Ausgabe

Jüdische Spuren in Niederösterreich Theodor Kramer (1897 - 1958)

Ingrid Nowotny

Ein schöner Sommertag, eine gemächliche Fahrt durch Weingärten im welligen Hügelland des niederösterreichischen Weinviertels, ein Besuch im idyllischen Obstgarten hinter einer alten Schmiede bei lieben Freunden. Niederhollabrunn, ein ruhiges Dorf – man möchte meinen, die Zeit sei hier stehen geblieben und auch die Geschichte hätte sich hier ereignislos zugetragen.

Inhalt

Ein Gläschen löst ja bekanntlich die Zunge, und wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht, kommt das Gespräch bald auf die Menschen im Dorf, wie sie hier so leben und den Lauf der Zeit sehen. Nichts Besonderes sei von Niederholla-
brunn zu berichten, eine Schule, eine Kirche, die Menschen sind zu bescheidenem Wohlstand gekommen, sie verdienen ihr Brot als Pendler in die nähere und weitere Umgebung; es gibt einen Berg hier, den die Keltenmenschen errichtet haben sollen, den Leeberg, einen Tumulus aus der Hallstattzeit. Ja, und ein bedeutender Theologe und Rektor der Universität Wien,  Thomas Ebendorfer, der im 15. Jahrhundert am Konzil von Basel schon die Reformation heraufdämmern sah, ist ein Niederhollabrunner gewesen. Kardinal Melchior Khlesl, der mit eiserner Hand die Gegenreformation und vielleicht auch latent den Antisemitismus vorantrieb, war Pfarrer von Niederhollabrunn -  sonst habe man von keinen Berühmtheiten zu berichten; ja, doch, ein Dichter, der hat schön gedichtet über die Gegend hier, der war der Sohn des Arztes dort oben, im Arzthaus. Geheissen hat er Theodor Kramer.

 

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Theodor Kramer. Mit freundlicher

Genehmigung: I. Nowotny.

Ich war sprachlos: Theodor Kramer, mein literarisches und poetisches Idol, der Dichter, den ich für einen der grössten Lyriker seiner, unserer, Zeit halte, hier in diesem kleinen Ort aufgewachsen, abseits der intellektuellen und literarischen Zentren? In Wien, die Theodor Kramer Gesellschaft: Mir wohl bekannt, Menschen der besonderen Art, Kunst- und Kulturpassionierte, vereint durch das Interesse an der Literatur und der Kultur des Exils und des Widerstandes. Meine Freunde dort gehören eher zum Typus des idealistischen  Philosophen und Intellektuellen -  weit weg von Niederhollabrunn.

 

Selbstkritisch muss ich erkennen, dass diese Einstellung abgehoben und auch unzutreffend ist: Nur die, die die Lyrik Theodor Kramers nicht kennen, sehen einen Widerspruch von Herkunft und späterem Leben und Werk. In seiner Dichtung erkennt man seine Prägung durch die Natur, die Landschaft und die Menschen hier, unspektakulär, aber ehrlich und still.

 

Auf dem stillen Kirchberg stand...

Auf dem stillen Kirchberg stand

schön mein Vaterhaus,

und ich sah ins weite Land

übers Dorf hinaus.

Sah die Mühl am untern End

und die Ziegelei,

Korngeländ und Kleegeländ

längs der Häuserreih.

Sah das Dorf vom Kirchberg gut,

zählte nicht dazu

ganz: denn nah war nur das Gut

und des Friedhofs Ruh.

Und so blieb es, weil ich seh

und doch abseits wohn,

sing von Gras und Korn ich weh,

schön von Lehm und Mohn.

 

 

Vielleicht unzulässig, aber mir drängt sich der Vergleich mit Josef Weinheber auf: Ist Theodor Kramer nicht unvergleichlich tiefer mit der Landschaft und den Menschen verbunden als sein allseits bekannter Zeitgenosse? Kramers Gedichte sind Heimat, aber authentisch!

 

Ich gehe noch weiter -  und versage mir eigene Worte zu Theodor Kramers poetischer Antwort auf den Tod Josef Weinhebers:

 

So zog es dich zu ihnen, die marschierten;
wer weiss da, wann du auf dem Marsch ins Nichts
gewahr der Zeichen wurdest, die sie zierten?
Du liegst gefällt am Tage des Gerichts.
Ich hätte dich mit eigner Hand erschlagen;
doch unser keiner hatte die Geduld,
in deiner Sprache dir den Weg zu sagen:
dein Tod ist unsre, ist auch meine Schuld.

