Die alte polnische Königsstadt Krakau – die einzige Metropole  des Landes, deren historischer Kern von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs  verschont geblieben ist – hat eine neue Attraktion, die für Gesprächsstoff in  der ansonsten so ruhigen Stadt sorgt.
 
 Neben dem Königsschloß Wawel, der Marienkirche und den Tuchlauben, besitzt sie  neuerdings ein schickes Vergnügungsviertel, komplett mit Bistros und Nachtklubs,  wie es sie nicht einmal in der Hauptstadt Warschau gibt. Allerdings sind  "eingefleischte" Krakauer Fans nicht einig, ob sie sich darüber ärgern oder  freuen sollen.
 
 Das Krakauer "Quartier Latin" befindet sich nämlich – eine Ironie des Schicksals  - just im alten Judenviertel Kasimierz (benannt nach Kasimir IV., der im 15.  Jahrhundert die Deutschen Ritter besiegte und die Juden aus dem Deutschen Reich  ins Land rief.) 
 
 Die jüngste Metamorphose bedeutet sicherlich einen der vielen dramatischen  Brüche in der Geschichte der Stadt, die bis zum Zweiten Weltkrieg als Heimat  großer Rabbiner und jüdischer Gelehrter bekannt war. Ihre Zahl hatte sich  allerdings bereits nach dem Ersten Weltkrieg verringert, bis die letzten von den  Nazis praktisch ausgerottet wurden.
 
 Was von Kasimierz nach 1945 übrig blieb waren der große jüdische Friedhof und  eine in ein jüdisches Museum verwandelte Synagoge.
 Der Kern des eher bescheidenen Museums wurde der bedeutendsten jüdischen  Persönlichkeit in der Geschichte Krakaus, Rabbi Dow Berisch Meisels, gewidmet,  zu dessen Ehren nach der Wende auch eine Strasse benannt wurde. Rabbi Meisels  spielte tatsächlich in der an Kontroversen reichen Geschichte Polens eine  bedeutende Rolle, die weit über den jüdischen Bereich hinausging. Sein Leben war  in erster Linie von den Folgen der dreifachen Teilung des Landes im 18.  Jahrhundert bestimmt.
 
 "Reb Berisch", wie ihn seine Zeitgenossen nannten, entstammte einer sehr  angesehenen jüdischen Familie Galiziens, die ihre Ahnentafel bis auf den  berühmten Mordechai Meisels, dem "Primator" der Prager Judengemeinde und  Geldgeber des deutschen Kaisers Rudolf II. zurückführte (der in Leo Perutz  bekanntesten Roman "Unter der steinernen Brücke" eine wichtige Rolle spielt).  Ein anderer Verwandter gründete die erste Jüdische Druckerei in Polen.
 
 Die Erben Mordechai Meisels büßten den Großteil ihres Vermögens ein, als sich  Kaiser Mathias weigerte, die Schulden seines abgesetzten Vorgängers Rudolf zu  zahlen. Ihre Lage verschlechterte sich weiter, als Kaiserin Maria Theresia die  Juden aus der böhmischen Hauptstadt vertrieb. Die Angehörigen der Prager Meisels  zogen daraufhin in das polnische Krakau, wo die Anordnungen der Kaiserin keine  Gültigkeit hatten. In den folgenden Jahrzehnten teilten sie das Schicksal ihrer  nichtjüdischen Mitbürger im dreifach geteilten Polen.
 Nach den Napoleonischen Kriegen war vom Traum eines unabhängigen Polen nur eine  winzige Enklave um Krakau übrig geblieben, mit deren Errichtung die Mächte beim  Wiener Kongress versucht hatten, ihr schlechtes Gewissen bezüglich der  gebrochenen Versprechen an die Polen zu beschwichtigen.
 
 Der Ministaat Krakau zog polnische Revolutionäre und Nationalisten aus den von  Russland, Preußen und Österreich annektierten Landesteilen an. Was naturgemäß zu  Spannungen in der Stadt an der Weichsel führte. Die jüdische Bevölkerung hielt  sich so gut es ging aus der national-polnischen Bewegung heraus. Nicht so  Berisch Meisels, der seinem 1832 verstorbenen Vater als Oberrabbiner gefolgt  war. Durch seine Heirat mit der Tochter des vermögenden Salomon Bonstein aus  Wiewlicka war er zu einem reichen Mann geworden und hatte sich dank des Kapitals  aus der Mitgift als Bankier in Krakau niedergelassen. Nebenbei war er in die  Fußstapfen seines Vaters getreten, doch seine sozialen Absichten erregten das  Misstrauen der ultrakonservativen Teile der Kehilla. Diese scharten sich um den  "orthodoxeren" Rivalen, Rabbi Schaul Landau. Fünfundzwanzig Jahre lang war die  Krakauer Gemeinde de facto geteilt.
 
