Christoph Tepperberg
Michael Hochedlinger, Thron & Gewehr. Das Problem der Heeresergänzung und die »Militarisierung« der Habsburgermonarchie im Zeitalter des Aufgeklärten Absolutismus (1740–1790). (= Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchivs, 45)
Graz: Steiermärkisches Landesarchiv 2021.
806 Seiten, brosch., zahlreiche Farb- u. s/w Abb., Euro 99,00.-
[ohne ISBN]
Michael Hochedlinger ist stellvertretender Direktor des Kriegsarchivs in Wien. Bei seinen zahlreichen Publikationen über Archivwesen und Militärgeschichte kommt ihm der »barrierefreien« Zugang zu einschlägigen Quellen des Österreichischen Staatsarchivs und der Landesarchive zugute. Mit vorliegendem Werk erntet Michael Hochedlinger die Früchte seiner jahrzehntelangen Forschungen über Staat und Militär der Habsburgermonarchie. Die Studie behandelt auf breitester Quellenbasis ein Schlüsselthema der neuen Militär- und Verwaltungsgeschichte: die Bedeutung von Heeresaufbringung und Heeresergänzung in Kriegs- und in Friedenszeiten.
In der Einführung begründet der Autor seine These von der »Militarisierung« der Habsburgermonarchie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. (S. 19-41) Das Werk ist chronologisch in drei Hauptabschnitte gegliedert: Im ersten Teil (A) werden in einem weit ausholenden Überblick die »Voraussetzungen« seit dem Spätmittelalter skizziert. (S. 45-150) Der zweite und bei weitem umfangreichste Teil (B) ist der »Militarisierung« der Habsburgermonarchie während der Regierungszeiten Maria Theresias und Josephs II. 1740–1790 gewidmet. (S. 151-563) Im dritten Teil (C) »Expansion und Implosion« werden die »Ausdehnung und Überspannung des Militärsystems« zwischen 1784 und 1790, quasi der Zusammenbruch des josephinischen Militärstaates während der letzten Lebensmonate Kaiser Josephs II. behandelt. (S. 565-718) Ein kurzes Schlusskapitel »Neue Kräfte – Zusammenfassung und Ausblick« fasst die Ergebnisse zusammen und bietet einen Ausblick bis hin zur Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht in Österreich-Ungarn im Jahre 1868. (S. 719- 731)
In dem Band wird nicht nur die Heeresergänzung im engeren Sinne behandelt, sondern auch zusammenhängende Fragen ausführlich erörtert: Unterbringung (»Bequartierung«) und Verpflegung der Soldaten, Pferdebeschaffung (»Remontierung«), Ausrüstung und Uniformierung, Invalidenversorgung, Militärbildungswesen, die Stellung von Soldatenfrauen und Soldatenkindern, Militärsanitätswesen, und nicht zuletzt Rekrutierungsflucht, Selbstverstümmelung und Desertion. Dazu werden die für das Verständnis erforderlichen Brücken zur Zivilverwaltung geschlagen, etwa der bedeutende Schritt des Meldewesens: »Konskription« mit Nummerierung der Häuser. (S. 350-550) All die einschneidenden Veränderungen geschahen im Zuge der Verstaatlichung des Heerwesens einerseits und einer zunehmenden Militarisierung des Gemeinwesens anderseits. Letzteres bedeutete das Ausgreifen des Militärs auf wirtschaftliche und soziale Bereiche unter den beiden grossen Reformern Kaiserin Maria Theresia (1717–1780) und ihres Sohnes Kaiser Joseph II. (1741– 1790).1
Für die Leser des DAVID ist vor allem der Abschnitt über »Die Einführung der Militärdienstpflicht für Juden« (S. 595-608) unter Joseph II. von Interesse: Die Situation der habsburgischen Judenschaft vor 1772 (S. 595-597) Die Juden in Galizien (S. 597-598), Die josephinischen Toleranzverordnungen (S. 598-601), Der Militärdienst als Homogenisator (S. 601-605) und Praktische Probleme (S. 605-608).
