Ausgabe

Sprechen Sie Habsburgerisch? „Von Friedensfurien und dalmatinischen Küstenrehen“

Christoph Tepperberg

Inhalt

Tamara Scheer: Von Friedensfurien und dalmatinischen Küstenrehen.

Vergessene Wörter aus der Habsburgermonarchie.

Wien: Amalthea Verlag 2019

224 Seiten mit 57 Abb. in Farbe; 25 Euro

ISBN 978-3-99050-145-0

 

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Dr. Tamara Scheer, geb. 1979, ist eine österreichische Historikerin. Ihre Forschungs- und Lehrtätigkeit führte sie in den letzten Jahren nach Dublin, Ljubljana, Florenz, Oslo und Budapest. Seit 2019 ist sie Archivarin am Päpstlichen Institut S. Maria dell‘Anima in Rom. Neben ihrer Lehrtätigkeit am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien und ihrer internationalen Vortragstätigkeit, arbeitet sie an einem mehrjährigen Forschungsprojekt zur Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit in der Habsburger Armee. Scheer verbrachte den Grossteil ihrer letzten Forschungsjahre mit Aktenstudien in den Lesesälen der Archive Südost- und Mitteleuropas. Der vorliegende Band ist zwar ein Nebenprodukt ihrer eingehenden Quellenstudien, womit die Autorin aber zugleich die Früchte ihrer intensiven Forschungen erntet. Durch ausführliche Kontextualisierung ihrer Quellenfunde entstand ein ansprechendes, interessantes und originelles Büchlein, ein wissenschaftliches Lesebuch sozusagen, mit dem es der Autorin gelang, ein Stück weit die Atmosphäre jener versunkenen Welt des Alten Österreich einzufangen.

 

Neben »Friedensfurien« und »dalmatinischen Küstenrehen« tummelte sich noch so einiges mehr in den Weiten der k. u. k. Monarchie: Die »Galizische Wirtschaft« beherrschte Lemberg im Osten, »Knödelfresser« dominierten das istrische Pola im Süden, während im heutigen Burgenland die »Bohnenzüchter« eifrig das Land bestellten, um die Reichshauptstadt Wien mit frischem Gemüse zu versorgen. Die Gesellschaft des Landes war vielgestaltig – wie auch ihr inoffizieller humoristischer Wortschatz. Diesen sucht man vergebens in Wörterbüchern: Es sind originelle Neuschöpfungen, die die Bewohner der Donaumonarchie für ihre nächsten Nachbarn, Regionen, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens oder gesellschaftliche und politische Phänomene kreierten. Viele dieser Wörter verschwanden nach 1918 aus dem Sprachgebrauch. Tamara Scheer hat sie aus Tagebüchern, Briefen, Feuilletons und Büchern wieder ausgegraben und porträtiert unterhaltsam und informativ Sprache und Lebensalltag der späten Habsburgermonarchie. (Buchklappentext)

 

Der Band wird eingeleitet durch ein bemerkenswertes Vorwort des Historikers Pieter M. Judson, Univ.-Prof. in Florenz, gefolgt von einer „Kurzen Geschichte der späten Habsburgermonarchie“ der Autorin. Daran schliessen in alphabetischer Reihenfolge die einzelnen ausführlichen Artikel von “Amnestiekarl“ bis “Zweite Menage“. Abgeschlossen wird die Darstellung durch einen „Epilog: Der kakanische Tinnitus“ des bekannten ORF-Journalisten Martin Haidinger.

 

Hier einige Kostproben dieser „habsburgerischer“ Ausdrücke, die auch das Judentum mit einschliessen: Dalmatinische Küstenrehe: ironische Bezeichnung für Schafe. Faktor: (jüdischer) Wohnungsmakler. Friedensfurie: abschätzige Bezeichnung für die bekannte Pazifistin Berta von Suttner. Moses-Dragoner: militärärztliche Eleven, die zu Militärärzten ausgebildet wurden und zu einem guten Teil jüdisch oder jüdischer Herkunft waren. Regiment Freiherr von Rothschild: so nannte man spöttisch k. u. k. Regimenter, in denen tatsächlich oder vermeintlich eine hohe Anzahl an Offizieren oder Soldaten jüdischer Religion oder Herkunft diente.

 

Die von Tamara Scheer kontextualisierten Begriffe sind meist satirische Zuspitzungen, manche waren Schöpfungen und Reflexionen von Schriftstellern, die ihren Erzählungen einen besonderen Schwung verliehen. Das heisst nicht, dass man die Authentizität dieser Begriffe in Frage stellen muss, man muss allerdings deren Hintergrund richtig einordnen. Bei Arthur Schnitzler z. B. werden die militärärztlichen Eleven als „Moses-Dragoner“ bezeichnet. Dies war aber auch bzw. vor allem die Bezeichnung für die Train-Truppe, denn das k. k. Fuhrwesen war ursprünglich die einzige Truppengattung, bei der Juden zum Militärdienst zugelassen waren. Schnitzlers Statement zeigt, dass derartige Zuschreibungen – damals wie heute – einem steten Wandel unterworfen sind.

 

Ein Literaturverzeichnis, ein Bildnachweis sowie eine Kurzbiografie der Autorin (S. 217-222) ergänzen diesen interessanten, originellen und informativen Band.

Leseproben siehe unter: http://p.newslettertogo.com/nphh51bb-h21tpu2f-an77p9qu-108p