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Chanukka und die Geschichte des „Dreidls"

Klaus DAVIDOWICZ

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Wenn wir in diesen Tagen wieder Chanukka feiern, wird in vielen Predigten und Reden wiederum betont werden, dass dieser Feiertag an den Sieg des traditionellen Judentums gegenüber dem assimilierten, hellenisierten Judentum erinnert, bzw. säkulare Deuter werden betonen, dass Chanukka im modernen Zionismus zu einem Symbol nationaler Befreiung stilisiert wurde. D. h. das Fest steht für den klassischen Sieg der Tradition über die Assimilation. Dementsprechend wurden auch die üblichen Gebräuche dieses Festtages im Laufe der Zeit gedeutet und verstanden. Natürlich bekamen sie dabei auch ihre eigenen Legenden. Wie ist es nun mit dem „Dreidl", jenem klassischen Spielzeug der Chanukka-Tage, der, gleich ob er aus Plastik, Glas oder Holz ist, nicht nur für Kinderspiele genutzt wird, sondern auch zahlreiche Plakate und Chanuka - Glückwunschkarten verziert. Wenn man nun den Spruch aus der Mischna, Traktat Chagiga 2,1 nicht beachtet – „Jeder, der vier Dinge erwägt - was oben, was unten, was vorne und was hinten ist, für den wäre es besser, er wäre nicht auf die Welt gekommen" - und nachzufragen beginnt, woher denn dieses Dreidl-Spiel eigentlich kommt, erhält man meist folgende Geschichte:

„Wo entstand dieses wundervolle Spiel? In Wahrheit war es ein Spiel auf Leben oder Tod. Die griechischen Syrer waren eine immer stärker unterdrückende Besatzungsmacht. Anfangs glaubten sie, dass sie die jüdische Bevölkerung zu ihren heidnischen Riten mit Freundlichkeit und Höflichkeit überzeugen könnten. Aber die Juden hielten zu ihrem Verdruss unerschütterlich an ihrer eigenen Religion fest (neben einem kleinen Prozentsatz, der hellenisiert wurde). Frustriert durch ihren Mangel an Erfolg verabschiedete das Regime eine Reihe von Gesetzen, welche das Tora Studium verboten. Sie verbaten auch rituelle Gebote wie die Beschneidung und die Einhaltung des Schabats. Die Juden wurden gezwungen, im Verborgenen Tora zu lernen, da sie wussten, dass ein Jude ohne Tora wie ein Fisch ohne Wasser ist. Um ihre Aktivitäten zu tarnen, zogen sich die Kinder Israel in entlegene Plätze und Wälder zurück. Der Plan war nicht ungefährlich, da der Feind viele Patrouillen hatte. Die Juden nahmen daher kleine Kreisel mit, die sie schnell herausziehen und damit spielen konnten, nachdem sie ihre Texte schnell verborgen hatten. So täuschten sie vor, dass sie nur Spiele spielen würden. Dank dieser List blieb die Tradition der Toragelehrsamkeit intakt." (Yeruchim Eilfort, Why do we play with a top on Chanukka, http://www.chabad.org/holidays/chanukah/article.asp?AID=255909) Nun, so schön diese pathetische Geschichte auch klingen mag - wie auch Rabbi David Golinkin festgestellt hat, ist diese Geschichte eine Erfindung des 19. Jahrhunderts (David Golinkin, On the Origin and Development of the Dreidl, Cardplaying and other Hanukkah Customs, in: A Different Light: The Hanukkah Book of Celebration, hg. von Noam Zion und Barbara Spectre, New York 2000, S.177-183).

Soweit die Legenden. Schauen wir uns nun den „Dreidl" oder Kreisel selbst an. Auf dem „Dreidl" befinden sich die vier hebräischen Buchstaben „Nun, Gimmel, Heh und Schin". Üblicherweise deutet man dies als „Nes gadol haja scham" – „Ein großes Wunder ist dort geschehen". Die in Israel erhältlichen „Dreidl" haben meist vernünftigerweise an Stelle des Schin ein Pe, „Nes Gadol Haya Po" —„Ein großes Wunder geschah hier". Aber diese Umdeutung ist auch relativ neu – sie erinnert an die Eroberung Jerusalems während des „Sechs-Tage-Krieges" 1967. Daher wundert es nicht, dass ultra-orthodoxe antizionistische Kreise wie man sie z. B. in Mea Shearim antreffen kann, ihre Kinder, nur mit traditionellen „Dreidln" spielen lassen. Natürlich gibt es auch noch tiefere und zugleich auch verschrobenere Interpretationen. Kabbalistische Deuter bemühen z. B. das Meer der Numerologie und berechnen munter Nun, Gimmel, Heh und Schin. Dabei erhalten sie die Zahl 358. Man sucht und sucht und findet schließlich heraus, dass das Wort „mashiach – Messias" ebenso den Zahlenwert 358 hat… Andere, die eher verschwörungstheoretisch angehaucht sind, verstehen unter den vier Buchstaben Symbole für die Feinde des Judentums:

Nun steht für Nebukadnezar (Babylon); Heh für Haman (Persien); Gimmel steht für Gog (Griechenland) und Schin schließlich steht für Seir (Rom). Soweit die Legenden, denn die Wahrheit ist wie so oft recht ernüchternd. Der „Dreidl" hat mit Chanukka soviel zu tun wie der Weihnachtsbaum, auch wenn er sich zuweilen „Chanukka-Busch" nennt - nämlich gar nichts. Die Vorlage für das Spiel mit dem Kreisel sind Spiele, die weltweite Parallelen haben. Auch im Wiener „Kunsthistorischen Museum" finden wir alte Spielwürfel, auf denen seltsame Buchstaben-Paare eingeritzt sind. In den Paaren N-D, N-H, N-G, S-Z, L-S, T-A versteckt sich kein geheimnisvoller Würfel-Code, sondern Spiel-Anweisungen wie N(imm) D(eins); N(imm) H(alb);N(imm) G(anz);S(etze) Z(u);L(asse) S(tehen); T(rink) A(us) – bei Minderjährigen Spielern hat das letzte Paar wohl eher die Bedeutung von „Tritt aus" (R. Noll, Seltsame Spielwürfel, in: Bonner Jahrbücher 174, 1974, S.567-570).

Das englische Dreidl-Spiel „Tee - Totum" (Take all) wird bereits im 16. Jahrhundert erwähnt. David Parlett schreibt im „Oxford Dictionary of Board Games" (Oxford 1999, S.29-30), dass dieses Kinderspiel wahrscheinlich im 16. Jahrhundert in Deutschland entstand. Und wenn wir das nächste Mal etwas aufmerksamer durchs Wiener „Kunsthistorische Museum" gehen, werden uns vielleicht in Pieter Brueghels „Kinderspiele" (1560) die Kinder links unten auffallen, die mit einem Dreidl spielen.

Parlett erwähnt auch ein viktorianisches Dreidl-Spiel, das den Namen „Put and Take" trägt. Dies wird mit einem sechsseitigen Dreidl gespielt, der bestimmte Anweisungen auf den Seiten stehen hat. Er beschreibt aber auch einen lateinischen Dreidl, „Totum" genannt (von „alles"), der die Buchstaben P-N-J-F oder A-R-J-F auf den Seiten hat:

"P (French piller, „plunder") or A (Latin accipe, „receive") - retrieve the pool stake;

N (Spanish nada, „nothing") or R (French rien „nothing") - player gets nothing;

J (Middle French  jocque, „game") - the player doubles the pool stake;

F (French fors, „out") - player takes all in the pool." (Parlett, S.29-30).

Eine englische Variante aus dem Jahre 1801 hatte die Buchstaben:

"Nothing - the player gets nothing from the pot; Put - the player puts an agreed upon stake in the pot; Some - the player takes an agreed upon stake from the pot; Take - the player takes the entire pot."

Doch nicht nur bei Parlett, bereits im Grimm´schen Wörterbuch findet sich folgender Eintrag:

„DREHWÜRFEL, m. franz. toton, ein würfel mit einem zäpfchen oben und unten, so dasz er sich wie ein kreisel umdrehen läszt. auf den vier seiten statt der augen buchstaben."

In Anlehnung an die in vielen Ländern beliebten Dreidl-Spiele entstanden folglich im späten Mittelalter die jüdische Dreidl-Spiel-Variante (in Frankreich und Italien „Tam we-Hatzi" [ganz und halb] genannt), die wahrscheinlich nichts mit Chanukka zu tun hatte.

Im Jiddischen wurde das offenbar beliebte Spiel mit dem "Dreidl" oder "Warfl" auch zu Chanukka gespielt - ebenso wie Kartenspiele. Die hebräischen Buchstaben auf dem Dreidl haben im Jiddischen eine ähnliche Bedeutung wie bei den bereits erwähnten Spielen: Nun = (nichts) - man gewinnt und verliert nichts; Gimel = (gut oder ganz) - man gewinnt alles; Heh = (halb) - man gewinnt die Hälfte; Schin = (schlecht oder „schtell ein") - man muss etwas in den „Pott" geben, sonst ist man draußen.

Das Kartenspielen an Chanukka wird übrigens zuerst in einer Responsum von R. Jakob Weil im 15. Jahrhundert erwähnt – der es gestattet. Im „Wormser Minhagbuch des R. Jousep (Juspa) Schammes" (hg. von Benjamin S. Hamburger, Jerusalem 1992) beschreibt Juspa Schammes (1604-1678), dass R. Benjamin Ha-Cohen 1638 das Kartenspielen während des Jahres verbat und nur an Chanukka erlaubte.

Wie bereits David Golinkin festgestellt hat, ist das Dreidl-Spiel eine geradezu entzückendes Beispiel für die Ironie der Geschichte. Gerade an jenem Feiertag, der als Paradebeispiel für den Sieg über die Assimilation stets bemüht wird, spielen wir ein exzellentes Musterbeispiel der kulturellen Assimilation, das „Dreidl"-Spiel….

David Golinkin: „ Of course, there is a world of difference between imitating non-Jewish games and worshipping idols, but the irony remains nonetheless."