Ein wesentlicher Teil der Reformen des aufgeklärten Herrschers war seine Toleranzpolitik, auch seine Judenpolitik. Dabei diktierte, was für die meisten seiner Reformschritte galt, nicht etwa »aufgeklärte Herzenswärme« den Kurs, sondern staatsbezogenes Utilitätsdenken. Joseph hegte für seine jüdischen Untertanen keine besonderen Sympathien. Ihm ging es, wie er selbst immer wieder betonte, in erster Linie um ihre »Nutzbarmachung« für den Staat. Seine Massnahmen sollten die gesellschaftliche Ghettoisierung der Juden durchbrechen und Loyalität gegenüber dem Staat erzeugen. Auch wollte der Kaiser das ökonomische Potenzial der jüdischen Bevölkerung besser ausschöpfen. Joseph II. als »Judenbefreier« stellte unabhängig von seiner Motivation einen radikalen Bruch mit der bisherigen Judenpolitik dar. Noch seine Mutter Maria Theresia hatte aus ihrem religiösen Antisemitismus keinen Hehl gemacht. (S. 595) In einem Verdikt aus dem Jahre 1777 bezeichnete sie die Juden als »die schlimmste Pest für einen Staat«. Berüchtigt war ihr internationales Aufsehen und Proteste erregende Versuch, die gesamte böhmisch-mährische Judenschaft während des Österreichischen Erbfolgekrieges (1740-1748) wegen angeblicher Kollaboration mit den Feinden Habsburgs auszutreiben. (S. 596) Nicht zu vergessen die radikal judenfeindliche »Constitutio Criminalis Theresiana« (1769),2 die schliesslich durch das Josephinische Strafgesetzbuch ihres Sohnes (1787) abgeschafft wurde. (S. 595-596)
Für das Habsburgerreich wurde die »Judenfrage« durch die Einverleibung Galiziens (1772) und der Bukowina (1775) staatspolitisch relevant. Durch die Annexion dieser Provinzen kam es zu einem exorbitanten Anstieg des jüdischen Bevölkerungsanteils in der Monarchie. 1772 machten die Juden fast zehn Prozent der galizischen Gesamtbevölkerung aus. 1787 umfasste die Judenheit der Monarchie 370.755 Personen, davon lebten 210.898 in Galizien, 80.894 in Ungarn. Kein Wunder also, dass Habsburgs Erzfeind, König Friedrich II. von Preussen (1712-1786), Joseph II. spöttisch »König von Jerusalem« nannte. Die Landesstellen Galiziens (Gubernium und Kommandierender General) äusserten sich höchst nachteilig über die jüdische Bevölkerung, berichteten über die Verslumung der Ghettos durch Überbelegung der Häuser und forderten den Abriss des Lemberger Judenviertels. Diese »Betteljuden«, deren hohe Anzahl durch sehr frühes Heiraten zustande komme, zahlten keine Kopfsteuer und versuchten der Registrierung zu entgehen, um nicht »abgeschafft« zu werden. (S. 598)
Die Josephinischen Toleranzverordnungen sah die Judenschaft nun nicht mehr als »Nation« mit Sonderrechten, sondern als Staatsbürger. Zwischen 1781 und 1789 wurden für die meisten Kronländer der Monarchie Toleranzverordnungen verlautbart. Doch gab es im Habsburgerreich keine einheitliche Judenpolitik, weil eklatant unterschiedliche Lebenswelten. Entsprechend hatten die Toleranzgesetze auf die Judenheit in den Kronländern völlig unterschiedliche Effekte. Die Toleranzgesetze brachten Vorteile für die dünne städtische vermögende Bildungsschicht in Prag, Wien, Görz-Gradiska und dem Freihafen Triest (S. 596-597). Für den Grossteil der (orthodoxen) Judenheit der Monarchie hingegen, nämlich in Galizien, Ungarn und der Bukowina, bedeutete die neue Toleranz einen Angriff des Staates auf ihre Identität. Dort kämpfte der Herrscher an zwei Fronten: gegen die jüdische Selbstisolation und