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Zur Geschichte der Synagoge von St. Pölten und ihrer Architekten Viktor Postelberg und Theodor Schreier

Ursula PROKOP

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Die Synagoge von St. Pölten gehört zu den wenigen jüdischen Kultbauten in Österreich, die die Zerstörung der NS- Zeit - zumindest teilweise - überdauert haben und heute noch Zeugnis ablegen vom jüdischen Kulturleben zur Zeit der späten Donaumonarchie.1

 

Postelberg/Schreier, Synagoge St. Pölten. Foto: U. Prokop

Dieser Bau ist in vielfacher Hinsicht bemerkenswert, vor allem aber wurde dessen Architekten, Viktor Postelberg und Theodor Schreier, die zu ihrer Zeit durchaus renommiert gewesen waren, bis dato kaum Aufmerksamkeit gewidmet. Sie sind sogar weitgehend vergessen.

Als die Synagoge am Sonntag, dem 17. August 1913, am Vorabend von Kaiser Franz Josefs Geburtstag unter Teilnahme zahlreicher Festgäste feierlich eingeweiht wurde, konnte niemand ahnen, dass dies einer der letzten jüdischen Kultbauten vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Gebiet des heutigen Österreich, und damit das Ende einer Ära sein sollte.2 Einzig das für die Jahreszeit ungewöhnlich kühle und regnerische Wetter schien ein schlechtes Omen zu sein. Neben dem Vorstand der St. Pöltener Kultusgemeinde und zahlreichen Abordnungen diverser österreichischer Kultusgemeinden nahmen unter anderem auch der k. k. Statthalter Ritter von Domyslov, hohe Beamte, Militärs und Repräsentanten anderer Religionsgemeinschaften an dem offiziellen Akt teil. Nach dem feierlichen Einzug der Thorarollen, der Überreichung der Schlüssel zur Bundeslade durch den Architekten Theodor Schreier an den Vorsteher Albert Leicht, dem Anzünden des Ewigen Lichtes und zahlreichen Ansprachen endeten die Feierlichkeiten schließlich mit einem Gebet für den Kaiser, an den gleichzeitig eine Glückwunschdepesche zum 83. Geburtstag gesendet wurde.3 Bemerkenswerterweise wurde die Qualität des Gebäudes, damals an der damaligen Schulpromenade gelegen (heute Karl Renner-Promenade 22), schon anlässlich der Einweihung von den Zeitgenossen erkannt. Auch die nichtjüdische lokale Presse äußerte sich sehr zustimmend und bezeichnete den „Tempel in seiner Formenschönheit als Zierde der Stadt".4

Die relativ kleine jüdische Gemeinde von St. Pölten, die allerdings auch die Juden der umliegenden Ortschaften zu betreuen hatte, war bereits vor Jahren an die Planung dieses Baus geschritten. Das bis dahin als Bethaus dienende Gebäude, das ursprünglich Teil einer Fabriksanlage gewesen und 1886 für Kultzwecke adaptiert worden war, hatte sich relativ bald als unzulänglich erwiesen. Bereits um 1890 war die Idee eines Neubaus aufgetaucht, aber erst 1907 hatte sich ein Tempelbaukomitee unter Führung des Rabbiners Dr. Schächter konstituiert. Die nicht allzu wohlhabende Gemeinde konnte schließlich 1911, nachdem es zu einigen Grundstücksarrondierungen mit der Stadtverwaltung gekommen und eine Einigung mit dem Gemeinderat erzielt worden war, das Projekt gezielt in Angriff nehmen, wobei die Finanzierung sowohl mittels Grundstückverkäufen und Krediten, als auch durch Spenden erfolgen sollte.5 In der Folge wurde ein Baukomitee eingesetzt, als dessen Obmann Albert Leicht fungierte und das Erkundungen fachlicher Art in der Reichshaupt- und Residenzstadt einzog. Unter anderem wandte man sich an Oberbaurat Stigler, damals einer der größten und einflussreichsten Bauunternehmer Wiens, der der Kultusgemeinde mehrere Spezialisten für Synagogenbau nannte und empfahl, diese - den Usancen entsprechend - zu einem Wettbewerb einzuladen. 6

Die näheren Umstände der Baugeschichte und die Entscheidung für einen bestimmten Architekten bzw. einen geeigneten Entwurf sind vor dem Hintergrund eines Paradigmenwechsels im Synagogenbau zu sehen, der in jenen Jahren erfolgt war. Die großen alten Männer, die über Jahrzehnte den jüdischen Kultbau in Wien und der Donaumonarchie geprägt hatten wie Max Fleischer (1841-1905) und Wilhelm Stiassny (1842-1911) waren kurz zuvor verstorben. Darüber hinaus hatte die zunehmende Ablehnung der historistischen Architektur und die aufkommende „Moderne", wie sie selbst auf dem eher traditionsverbundenen Gebiet des Sakralbaus von Otto Wagner mit seinem programmatischen Bau der Kirche am Steinhof propagiert wurde, nicht zuletzt auch eine innerjüdische Diskussion, wie eine zeitgemäße Synagoge anzusehen hätte, angeheizt. In diesem Kontext wurden sowohl die zumeist im „maurischen" Stil gehaltenen Bauten Stiassnys als auch Fleischers neugotische Tempel, die formal oft christlichen Kirchen angenähert waren kritisiert. Demgemäß befand man sich zu dieser Zeit in einer Umbruchsituation und war auf der Suche nach neuen Wegen und Ausdrucksformen – das ist auch bei der Geschichte der St. Pöltener Synagoge zu beachten.

