Ausgabe

Ein jüdisches Mädel aus Wien in Albanien T. Scarlett Epstein (1922 - 2014)

Albert Ramaj

1922 als Trude Grünwald in Wien geboren, musste sie 1938 aus Österreich fliehen und kam bald nach Albanien.

Inhalt

Ihr Bruder Otto konnte bereits etwas früher nach Grossbritannien ausreisen. Im April 1939 gelang es ihm, Einreisepapiere für sie und die Mutter, etwas später auch für den Vater zu erwirken. In England musste Trude Grünwald erst in Fabriken arbeiten. 1957 heiratete sie Bill Epstein. T. Scarlett Epstein hatte nach dem Krieg bereits Wirtschaft und Politik studiert und promovierte 1958. Das Paar, das eine Tochter adoptierte und eine weitere Tochter bekam, lebte und lehrte als Anthropologen an verschiedenen Orten in England, Australien, Indien, Papua-Neuguinea und in den U.S.A. T. Scarlett Epstein veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Artikel und verfasste 14 Bücher. Sie verstarb 2014 in Brighton, ein Jahr nachdem dieses Interview, das hier erstmals veröffentlicht wird, geführt wurde.

 

Albert Ramaj: Hatten Sie eine glückliche Kindheit?

Scarlett Epstein: Ich bin in Wien geboren. Und obwohl mein Vater und Mutter Juden waren, waren sie vollkommen assimiliert. Wir sind nie in eine Synagoge gegangen und haben nie jüdische Feste gefeiert. Ich bin als ein ganz normales Wiener Mädchen aufgewachsen.

 

Albert Ramaj: Wie kam es, dass Sie nach Albanien auswanderten?

Scarlett Epstein: Ein Bruder meiner Mutter hatte in Maribor in Jugoslawien eine Fabrik und eine Schwester von ihr war in Zagreb verheiratet. Als der Anschluss stattfand, wollten wir gleich nach Jugoslawien auswandern im Glauben, dass wir dort ruhig weiterleben könnten. Es gelang mir, jugoslawische Touristenvisa zu bekommen, die uns erlaubten, drei Monate dort zu bleiben. So fuhren wir im Juli 1938 von Wien erst nach Maribor und dann nach Zagreb, wo wir bei meiner Tante wohnten. Wir dachten, dass wir in Jugoslawien bleiben könnten, so lange wir bei meiner Tante wären. Aber dem war nicht so. Ende Oktober 1938 teilte die Polizei uns mit, dass wir das Land verlassen müssten. Wenn uns ein anderes Land hereinliesse, dann könnten wir ungestört weiterreisen. Ansonsten aber würden wir an die deutsche Grenze zurückgeschickt. Wir wussten natürlich, dass wir dann in ein Konzentrationslager kommen würden. Meine Eltern wollten damals Selbstmord begehen, denn sie sahen keine Zukunft für uns: Mein Vater hatte keine Arbeit und konnte seine Familie nicht mehr unterhalten, meine Mutter hatte ihren Haushalt und ihre Möbel verloren. Ich war damals fünfzehneinhalb Jahre alt und nicht bereit, zu sterben. So nahm ich unsere Reisepässe und ging zu den diversen Konsulaten in Zagreb, um Visa zu beantragen. Da unsere Reisepässe ein grosses „J“ hatten, das zeigte, dass wir Juden waren, wurde ich überall sofort abgewiesen. Als ich vollkommen verzweifelt war, fragte mich mein Onkel, ob ich schon auf dem albanischen Konsulat gewesen sei. Dort war ich nicht gewesen, weil ich nichts über Albanien wusste. Auf dem albanischen Konsulat wurde ich freundlich empfangen und gleich zum Konsul geführt. Ich zeigte ihm schüchtern unsere Reisepässe und fragte um Visa. Freundlich lächelnd sagte er, dass wir in Albanien willkommen sein würden. Er gab mir sofort unsere Visa und versicherte mir, dass wir in Albanien ungestört leben könnten. Erst konnte ich nicht glauben, dass Albanien uns wirklich hineinlässt. Ich teilte das sofort freudig meinen Eltern mit, aber mein Vater war noch immer besorgt, denn wir wussten nichts über das Land und die Bevölkerung. Er konnte sich nicht vorstellen, wie wir ohne Geld in einem fremden Land durchkommen sollten. Aber da wir keine andere Möglichkeit hatten, fuhren wir mit dem Schiff von Split nach Durazzo. Als wir in Durazzo ankamen, wurden wir zu unserer freudigen Überraschung von zwei deutschen jüdischen Emigranten begrüsst. Sie versicherten uns, dass wir ruhig leben könnten, denn es gäbe hier bereits eine kleine Gruppe von jüdischen Emigranten, die alle vom JOINT, einer amerikanischen jüdischen Wohltätigkeitsorganisation, unterstützt würden. Wir konnten dieser Emigrantengruppe gleich beitreten.

