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Wöllersdorf: Synonym für den Ständestaat

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Pia Schölnberger: Das Anhaltelager Wöllersdorf 1933-1938. Strukturen - Brüche - Erinnerungen. Reihe: Politik und Zeitgeschichte, Band 9

Wien:  LIT Verlag 2015

432 Seiten, broschürt, Euro 54,90

ISBN 978-3-643-50628-3

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Mit freundlicher Genehmigung LIT Verlag.

Pia Schölnberger hat eine ausführliche, detailgenaue und akribisch recherchierte überarbeitete Fassung ihrer Dissertation über das niederösterreichische Anhaltelager Wöllersdorf (Niederösterreich) vorgelegt.1 Es ist die erste umfassende Arbeit über dieses Anhaltelager und somit ein wichtiger Beitrag zur Geschichte des Austrofaschismus. Das Lager wurde im Herbst 1933 unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuss errichtet. In betonter Abgrenzung zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern entschied man sich für den Begriff „Anhaltelager". Angehalten wurden zunächst „sicherheitsgefährliche Personen", um sie präventiv von ihrer illegalen Tätigkeit abzuhalten. Es wurden also Personen interniert, die als Regimegegner galten, denen jedoch keine strafbare Handlung nachgewiesen werden konnte oder die aufgrund einer solchen bereits strafrechtlich und/oder polizeilich belangt worden waren. Für das Lager wurde eine stillgelegte Munitionsfabrik aus der Zeit der Habsburgermonarchie adaptiert. Es war ein reines Männerlager. Die meisten Häftlinge brachte das Lager im Katastrophenjahr 1934 unter. Die erste grössere Anzahl an Häftlingen waren die Februarkämpfer 2, von denen die ersten Transporte ohne Verurteilung, jedoch mit „dem Verdacht der Teilnahme am Aufruhr" am 19. April 1934 ankamen. Weiters kamen viele nach Verbüssung ihrer gerichtlichen Strafe als Quasi-Verlängerung ihrer Freiheitsstrafe nach Wöllersdorf. So befanden sich am 1. Juni 1934 627 Kommunisten und Sozialdemokraten sowie 317 Nationalsozialisten im Lager. Nach dem Juliputsch am 25. Juli 19343 kippte das Verhältnis und es befanden sich 3.400 Nationalsozialisten und 545 linksoppositionelle Häftlinge in Wöllersdorf. Die Juliputschisten, die nach Wöllersdorf gebracht wurden, galten als sogenannte „Minderbeteiligte", Leute, die an der Aktion im Bundeskanzleramt beteiligt gewesen waren. Aber schon im Herbst 1934 begann eine Entlassungswelle der „Minderbeteiligten". Am 1. Mai 1935 hielten sich nur mehr 283 Nationalsozialisten und 112 Sozialdemokraten und Kommunisten im Lager auf. Bevor Schölnberger auf die Lagerstruktur und den Alltag im Lager eingeht, untersucht sie ausführlich die politischen Rahmenbedingungen bis zur Verfassung von 1934 und die rechtliche Entwicklung der Anhaltegesetzgebung von 1933 bis 1937. Im Anhaltegesetz von 1934 wurden neben der bereits festgeschriebenen Staatsfeindlichkeit auch die Regierungsfeindlichkeit sowie die Zugehörigkeit zu verbotenen politischen Parteien als Anhaltebegründung angeführt. So konnten nun problemlos die verbotenen Nationalsozialisten und die ebenfalls verbotenen Sozialdemokraten (die „Revolutionären Sozialisten", wie sie sich nach dem Verbot nannten) und Kommunisten inhaftiert werden. Die Anhalteverordnung setzte fest, dass die Häftlinge für die Kosten ihres Aufenthaltes im Anhaltelager selbst aufkommen mussten. Diese Kosten beinhalteten die Verpflegung, Herstellung und Einrichtung, Beheizung und Beleuchtung, Bewachung sowie einen Sicherheitszuschlag. Zunächst wurde pro Häftling und Tag ein Tarif von 3.50 Schilling festgesetzt. Dieser wurde später auf 6 Schilling erhöht. Die meisten Häftlinge konnten den Betrag nicht bezahlen. Dann wurden die Kosten gestundet oder für uneinbringlich erklärt. Auch wurde die Anhaltedauer für bestimmte Delikte