gegen christliche Ausgrenzung. Im Laufe der 1780er Jahre wurde die jüdische Selbstverwaltung in Galizien weitgehend aufgehoben, das Hebräische im jüdischen Schulwesen wesentlich eingeschränkt. Es kam zur Aufhebung der diskriminierenden Bekleidungsvorschriften, Juden wurden zu Handwerksberufen zugelassen, ihnen wurde der Erwerb von Grund und Boden gestattet. (S. 601) Eine Intention des Herrschers war dabei, die jüdische Bevölkerung durch Regulierungen zahlenmässig zu reduzieren, sie verstärkt in die landwirtschaftliche Produktion einzubinden (Judenordnung für Galizien, 1789). 1788 wurden auch »allgemein verständliche deutsche Familiennamen« vorgeschrieben, die heute als »typisch jüdische Namen« wahrgenommen werden. Diese staatliche Berufsregulierung führte zu einer Landflucht und trug nicht unwesentlich zur Verproletatisierung und Verelendung der städtischen Judenviertel bei.
Ein Ergebnis der »neuen Toleranz« war auch die damals heftig umstrittene, mit vielfältigen Problemen einhergehende Rekrutierung jüdischer Männer zum Militärdienst. Die Habsburgermonarchie war die erste europäische Grossmacht, die diesen Weg beschritt. Frankreich folgte erst während der Revolution, Preussen im Jahre 1812, Russland 1827. Bis dahin zählten Juden für das Militär zu den »Verbotenen Nationen«, »Frauen und Juden« kamen für den Militärdienst nicht in Frage. Joseph II. und seine Umgebung begannen sich jedenfalls für die Assentierung von Juden zum Militärdienst zu erwärmen. Es kam in der Folge zu Auseinandersetzungen zwischen Zivilbehörden und Militärstellen, insbesondere der Hofkanzlei und dem Hofkriegsrat. Das Militär lehnte eine Assentierung von Juden strikt ab und trat weiterhin für die finanzielle Auspressung der Judenschaft durch Militärbeiträge ein, insbesondere in Galizien. Ein Argument waren die jüdischen Speisevorschriften, die in der militärischen Praxis nicht eingehalten werden könnten. Die Hofkanzlei konterte, dass Juden in der Vergangenheit durchaus kriegerisch agiert hätten, erinnerte an die Wehrhaftigkeit der Israeliten in biblischer Zeit und ihre militärischen Leistungen in den Schwedenkriegen. Widerstand kam nicht nur vom Hofkriegsrat, sondern auch von der Judenschaft selbst. 1788 trafen mehrere Bittgesuche jüdischer Gemeinden aus Galizien, Ungarn, Böhmen und Mähren in Wien ein: Der Militärdienst solle auf Freiwilligkeit beruhen oder durch Geld ablöst werden können. Die Argumente von Rabbinern und Hofkriegsrat wurden jedoch von Kaiser und Hofkammer zurückgewiesen. Der Herrscher duldete keine weitere Sonderstellung für Juden. Ein Hofdekret vom 18. Februar 1788 erklärte die galizischen Juden als für den Militärstand tauglich. Sie waren nunmehr als Fuhrwesensknechte für das Fuhrwesenskorps (Train) oder als Stuckknechte für die Artillerie zu assentieren, beides sowieso wenig geachtete Spezialbranchen. In der Praxis wurden in erster Linie arme, nicht haussässige Juden rekrutiert. Es kam zu panikartigen Fluchtbewegungen, was sich wiederum nachteilig auf den Handel auswirkte. Und das, obwohl die ersten Einberufungen nicht einmal einen unter 5.000 Personen, also nur einen minimalen Teil der Wehrpflichtigen betrafen. Mit der Judenordnung für Galizien (1789) war der Dienst beim Fuhrwesen verpflichtend, freiwillig aber auch beim Feuergewehrstand, also bei den Infanterieregimentern möglich. Diese Regelungen wurden in der Folge auf die gesamten Erblande ausgedehnt.