Theodor Kramers Werk umfasst 12.000 Gedichte, nur 2.000 sind publiziert. Sein Ruhm erstreckte sich über den gesamten deutschen Sprachraum -   bis ihn die Verfolgung 1938 ins Exil und ins Vergessen trieb. Seine Poesie ist nicht romantisch, Georg Trakl und Berthold Brecht sind seine Kategorien; mit Liebe und Respekt widmet er sich den Aussenseitern, Unterdrückten, den Randexistenzen, den Knechten, den Ausgebeuteten, den Proletariern, den Menschen, die trotz  ihrer Hände Arbeit kaum genug zum Leben haben, den Resignativen ohne Hoffnung. Niederhollabrunn atmet in seinen Zeilen.

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Das Doktorhaus in Niederhollabrunn, heute Theodor Kramer Museum. Mit freundlicher Genehmigung: I. Nowotny.

 

Der böhmische Knecht

Mit der Rotte hab ich Korn geschnitten
und mich so von Gut zu Gut getrieben;
Sense hat mich in den Fuss geschnitten
und – geheilt – bin ich im Land geblieben.
Vielen Bauern hab ich Ross und Kühe
abgewirtet und das Holz gebunden;
und ich hab mich nur für meine Mühe
Neu gewandet jedes Jahr gefunden.

Immer hat im Wirtshaus sich beim Zechen
der gemuckt, der mir mein Bier nicht gönnte
und ein andrer hat mir vorgerechnet,
was ich am Tabak ersparen könnte.
Doch der Rausch ist mir mein Recht gewesen
und der Pfeifenrauch die eigne Hütte;
sehr entbehr ich beides, seit ich Besen
binden muss und schon den Napf verschütte.

Meine Lungen sind belegt und heiser,
niemand wird mich also freundlich pflegen
wie sie hierzuland die Paradeiser
zwischen Doppelfenstern reifen legen.
Drum im Sonntagsstaat bei voller Flasche
lass ich wiederum die Pfeife qualmen,
weiss die Rebschnur in der Aussentasche
und ein Holzkreuz vor den Schachtelhalmen.

 

Theodor Kramer wurde am 1. Jänner 1897, vier Jahre nach seinem Bruder Richard,  geboren. Sein Vater, Dr. Max Kramer, hatte sich 1892 als Gemeindearzt in  Niederhollabrunn beworben und hier 26 Jahre lang seinen Beruf ausgeübt. Er hatte mit seiner Familie eine Wohnung mit Ordination im alten Meierhof, im „Doktorhaus“  bezogen, neben dem Friedhof, in Sichtweite zur Kirche, aber am Rand des Dorfes. Das Haus abseits, nicht zugehörig zum Dorf; so wie die räumliche Trennung auch die soziale: Die jüdische Familie blieb fremd. Der Vater übte seinen Beruf wohl mit hohem Ethos aus -  er war Tag und Nacht verfügbar,  absolvierte Krankenvisiten mit dem Pferd, half Kindern auf die Welt, nahm von Bedürftigen keine Bezahlung. Er war hoch geachtet, doch Teil des Kosmos Dorf wurde er nie. Die feierliche Verabschiedung im Jahr 1928 und die Ernennung zum Ehrenbürger spricht nicht gegen die nie überwundene Distanz.

Die Familie war wahrlich nicht mit Reichtum gesegnet. Vater Max Kramer stammte aus Bisenz in Mähren (Bzenec, Tschechische Republik) -  im Übrigen eine einst blühende jüdische Gemeinde, die nicht mehr existiert; die prächtige Synagoge des 19. Jahrhunderts wurde, obwohl sie die Nazi-Zerstörungswut überstanden  hatte, noch in den 1950-er Jahren demoliert, nur der Friedhof ist geblieben. Ein Rothschild-Stipendium ermöglichte ihm das Studium der Medizin in Wien. Die Mutter, Babette Kramer, geb. Doctor, stammte aus Stara Paka (Altpaka) in der ostböhmischen Königgrätzer Region. Die Familie lebte areligiös  -  doppelt sträflich, denn in keinen G‘ttesdienst zu gehen wog zusätzlich zur jüdischen Herkunft umso schwerer.