 

Es war für uns eine herrliche Überraschung, in Albanien von der Bevölkerung freundlich empfangen zu werden, nachdem wir in Österreich und in Jugoslawien schrecklich verfolgt worden waren. Wir waren Albanien sehr dankbar, denn das Land hat unser Leben gerettet.

 

Albert Ramaj: Was waren Ihre ersten Eindrücke von Albanien?

Scarlett Epstein: Die erste Woche, die wir in Durazzo verbracht haben, mussten wir im Hotel Metropol wohnen. Das war das primitivste Hotel, in dem ich je war. Mich interessierten das Land und die Menschen gleich sehr. Während meine Eltern im Hotel sassen, ging ich in der Umgebung umher. Ich sah Frauen ganz verschleiert und mit einem männlichen Chaperon auf den Strassen, während ich angezogen war, so wie ich es aus Wien gewohnt war. Da traf ich eine Gruppe von jungen Männern, die mich ungläubig anschauten, mich dann umringten und mit mir in Albanisch und Italienisch sprechen wollten, was ich nicht verstehen konnte. Da ich nicht erwarten konnte, dass sie Deutsch sprechen, fragte ich die jungen Männer auf Französisch, was sie von mir wollten. Das haben sie verstanden.

 

Sie fragten mich, ob ich wirklich ein Mädchen sei, denn ich wäre ganz anders angezogen und ginge allein umher, was in Albanien kein Mädchen und keine Frau machen würde. So erklärte ich ihnen, dass ich eine jüdische Emigrantin aus Wien sei. Damit begeisterte ich die Gruppe, denn sie wussten, dass Wien berühmt ist als Musik- und Theaterstadt. Sie fragten mich gleich, ob ich Moissi, den albanischen Schauspieler, in Wien gesehen hätte. Das war der Beginn einer schönen Freundschaft, denn die Gruppe zeigte mir Durazzo, und ich erzählte ihnen über das Leben in Wien.

 

Einer der jungen Männer war der Sohn aus der Dovana-Familie, die Geschäftsleute waren. Er arrangierte, dass ich seine zwei jüngeren Schwestern in Deutsch, Französisch und Mathematik unterrichten konnte. Die Mädchen waren zwölf und vierzehn Jahre alt und zuvor in einem italienischen Internat gewesen. Aber dieses Jahr hatte ihre Mutter sie zu Hause behalten. Das war herrlich für mich, denn die ganze Familie sah mich als Tochter an. Ich habe mich bei ihnen wirklich zu Hause gefühlt. Der italienische Konsul in Durazzo, Luigi Aloisio, war öfters zu Gast bei den Dovanas. Als er hörte, dass ich Deutsch lehre, bat er mich, auch ihn zu unterrichten. Als im April 1939 Mussolini Albanien besetzte, hatten wir Emigranten alle Angst, dass die Italiener uns Hitler übergeben und wir sofort in ein Konzentrationslager geschickt würden. Aloisio hatte nach der Besetzung eine höhere Stelle und ein grösseres Büro erhalten. Da er weiterhin Deutsch lernen wollte, liess er mich jeden Tag mit seinem Auto abholen. Um zu ihm zu kommen, musste ich an mehreren Kontrollposten vorbeifahren, wofür er mir ein offizielles Dokument mit diversen Stempeln  gegeben hatte. Dieses Dokument rettete mir und meiner Mutter das Leben, als wir Ende April von Italien über Deutschland nach England fliegen mussten. Als wir in Köln landeten, wurden wir mehr als drei Stunden lang verhört und gefoltert. Wir mussten nackt dastehen, während zwei Nazi-Frauen uns quälten und jedes Stück unserer Kleider genau untersuchten. Zum Glück fanden sie Aloisios Dokument, das sie dazu bewegte, uns weiterreisen zu lassen.

