Lieber Herr Beresin,
Ganz herzlichen Dank für die diesjährige Pessach-Ausgabe der Kulturzeitschrift DAVID, immer wieder mit mein Wissen bereichernden Beiträgen. Wie zwingend doch die Rückschau auf die jüdische Geschichte in der Diaspora, auf den Glanz jüdischen Geistes und jüdischer Kultur, den nicht enden wollenden Verletzungen zum Widerspruch. Das Bitterkraut am Sedertisch, wann wird es sich erübrigen, nur Erinnerung sein? Die Aufmerksamkeit der Medien konzentriert sich auf jene, die auf den Strassen und Plätzen Anti-Israel-Parolen skandieren zugleich gespickt mit Hasstiraden gegen alles angeblich „typisch Jüdische“. Selbst in politischen Reden und Sympathiebekundungen geht der Blick verloren auf das, was den Untaten in unserer Zeit vorausging: Die „Blutspur“, von der Pinchas Lapide s.A. mir gegenüber einmal sprach, die in den Pogromen vor tausend Jahren zum Beispiel in Mainz ihren furchtbaren Ausgang nahm, als die Kreuzfahrer das päpstliche Deus lo vult auf ihre Weise auslegten und praktizierten, diese Blutspur führt zu dem Allahu akbar der Hamas-Terroristen – von der den G‘ttesnamen lästernden Anmassung „In dem ich mich des Juden erwehre kämpfe für das Werk des Herrn“ (des Verfassers der NS-Bibel „Mein Kampf“) zur Vernichtungsstrategie der militanten Islamisten.
Das grauenvolle Sterben liefert die Schlagzeilen in unseren Tagen – als wäre da nicht noch etwas anderes. Die Marr und Treitschke, Stöcker und Freytag, Fichte und Hegel, der Turnvater Jahn und nicht zuletzt die Brüder Grimm – wer noch als geistige Wegbereiter des sogenannten modernen Antisemitismus deutscher Provenienz. In Österreich fehlt es nicht an gleichgesinnten Namen. „Jud is Jud“ – seit Jahrhunderten tradiertes Klischee – Stimmen, die mir auf meinen Rundgängen immer wieder begegnen. In Wiesbaden halten bestimmte Kreise den nassauischen Mundartdichter Rudolf Dietz (1863–1942) bis heute für einen ehrenwerten „Heimatdichter“, ungeachtet seiner an Widerwärtigkeit nicht zu überbietenden, Juden und Judentum herabsetzenden Verse. An der Öffentlichkeit vorbei (jeder siebte Einwohner hat Migrationshintergrund) hacken Befürworter und Gegner aufeinander ein. Mal ging es um die Umbenennung einer nach Dietz benannten Schule (inzwischen erledigt), jetzt um einen Strassennamen. Der Ortsvorsteher eines Wiesbadener Stadtteils, Geburtsort von Dietz, spricht von möglichen positiven Verdiensten des braunen Barden und Streicher-Verschnitts, wie ich ihn bezeichnen möchte, gemessen an seinen antijüdischen lyrischen Pamphleten. Ich denke, es handelt sich nicht nur um eine Lokalposse um parteipolitische Interessen. Der Vorgang legt vielmehr die Wurzeln bloss. Und die sind fruchtbar noch, nicht nur am Rhein. Ich füge nachfolgend die Kopie eines Email-Briefes an die Lokalredaktion des Wiesbadener Kuriers bei, deren Berichterstattung ich als nicht ganz hinreichend empfand, vornehm ausgedrückt. Wie zu erwarten: keine Reaktion von dort. Mag ja sein, dass es vergebliche Mühe ist, gegen diese Indolenz, Ignoranz oder was weiss ich, anzukämpfen. Dennoch will ich es mit Joann Sfar halten (zitiert nach DAVID): „Deshalb muss man aber nicht die Klappe halten.“
Es grüsst Sie herzlich und nicht vergessend Ihnen und Ihren Lesern anlässlich des jüdischen Festes des Friedens, Mut zuzusprechen, Hoffnung wider alle hoffnungslose Hoffnung.
Ihr Werner Kaltefleiter, Wiesbaden, 02.05.2024