In Niederhollabrunn zählte man damals etwa 650 Einwohner, darunter drei, die sich zum mosaischen Glauben bekannten. Man kann sich lebhaft das Aussenseitertum vorstellen. Kontakt fand der junge Theodor am ehesten zu den aus dem tschechischen und slowakischen Raum stammenden Saison-
arbeitern, denn er konnte sich auf bescheidenem Niveau in deren Sprachen ausdrücken, wie es ihm seine Mutter mitgegeben hatte. Er blieb ein stiller und distanzierter aber scharfer Beobachter des Lebens, insbesondere der Härte des Lebens auf dem Dorfe.

Theodor ging in Niederhollabrunn in die Volksschule. Hernach besuchte er ab 1907das Gymnasium in Stockerau, allerdings nur ein Jahr lang -  zu schmerzlich waren hier seine Erfahrungen als Jude. Viel glücklicher wurde er in der Realschule in Wien-Vereinsgasse auch nicht; die Art des Unterrichts entsprach ihm gar nicht. Dennoch war diese Zeit nicht verloren: Er begann, Gedichte zu schreiben und schloss sich einer fortschrittlichen und politisch bewussten Gruppe um die Zeitschrift Der Anfang. Zeitschrift der Jugend an. Der Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld (1892 Lemberg, Galizien – 1953 San Francisco), der Soziologe Paul Lazarsfeld (1901 Wien – 1976 Newark, New Jersey) und der Komponist Hanns Eisler (1898 Leipzig – 1962 Berlin) waren hier die führenden Köpfe. Theodor Kramers Bruder Richard heiratete Josefine Neumann, deren Schwester Elisabeth Neumann-Viertel (1900 Wien – 1994 Wien, verheiratet in erster Ehe mit Siegfried Bernfeld, in zweiter mit Berthold Viertel) ebenfalls diesem Kreis angehörte. Die Tochter aus dieser Verbindung, Edith Kramer (1916 Wien – 2014 Grundlsee), war die in New York wirkende hoch geachtete Begründerin der Kunsttherapie.

Theodor Kramer maturierte 1914, kurz nach dem Attentat in Sarajewo. Nach einem kurzen Zwischenspiel an der Export-Akademie, dem Vorläufer der heutigen Wirtschaftsuniversität, wurde er zum Kriegsdienst eingezogen und den Gräueln des Ersten Weltkriegs ausgesetzt. In Wolhynien wurde er fast tödlich verletzt.

Er setzte seine Studien an der philosophischen Fakultät, Germanistik und Geschichte, fort. Die Eltern verarmten durch die Inflation, die Brüder Kramer mussten ihr Studium beenden und  Brotberufe annehmen. Theodor arbeitete als Buchhändler, sein literarisches Schaffen ging jedoch weiter: Der Gedichtband Die Gaunerzinke -  erschienen in einem renommierten Verlag -  wurde von der Kritik gut aufgenommen; es folgten Publikationen in verschiedenen Periodika und auch im Rundfunk. Sein Ruhm verbreitete sich  im gesamten deutschen Sprachraum. Zeitweise konnte er vom Schreiben bescheiden leben. Er war gut mit den führenden fortschrittlichen, politisch links stehenden Köpfen des Kulturlebens vernetzt. Er erreichte viele Menschen -  mehr als je durch Lyrikbände möglich gewesen wäre  -  durch die Arbeiter Zeitung. Sie brachte jede  Woche eines seiner Gedichte.

Er folgte in seiner Dichtung weniger der Vision des „Neuen Menschen“ der Sozialdemokratie,  er widmete sich nicht dem Industrieproletariat, er beschrieb vielmehr den naturnahen Menschen des Dorfes, nicht kritisch und revolutionär, um zu verändern, sondern mit Achtung und Respekt vor der Würde der existenziell Bedrohten. Hier schliesst sich auch der Kreis zu seinen Jugendjahren in Niederhollabrunn. Karl Markus Gauss kommt das Verdienst zu, diese Sicht besonders hervorzuheben (Karl Markus Gauss, Dichter im Exil, Salzburg, 1983)

Wenngleich Kramer auch nach 1933 weiter literarisch produktiv blieb, schnitt ihm die Machtergreifung Hitlers die Publikationsmöglichkeiten im Deutschen Reich ab; auch in Österreich bekam er den Austrofaschismus, insbesondere das Verbot der Sozialdemokratie, zu spüren. Trotz der prekären materiellen Situation, verschärft durch den Tod des Vaters, heiratete ihn 1933 Inge Halberstamm.