 1846 brach in der Stadt eine Revolution gegen die allzu "österreichhörige"  Stadtverwaltung aus und Meisels wurde bei den ersten mehr oder weniger freien  Wahlen zu einem der 12 Senatoren gewählt. 
 Laut der von Vater auf den Sohn überlieferten Familienchronik der Meisels,  übersetzte er zu jener Zeit die französische Marseillaise, damals die  inoffizielle Hymne der europäischen Freiheitskämpfer, ins Jiddische1). Natürlich  anonym, doch bestand bezüglich der Person des Übersetzers kein Zweifel.
 
 1848 brach auch in den übrigen österreichischen und ungarischen Erbländern der  Habsburger die "große" Revolution aus. Nachdem Kaiser "Ferdinand der Gütige" aus  Wien geflohen war, wurde in der westlichen Reichshälfte der erste Reichstag seit  Menschengedenken gewählt, der in Kremsier im Schloß der Erzbischöfe von Olmütz  zusammentrat. Der reformfreudige Oberrabbiner von Krakau wurde zu einem der  Delegierten der Stadt gekürt, wobei er die meisten Stimmen von seinen nicht  jüdischen Mitbürgern erhielt.
 
 Rabbi Meisels war nicht, wie in etlichen historischen Werken angegeben der erste  Jude in einer österreichischen Volksvertretung, aber er war jedenfalls der erste  und einzige Rabbiner in einem so hohen politischen Amt.
 Bei der Eröffnungssitzung nahm er seinen Sitz auf der Seite der  fortschrittlichen Linken ein und nicht in den Reihen der konservativen Rechten,  wo man ihn eigentlich erwartet hätte. Als ihm dies vorgehalten wurde, antwortete  er zweideutig: "Juden haben keine Rechte."
 
 Der Reichstag von Kremsier sollte ein Torso bleiben, wie alle späteren Versuche,  die Struktur des Vielvölkerstaates in Richtung Föderalismus zu reformieren. Was  den Neopolitiker Meisels betraf, so hatte er sich durch sein Eintreten für die  linken Radikalen in Österreich zur Persona-non-grata gemacht. Nach wenigen  Jahren übersiedelte er nach Warschau in den russischen Teil Polens. Wobei unklar  bleibt, warum er das extrem-reaktionäre Regime in Russland, der "verschlampten"  Diktatur in Österreich verzog.
 Der Ruf eines "patriotischen polnischen Juden" – oder "jüdischen Polen" – war  dem Rabbiner indes vorausgeeilt und 1856 wurde er zum Oberrabbiner von Warschau  ernannt. Auch dort setzte er sich für die Rechte der Unterdrückten ein, und als  1861 wieder einmal eine Revolution in Warschau ausbrach – und prompt unterdrückt  wurde, marschierte er an der Seite des Erzbischofs bei den Begräbnisfeiern für  die Opfer. Unmittelbar danach begleitete er den Kardinal und den evangelischen  Bischof bei ihrem Marsch auf das Rathaus, wo sie dem russischen Gouverneur eine  gemeinsame "Sturmpetition" überreichten.
 
 Noch suchten die Vertreter des Zaren einen Kompromiss und ernannten Meisels zum  Vizeregenten und Mitglied des Provisorischen Stadtrats von Warschau.
 Wenn die Russen jedoch geglaubt hatten, dadurch die Lage zu beruhigen, wurden  sie enttäuscht. Der "Rabbi als Staatsmann" setzte sich auch in offizieller  Funktion für die Sache der Patrioten ein. (Die "Encyclopaedie Judaica" meint, er  hätte dadurch ein Pogrom polnischer Erzreaktionäre an der jüdischen Bevölkerung  nach Niederschlagung des Aufstands verhindert.)
 Aber seinen Kredit bei den Russen hat der Rabbiner – wie zuvor bei den  Österreichern – verspielt. 1861 wurde er verhaftet, erst nach etlichen Monaten  freigelassen und aus Russisch-Polen ausgewiesen.
 
 Prominente Engländer luden ihn nach London – damals Hort der verschiedensten  europäischen Emigranten – ein. Nach einiger Zeit gestatteten die Russen ihm die  Rückkehr nach Warschau, wo er bis zu seinem Tod verblieb.
 Allerdings war ihm jede politische Arbeit untersagt und er konzentrierte sich  auf den rein religiösen Bereich. So schrieb er einen Kommentar zum "Sefer  Hamitzvot" des grossen mittelalterlichen jüdischen Philosophen Maimonides.
 Als Gelehrter war er nun unumstritten und die jüdische Gemeinde verlieh ihm den  Ehrentitel "Mahardam" – ein Akronym für " Morenu (unser Lehrer) HaRabbi Dov  Meisels". Damit stellten sie ihn in die Reihe der Grossen des jüdischen Volkes  ein.