Den jungen Männern wurden bei der Assentierung Bärte und Schläfenlocken kurzerhand abgeschnitten. Sie hatten ihr Gelöbnis in Abwandlung der christlichen Eidesformel auf eine Thora-Rolle zu leisten: »Verheissung des wahren Messias, seines wahren Gesetzes und die zu unseren Vätern gesandten Propheten«. Seitens der Rabbiner bestand die Sorge, dass junge Männer durch den Militärdienst infolge Vernachlässigung ritueller Gebote ihrer Religion entfremdet würden. Militärdienst bedeutete selbst für christliche Rekruten eine hohe physische und psychische Belastung. Umso mehr für jüdische Rekruten, die weitgehend isoliert unter ihresgleichen aufgewachsen waren. Entsprechend litten auch viele von ihnen unter »Gewissensbeklemmung«, Heimweh und Unterernährung. Es war ihnen zwar gestattet, in eigenen (koscheren) Kameradschaften »abzukochen«, die Möglichkeit hierzu dürfte aber nicht sehr oft ergeben haben. Eine Alternative zur nichtkoscheren ärarischen Verköstigung bestand lediglich in der Beistellung von koscherer Verpflegung durch die jüdische Bevölkerung in der Umgebung. Jedenfalls führte der Mangel an koscherem Fleisch zu einem Übergenuss von Milchproduktion.
Im Juli 1788 dienten bereits 2.500 Juden in der k. k. Armee. Die Urteile der Zeitgenossen schwankten zwischen Lobeshymnen und plumper Verhöhnung angeblicher jüdischer Tollpatschigkeit. Dabei waren galizische Juden wegen ihrer guten Deutschkenntnisse mehr geschätzt als ihre polnischen und ruthenischen Landsleute. Besonders hervorgehoben wurden die Leistungen jüdischer Soldaten im Sanitätsdienst. (S. 605-608) Im 19. Jahrhundert dienten jüdische Soldaten in den meisten Branchen der k. u. k. Armee, der Erste Weltkrieg (1914–1918) brachte, insbesondere unter den Reserveoffizieren aus assimilierten jüdischen Familien, überproportional viele Helden hervor.3
Der Band enthält umfassende Quellen- und Literaturverzeichnisse, dazu Verzeichnisse der Abkürzungen und Abbildungen sowie Angaben über den Autor. (S. 731-806) Freilich wären Orts- und Personenverzeichnisse, vor allem aber ein Sachregister wertvolle Handreichen gewesen. Ein über 800 Seiten starker und 3 Kilo schwerer »Ziegel«, broschiert (ohne festen Einband) und ohne ISBS ist dem wissenschaftlichen Stellenwert der Publikation keineswegs angemessen. Es wäre daher zu wünschen, dass sich ein Verleger findet, der dieses Werk, mit allen Registern ausgestattet, gebunden, vielleicht in zwei Teilbänden, mit Abbildungen und Faksimiles in bessere Qualität, herausgeben könnte. Hochedlinger ist für seine lebendige Sprache und seine pointierten Formulierungen bekannt. Deshalb ist das Buch trotz seines Umfangs und seiner Detailfülle gut lesbar. Trotz der erwähnten Defizite ein epochales Werk der österreichischen Militär- und Verwaltungsgeschichte.
Anmerkungen
1 Vgl. auch die Rezension von Thomas Winkelbauer in den Mitteilungen des Instituts für Österreichisch Geschichtsforschung (MIÖG), Bd. 131 (2023), S. 419-421.
2 Vgl. DAVID, Hefte 115 – 06/2017 und 123 – 01 / 2020.
3 Vgl. DAVID, Hefte 93 – 06/2012, 101 – 07/ 2014 und 102 – 09/2014.