammlungen lernen wir, uns ihnen real gemeinsam  mit der anderen Seite zu stellen. Sie sind unsere Partner an dieser Schule und  auch im Leben. Auf Grund der israelischen Realität und des israelischen  Bildungssystems bilden wir, die Eltern dieser Schule, eine Koalition der  Minderheiten."