Und dennoch: Auch im Austrofaschismus gab es Lichtblicke für Theodor Kramer. Regimekritischen Linkskatholiken und auch manchen Legitimisten war ein demokratisches Österreich, in dem alle politischen Richtungen im Geist der Versöhnung zusammenarbeiten, ein Anliegen; nur mit geeinten Kräften könne dem drohenden Nationalsozialismus die Stirn geboten werden. Es fanden sich daher auch nach dem Februar 1934 Kräfte zusammen, die Theodor Kramer im Geiste der Solidarität unterstützten und ihm durch Lesungen oder Rundfunksendungen das finanzielle Überleben sicherten. Erika Mitterer, Paula Preradovic, Kurt Blaukopf, Fritz Hochwälder und insbesondere Ernst Karl Winter, ab 1935 christlichsozialer Vizebürgermeister von Wien, hernach zum Teil selbst Vertriebene, gehörten diesem Kreis an.

Das Ende Österreichs 1938 bedeutete auch für Theodor Kramer eine Katastrophe: keine Möglichkeit der Publikation, Arbeitslosigkeit, Verlust des Zuhauses. Thomas Mann setzte sich für seine Emigration nach England ein, 1939 flüchtete er dorthin. Er entkam nicht der Internierung auf der Isle of Man. Freigelassen, schlug er sich als Herrschaftsdiener durch. Die Ehe zerbrach. Er nahm an Kongressen des P.E.N. Club teil, die BBC sendete seine Beiträge, und er konnte in diversen Exilzeitschriften publizieren. Schliesslich erhielt er eine Stelle als Bibliothekar in einem technischen College in Surrey. Sein Leben in England blieb prekär, und dennoch, seine dichterische Schaffenskraft scheint fast übermenschlich: Wien 1938, Die grünen Kader, Verbannt aus Österreich. Neue Gedichte, Lob der Verzweiflung, Gedichtbände, zum Teil vom Austrian P.E.N. in London herausgegeben, zum Teil erst nach dem Krieg in Österreich erschienen.

Theodor Kramer wusste noch nichts vom tragischen Tod seiner Mutter: Sie wurde in Theresienstadt ermordet. Sein Bruder Richard konnte sich mit seiner Familie in die U.S.A. retten.

Das Exil war für Theodor Kramer eine Zeit der Entbehrung, Armut, Einsamkeit, Krankheit und Depression. Der legendäre Wiener Kulturstadtrat Viktor Matejka bot ihm nach Kriegsende an, nach Wien zurückzukehren. Er hatte nicht die Kraft dazu, die Depression lähmte ihn. Erst 1957 kam  er mit Hilfe von Michael Guttenbrunner und Bruno Kreisky und unter Zusage einer Ehrenpension des Bundespräsidenten nach Wien zurück -  zu spät: Er starb hier am 3. April 1958 nach einem Schlaganfall.

Er ruht  in einem ehrenhalber gewidmeten Grab am Wiener Zentralfriedhof.

Theodor Kramer und Niederhollabrunn - ein ambivalentes Verhältnis: Die offizielle Homepage der Gemeinde erwähnt ihn zwar, aber weit hinter anderen, heute ebenso vergessenen Persönlichkeiten. Umso mehr haben wir der Initiative des Lehrers Harald Maria Höfinger und der Wiener Theodor Kramer Gesellschaft dankbar zu sein, dass das Doktorhaus heute ein Museum für Theodor Kramer beherbergt. Ein Besuch des Hauses, ein Blick in das Dorf und in die Landschaft ist emotional berührend und eröffnet uns eine neue Dimension der Poesie Theodor Kramers!

 

Ich danke Otto und Waltraud Gröss,die mich auf die jüdischen Spuren in Niederösterreich gebracht haben. Harald Maria Höfinger danke ich für die Weiterführung auf diesen Spuren mit so viel Sachverstand und Engagement -  ich bin zutiefst in seiner Schuld  -  und meinem Freund Alexander Emanuely für wertvolle Informationen und für die Bestärkung meiner Liebe zu Theodor Kramer.

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Niederhollabrunn.

Mit freundlicher Genehmigung: I. Nowotny.

 

Information:

Theodor Kramer - Ausstellung und Rundgang auf dem Kirchberg

Harald Maria Höfinger bietet Führungen durch die Ausstellung im Geburtshaus Theodor Kramers und durch Niederhollabrunn an. Eine telefonische Anmeldung ist erforderlich: Tel. mobil 0043-699- 8141 2009. Über die Email-Adresse harald.hoefinger@schule.at ist das aktuelle Info-Blatt zu erhalten.

Weitere Informationen auf der Homepage der Theodor Kramer Gesellschaft: www.theodorkramer.at