 

Für mich waren die Monate, die ich vor dem Krieg in Albanien verbracht hatte, eine Erholung nach der Verfolgung, die ich vorher hatte erdulden müssen. Deswegen versuche ich jetzt, Albanien die Schuld zurückzubezahlen, die ich fühle, da ich dem Land und der Bevölkerung mein Leben verdanke.

 

Albert Ramaj: Wie war das Verhältnis zu Ihren Eltern damals?

Scarlett Epstein: Obwohl ich keine sechzehn Jahre alt war, musste ich alle Entschlüsse für unsere Familie fällen. Nur wenige Menschen verstehen heute, dass die Generation meiner Eltern am meisten unter der Nazi-Verfolgung litt und die meisten nur vom Selbstmord sprachen. Als ich mit meinen Eltern in Albanien war, waren nicht mehr sie für mich verantwortlich, sondern umgekehrt: Ich war für sie verantwortlich und versuchte die ganze Zeit, ihnen ihr Leben so angenehm wie unter den gegebenen Umständen möglich zu gestalten. Wir Emigranten wohnten in einem Haus ähnlich wie in einem Kibbuz in Israel. Die Männer kauften ein, was die Frauen zum Kochen brauchten, denn wir hatten ja nur sehr wenig Geld, um uns alle zu verpflegen. Die meisten älteren Emigranten waren Ehepaare. Dann gab es auch ein paar junge, alleinstehende Männer. Zu unserer Zeit in Albanien war ich das einzige junge Mädel. Ich war oft hungrig, aber wir hatten kein Geld, um etwas zu kaufen. Die Lebensmittel wie das Brot für unsere Emigrantengruppe wurden in einer kleinen, abgesperrten Kammer aufbewahrt. Als der Mann mit dem Schlüssel einmal vergessen hatte, die Kammer zuzusperren, bin ich sofort hineingegangen und habe mir ein Stück Brot genommen. Nachdem ich erwischt worden war, wurde ein Treffen von allen Mitgliedern einberufen, bei dem unsere vorsitzenden Männer mir erläutern wollten, was für ein grosses Verbrechen ich begangen habe. Als mein Vater das hörte, begann er zu weinen. Er musste sich niederlegen, weil er so unglücklich war, dass er mir nicht genug zu essen geben konnte. Die Gruppe wollte, dass ich mich schuldig fühle, aber ich war froh, dass mir das Stück Brot geholfen hatte, meinen Hunger zu stillen.

 

Das macht hoffentlich verständlich, dass das Verhältnis zu meinen Eltern ganz anders war in der Emigration.

 

Albert Ramaj: Können Sie etwas über die anderen Juden in Albanien berichten?

Scarlett Epstein: So weit ich mich erinnern kann, hatte die Gruppe jüdischer Emigranten in Durazzo vor dem Krieg aus Deutschen, Österreichern und Polen bestanden. Ich war die Einzige, die etwas Bestimmtes zu tun hatte. Die andern haben sich hauptsächlich damit beschäftigt, das Haus für uns alle so wohnlich wie möglich zu gestalten: Sie sammelten Kisten von albanischen Geschäften und machten daraus Betten, Kästen, Tische, Stühle und so weiter. Die Frauen waren beschäftigt, das Haus so rein wie möglich zu halten und das beste Essen zu machen mit dem Wenigen, das zur Verfügung stand.

 

Es war für die meisten sehr schwer, diese Arbeiten selber erledigen zu müssen, weil sie in ihrem gewohnten Heim Dienstmädeln gehabt hatten. Es fiel ihnen nicht leicht, dass sie ihre höheren Stellen verloren hatten. Ich erinnere mich an ein älteres deutsches Ehepaar, der Mann war Oberingenieur in einer grossen deutschen Fabrik gewesen. Seine Frau bestand darauf, dass man sie als „Frau Oberingenieur“ ansprach. Mir kam das lächerlich vor, aber für sie war es sehr wichtig, weiterhin ihre gewohnte Stellung zu halten.

 

Albert Ramaj: In Ihrem Buch „Es gibt einen Weg“ beschreiben Sie, wie die Albaner Sie für eine Prostituierte hielten.

Scarlett Epstein: Alle Frauen, nicht nur Musliminnen, gingen in den Strassen von Durazzo verschleiert und wurden von einem männlichen Chaperon begleitet. Nur Prostituierte gingen in gewöhnlichen Kleidern und ohne Chaperon auf die Strasse. Der Mann, für den die Prosituierten arbeiteten, musste jede Frau bei der Polizei anmelden. Ich wusste das damals natürlich nicht und ich bin in meinen Wiener Kleidern und oft mit mehreren jungen Männern herumgegangen.

