Christoph Tepperberg
Gertrude Enderle-Burcel (Hrsg.): Heinrich Wildner Tagebücher 1938-1944. »Heute geht es gegen die Juden, morgen kann es gegen die anderen gehen…«, bearbeitet von Gertrude Enderle-Burcel und Roland Starch.
(= Schriftenreihe des Institutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg, hrsg. v. Robert Kriechbaumer, Franz Schausberger und Hubert Weinberger, Bd. 83)
Wien: Böhlau Verlag 2022.
Gebunden, 968 Seiten, Euro 89,50.- (Print), 85,00.- (e-Book)
ISBN: 978-3-205-21453-3
Die Editor*innen (Bearbeiter*innen)
Gertrude Enderle-Burcel (geb.1950) ist eine vielpublizierende Zeithistorikerin. Sie hat Routine und Erfahrung mit der Edition von Geschichtsquellen (Ministerratsprotokolle der Ersten und Zweiten Republik Österreich, Tagebuchnotizen des Adolf Schärf, Briefwechsel zwischen Berta Zuckerkandl und Gottfried Kunwald). Über die Tagebücher Heinrich Wildners hat Enderle-Burcel 2022 einen Beitrag im DAVID publiziert.1 Roland Starch (geb. 1970) ist Historiker und Politikwissenschafter. Er verfasste eine Diplomarbeit zum Thema »Die KPÖ und die Komintern« (2009).
Die Edition der Tagebücher
Der Band beginnt mit zwei einführenden Beiträgen. 1. Gertrude Enderle-Burcel: »Darstellung der Quelle – Grundsätzliches zur Edition«. Darin werden Überlieferung, Umfang, Charakter und Inhalt der Tagebücher erläutert. (S. 9-17) 2. Gertrude Enderle-Burcel / Roland Starch: »Heinrich Wildner – eine biografische Annäherung« (S. 19-39). Darauf folgt das Herzstück des Bandes: die Edition der Tagebücher. (S. 41-494) Den Abschluss der Publikation bildet ein Anhang: Erläuterungen zur chronologischen Reihenfolge, Literaturhinweise, Biografien, Verwandtenliste, Geografisches Register, Personenregister und Abbildungsverzeichnis. (S. 495-967) Natürlich sind die Texte auch mit einem Anmerkungsapparat (Fussnoten) versehen. Durch diese wissenschaftliche Aufbereitung der Tagebücher hat der Band mit 968 Seiten einen bemerkenswerten Umfang und wiegt fast zwei Kilo. Die Quelle besteht aus den von Wildner in der damals gebräuchlichen Gabelsberger-Stenographie verfassten Tagesnotizen und den daraus in den 1950er Jahren vermutlich von Wildner selbst diktierten Typoskripten. Ein Beispiel für die »Gabelsberger« findet sich auf dem Buch-Cover. Der vorliegende Editionstext ist eine Kombination aus beiden Überlieferungen. Notizen und Typoskripte gehören zum Nachlass Wildner, der im Österreichischen Staatsarchiv verwahrt wird. (S. 11)
Heinrich Wildner und seine Tagebücher
Heinrich Wildner, geb. 1879 zu Reichenberg in Böhmen (Liberec/Tschechien), gest. 1957 in Wien), stand 1903-1949 im diplomatischen Dienst, zunächst in Österreich-Ungarn, dann in der Ersten und Zweiten Republik Österreich. Wildner war ein grossdeutsch gesinnter, katholischer Konservativer und galt als Gegner der NSDAP. Entsprechend wurde er 1938 nach dem »Anschluss« von den Nationalsozialisten in den Ruhestand versetzt. Als Pensionist und Privatmann verbrachte er die Jahre der NS-Herrschaft 1938-1945 in Wien. Er hatte nun viel Zeit, kam bei seinen ausgedehnten Spaziergängen mit ehemaligen Kollegen und Bekannten zu vielfältigen Informationen. Der kaltgestellte, aber immer noch gut vernetzte ehemalige Spitzendiplomat liefert detaillierte Angaben zu Geschehnissen in Wien, zu Kriegs- und Frontereignissen, zum Verhalten ehemaliger Kollegen und Zeitgenossen aus Politik und Verwaltung, zu Gerüchten und Witzen. Seine Tagebücher vermitteln nachhaltige Eindrücke vom herrschenden Denunziantentum und Stellenjägerei, von Anbiederung an die neuen NS-Machthaber einerseits, die rasch eintretende antideutsche Stimmung in der Bevölkerung andererseits. Er berichtet von Enteignung von Klöstern und adeligem Grossgrundbesitz, von Kunstraub, Verhaftungen, Euthanasie, Zwangsarbeit und Kriegsverbrechen.
Die Tagebücher als Quelle zur Geschichte des Holocaust
Die Tagebücher sind zugleich eine wertvolle Quelle zur Geschichte des Holocaust. Ein wesentliches Anliegen der Holocaust-Forschung ist die Frage nach dem Wissensstand der Zeitgenossen um die Verfolgung und Vernichtung der Juden. Wildners Wissen um die Gräueltaten des NS-Regimes war umfassend. Durchgängig finden sich Hinweise auf solche Gräuel, auf Entrechtung, Verfolgung und den Massenmord an der jüdischen Bevölkerung in Österreich und in den besetzten Gebieten. Zum 15. November 1938 findet sich ein Eintrag – er ist zugleich der Untertitel des Bandes: »Heute geht es gegen die Juden, morgen kann es gegen die anderen gehen. (S. 30 u. 115) Seine Notizen weisen ihn zugleich als Antisemiten aus. (S. 25) Zum 29. Juni 1938 notierte er: »Es ist doch traurig, dass die früheren Regierungen ohne Juden nicht auskommen konnten und sich sie nicht entsprechend vom Leib gehalten haben.« (S. 29 u. 83) Auch sein Wissen um die Massenmorde änderte nichts an dem durchwegs spürbaren Antisemitismus. Seine ab 1942 angestellten Überlegungen für die Gestaltung einer Nachkriegsordnung schlossen Juden dezidiert aus. Emigranten und Juden hatten in Wildners Konzepten keinen Platz.
Die Wildner-Tagebücher sind eine bemerkenswerte Quelle zur österreichischen Zeitgeschichte. Der vorliegende Band ist ein mit Sachkenntnis und Routine geschaffenes grossartiges Editionswerk.
Anmerkung
1 Gertrude Enderle-Burcel: Was wusste man 1938–1944 in Wien vom Holocaust? Nationalsozialisten, Opportunisten, politisch und »rassisch« Verfolgte – erschreckende Zeugnisse in den Tagebüchern von Heinrich Wildner. In: DAVID, Heft 133 – 08/2022
(https://davidkultur.at/artikel/was-wusste-man-19381944-in-wien-vom-holocaust)