festgesetzt, wobei aber die unbefristete Anhaltung in den meisten Fällen weiterhin gehandhabt wurde - wovon vor allem Kommunisten und Juliputschisten betroffen waren. Folter, schwerste Zwangsarbeit, Terror und Massenvernichtung, die den Lageralltag in nationalsozialistischen Konzentrationslagern prägten, gab es in austrofaschistischen Anhaltelagern nicht. Körperliche Züchtigung war grundsätzlich verboten. Es gab in jedem Raum elektrisches Licht, ausreichend grosse Bewegungsmöglichkeit im Freien, Kessel zum Wäschekochen und Tischherde zur Bereitung von Tee. Die Verpflegung war ausreichend, es gab sogar drei Mal pro Woche Fleisch, es war gut geheizt. Einmal in der Woche konnte man ein 5 kg schweres Paket bekommen. Ein Brief und zwei Postkarten pro Woche, allerdings nur an Angehörige, waren erlaubt. Die Häftlinge durften erlaubte Bücher und regierungskonforme Zeitungen lesen. Auch Rauchen war erlaubt. Die Häftlinge hatten Arbeiten innerhalb des Lagers zu verrichten, davon wurden jedoch je nach Lagerkommandantur mehr oder weniger verlangt. 1937, als das Lager nur aus 200 Häftlingen bestand, war die Wahrscheinlichkeit, arbeiten zu müssen, grösser als 1934, als das Lager zwischen 2.000 und 4.000 Gefangene zählte. Sie wurden zu Hilfsdiensten bei Adaptierungsarbeiten herangezogen und zu Strassen- und Erdarbeiten im Lagerbereich. Der Hitlergruss und Gemeinschaftssingen waren verboten. Alles in allem waren die Verhältnisse im Lager ausgesprochen moderat. Häftlinge berichteten: „Die Überwachungsmannschaft der Gendarmerie verhielt sich korrekt" oder „Im Lager herrscht ein netter Ton und die Exekutivorgane verhalten sich sehr korrekt". Es gab Vorträge und Kurse, u. a. in marxistischer Theorie, aber auch z. B. in Morsezeichen. Man las nicht nur das Kommunistische Manifest zusammen, sondern auch Homers Odyssee. Die Kommunisten errichteten eine regelrechte Parteischule. Aber auch die Nationalsozialisten organisierten regelmässig Schulungsvorträge, wobei die Versammlungen trotz Verbot mit dem Deutschland- und Horst-Wessel-Lied endeten. Diese Schulungen entsprachen freilich nicht der Intention der Regierung. Der Häftling sollte im Lager einer Läuterung unterzogen werden, um nach seiner Entlassung nicht mehr als staatsfeindliches Element wirken zu können. Obwohl Häftlinge das Lager fast als ein „Erholungsheim" oder „Sanatorium" beschrieben, litten doch viele angesichts der Ungewissheit über das Ende der Internierung an Depressionen. Insbesondere die Sorge um ihre Familie quälte sie, die nun keinen Ernährer hatte. Die Anhaltung auf unbestimmte Zeit sollte die Häftlinge zermürben. Suizide kamen dennoch sehr selten vor. Nach dem „Anschluss" im März 1938  wurden alle Häftlinge entlassen und das Lager teilweise niedergebrannt. Kurze Zeit wurde es für Schutzhäftlinge verwendet und schliesslich im Juni 1938 aufgelassen. Das Buch ist voller interessanter Details, jedes Gesetz, jeder Paragraph wird ausführlich behandelt. Wenn seine Lektüre für den Laien - nicht zuletzt wegen seiner der Dissertation geschuldeten zahlreichen Details und des akademisch-trockenen Stils - auch ein wenig ermüdend ist, kann es doch als ein für die wissenschaftliche Fachwelt wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der österreichischen Geschichte zur Zeit des Ständestaates betrachtet und als grosse wissenschaftliche Leistung bewertet werden.

1   Siehe auch:  http://orf.at/stories/2323650/2323657/ (Anmerkung der Lektorin)

2  Der Februaraufstand fand vom 12. bis 15. Februar 1934 statt. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei kämpfte gegen Dollfuss Heimwehr.

3   Am 25. Juli 1934 versuchten die illegalen Nazis zu putschen, wobei Bundeskanzler Dolfuss erschossen wurde. Nach einem zweistündigen Schusswechsel mit der Exekutive ergaben sich die Putschisten.