Einmal unterrichtete ich bei der Familie Dovana. Wir sassen im zweiten Stock in den Frauengemächern, wo kein fremder Mann hinein durfte. Auf einmal hörten wir ein Frauengeschrei, und ich erkannte gleich auch die Stimme meines Vaters. So lief ich sofort hinunter und führte ihn schnell aus dem Haus, während ich versuchte, den Frauen zu erklären, dass mein Vater nicht wusste, dass kein Mann in diesem Teil des Hauses erlaubt sei. Mein Vater war sehr aufgeregt, weil ein Polizist von der Hauptwache geschickt worden war mit dem Auftrag, sich so bald wie möglich bei der Polizei zu melden. Mein Vater war gleich sehr ängstlich, dass wir aus Albanien weg müssten, weil unsere Visa nicht mehr gültig waren. Er konnte nur Deutsch und Ungarisch, so dass er mich als Übersetzerin benötigte. Wir gingen sofort zur Polizei, wo wir gleich zu einem Vorgesetzten geführt wurden. Es war ein kleiner Mann, der hinter einem grossen Schreibtisch sass. Er bat mich dann, hinauszugehen, denn er wolle nur mit meinem Vater sprechen. Ich erklärte ihm, dass mein Vater weder Italienisch noch Französisch spreche und mich als Übersetzerin mitgebracht habe. Sein Benehmen zeigte mir, dass er meinem Vater etwas sagen wollte, das er ihm vor mir nicht mitteilen konnte. Gleichzeitig fragte mich mein Vater dauernd, was er sage und wann unser Aufenthalt in Albanien zu Ende gehe. Meinen Vater musste ich beruhigen, während ich versuchte, den Polizisten zu überzeugen, dass ich eine gute Übersetzerin sei und Wort für Wort übersetzen würde. Ausgesehen hat er wie ein schüchterner Bub, als er mich fragte, ob mein Vater mich registriert habe. Darauf begann auch ich zu glauben, dass er uns wirklich abschieben und unsere Visa sehen wolle. Als ich ihm die Visa zeigte, fing er an zu lachen und sagte: „Die sind in Ordnung, aber hat Dein Vater Dich als Prostituierte angemeldet? Denn das müssen alle Männer tun, die junge Mädchen haben, die für sie arbeiten.“ Ehrlich gesagt wusste ich in dem Augenblick nicht, was ich meinen Vater sagen sollte, denn es war mir klar, dass er entsetzt wäre, dass seine Tochter als Prostituierte angesehen wird. So sagte ich ihm schnell, dass der Polizist nur wissen wolle, ob er einverstanden sei, dass ich regelmässig zur Dovana-Familie auf Besuch gehe. Mein Vater fing dann auch zu lachen an, während ich dem Polizisten sagte, dass mein Vater wissen wolle, warum er annehme, dass ich als Prostituierte arbeite. Darauf sagte er mir, dass er mich oft gesehen habe in Durazzo, angezogen wie nur leichte Mädchen herumgingen und mit einer Gruppe von jungen Männern. Da fing ich an, meine erste Lektion über fremde Kulturen zu geben, und erzählte ihm, dass ich aus meiner Schule geworfen worden war, weil ich Jüdin bin, und dass ich nur die Kleider hätte, die ich in Wien getragen habe, und wir kein Geld hätten, andere zu kaufen. Die Gruppe junger Albaner, die mich immer begleiteten, würden dauernd Fragen an mich stellen, wie das Leben in Wien sei. Und ich versicherte ihm, dass ich noch Jungfrau sei und dass das ein Arzt auch untersuchen könne. Als der Polizist das alles gehört hatte, begann er sich zu entschuldigen, dass er mich für eine Prostituierte gehalten habe. Und er meinte, dass er froh sei, dass ich es nicht meinem Vater übersetzt habe. Von dem Tag an ist dieser Polizist so oft wie möglich mit der Gruppe von Albanern mitgekommen, um auch etwas über Wien zu erfahren. Meinem Vater erzählte ich bloss, dass der Polizist mich und meinen Vater kennenlernen wollte. Ich habe meinem Vater sein Leben lang nie gesagt, warum er mit ihm hatte sprechen wollen.

 

Ich glaube, in keinem anderen Land als Albanien hätte die Polizei akzeptiert, was ich erklärt hatte – man hätte mich sofort in eine Polizeizelle gesteckt. In der kurzen Zeit, die ich in Albanien war, habe ich viele gute Freunde gewonnen.

 

Albert Ramaj: Wie haben die Albaner Ihnen und Ihrer Familie geholfen?

Scarlett Epstein: Nachdem wir jüdische Immigranten alle sehr unter den Nazis gelitten hatten, wirkte die Freundlichkeit der Albaner wie eine Heilmedizin. Ich war besonders glücklich, da ich unterrichten konnte. Die Frauen dort behandelten mich wie ein Mitglied ihrer Familie. Sie stellten bald fest, dass Süssigkeiten ein Luxus für uns Emigranten waren, und gaben mir nicht nur für mich, sondern auch für meine Eltern süssen Zwieback mit. Sie zeigten mir ihr wertvolles Silbergeschirr und die handgemachten Möbel. Sie schickten mir auch ein Zeugnis für meinen Unterricht, das mit 20. Dezember 1939 datiert war, also bereits nach Beginn des Krieges. Diesen Brief habe ich noch immer, zusammen mit meinem Tagebuch von damals. Ich versuchte mehrere Jahre lang, Verwandte der Dovana-Familie zu finden, und 2006 habe ich Matilda Dovana in Tirana getroffen. Sie ist die Enkelin des Mannes, der mich gebeten hatte, seine Schwestern zu unterrichten. Matilda sieht mich jetzt als ihre Grossmutter an. Sie hat mir erzählt, dass während der kommunistischen Regierung ihr Grossvater im Gefängnis gestorben und all sein Eigentum konfisziert worden sei. Nachdem die demokratische Regierung in Albanien an die Macht gekommen war, wurde das ganze Dovana-Eigentum den Enkelkindern zurückgegeben. Später konnte ich auch mit Dr. Ingrid Stratti, die in Mailand Universitätsprofessorin ist, in Kontakt treten. Sie ist auf mütterlicher Seite eine Enkelin der beiden Mädchen, die ich damals unterrichtet hatte. Sie spricht Albanisch und hat mich schon zwei Mal mit ihrem Mann und ihrem Sohn in England besucht.

 

Albert Ramaj: Können Sie das Leben der Juden in Albanien etwas beschreiben? Was haben sie den ganzen Tag gemacht?

Scarlett Epstein: In Durazzo gab es nicht viele Juden, und wir Emigranten wurden unterstützt durch den JOINT, eine internationale jüdische Organisation, die von New York aus jedem Emigranten geholfen hat, dem es gelungen war, der Nazi-Verfolgung zu entfliehen. Die Gruppe von ungefähr 45 Emigranten hatte ein Haus gemietet, in dem wir alle wohnen konnten. Die Unterstützung des JOINT reichte gerade, um das Notwendigste, was wir zum Weiterleben brauchten, zu kaufen, aber beispielsweise nicht für Möbel. So haben die Frauen aus vielen Stoffstücken Leintücher und Tischdecken genäht, und die Männer mussten aus Fruchtkisten Möbel machen. Die albanischen Polizisten, die ihre Wache gleich nebenan hatten, waren erstaunt, als sie gesehen haben, was wir zimmern wollten. Sie haben uns dann Hammer und Nägel geborgt und oft haben sie auch unseren Männern geholfen. Nachdem wir von der Nazi-Polizei verfolgt worden waren, konnten wir erst gar nicht glauben, dass die Polizisten in Durazzo unsere Freunde sein könnten. Aber die albanischen Polizisten sind alle unsere Freunde geworden. Nach der Besetzung Albaniens durch Mussolini haben unsere Polizei-Nachbarn sich um uns gesorgt und alles getan, damit wir unter der italienischen Besetzung nicht litten – ganz im Gegensatz zu den Nazis, die alle Juden der Welt töten wollten.

 

Albert Ramaj ist Leiter des Albanischen Institut in St. Gallen
(www.albanisches-institut.ch)

 

Literaturhinweis:

T. Scarlett Epstein: Es gibt einen Weg. Eine Jüdin aus Wien. Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft, Wien 2011, ISBN 978-3-901602-45-0 (Englisch Swimming Upstream: A Jewish Refugee from Vienna. Vallentine Mitchell, London 2005, ISBN 978-0-85303-607-4)