Entsprechend der Empfehlung des Baurates Stigler wurde vom Baukomitee ein Wettbewerb ausgeschrieben: Die Architekten Jacob Modern, Jacob Gartner, Ignaz Reiser, Ernst Lindner, Theodor Schreier und Josef Hofbauer wurden zur Teilnahme eingeladen. Alle sechs waren damals sehr angesehen. Sowohl Jacob Modern als auch Jacob Gartner lehnten jedoch eine Beteiligung von Anfang an ab, da sie sich zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend von ihrer Architektentätigkeit zurückgezogen hatten. 7 Auch Ignaz Reiser, der nach dem Tod Stiassnys als dessen ehemaliger Mitarbeiter sozusagen sein ideelles Erbe angetreten hatte, lehnte eine Teilnahme ab, möglicherweise aufgrund des Umstandes, dass er zu jener Zeit mit zwei größeren Tempelbauten (Wien 2, Pazmanitengasse und Mödling bei Wien), sowie einigen aufwendigen Miethäusern in Wien mehr als ausgelastet war.8 Damit waren die drei bedeutendsten Synagogenarchitekten aus dem Rennen und es kristallisierte sich bald Theodor Schreier mit seinem Projekt als Favorit heraus, wobei die näheren Umstände und die Begründung der Sachverständigen infolge der lückenhaften Archivalien kaum zu rekonstruieren sind.

Die Entscheidung für den Entwurf von Theodor Schreier könnte im Kontext mit dem bereits erwähnten Wandel im Synagogenbau gefallen sein, verstärkt durch den Umstand, dass „die alte Garde" nicht mehr zur Verfügung stand. Es könnte also durchaus in der Absicht maßgeblicher Persönlichkeiten in der Kultusgemeinde und auch der Sachverständigen, unter ihnen so prominente Wiener Architekten wie Max Fabiani und Friedrich Schön gewesen sein, neue Wege zu beschreiten. Theodor Schreier (1873-1943) war Absolvent der Technischen Hochschule, wo er bei Professor Carl König (einem der bedeutendsten Architekten des Späthistorismus und einem der wenigen, der es als Jude bis zum Universitätsrektor brachte) studiert hatte. Die längste Zeit hatte Schreier in einer Ateliergemeinschaft mit Ernst Lindner vorwiegend in Wien und Österreichisch-Schlesien gearbeitet, wo er vor allem an der Errichtung von Schulen und Miethäuser beteiligt war. Die bedeutendsten Aufträge der Architektengemeinschaft waren das schlossartige, im „Wiener Barockstil" 1902/4 errichtete Korpskommandantengebäude in Hermannstadt (damals Königreich Ungarn, jetzt Sibiu, Rumänien, heute Sitz der Lucian Blaga-Universität) im Auftrag der k. k. Militärbaudirektion, sowie der Bau von Amtshauses und Schule für die Israelitische Kultusgemeinde in Bielsko-Biala (damals Österreichisch-Schlesien, jetzt Polen), der 1904 zur Realisation gelangte. Im selben Jahr hatten sich die beiden auch an dem spektakulären Wettbewerb für eine Synagoge in Triest beteiligt (damals noch zu Österreich-Ungarn gehörig), der von der dortigen, äußerst wohlhabenden jüdischen Gemeinde ausgeschrieben worden war. Demgemäß setzte man große Erwartungen in dieses Projekt, an dem sich viele bedeutende Architekten aus der Donaumonarchie beteiligt hatten, und das daher auch in der Fachpresse mit großer Anteilnahme verfolgt wurde.9 Schreier und Lindner errangen in der Folge trotz des hohen Niveaus ihrer Mitkonkurrenten einen 2. Preis, wobei ihr Erfolg umso höher zu bewerten ist, als kein 1. Preis vergeben wurde.10 Obwohl der Konkurrenzentwurf von Schreier und Lindner nicht zur Ausführung gelangte und der Auftrag schließlich an ein örtliches Architekturbüro vergeben wurde, erregte ihr Projekt in seiner (damals kühnen) Modernität große Aufmerksamkeit und verschaffte ihnen ein gewisses Renommee. Der Entwurf basierte auf der Idee eines Zentralkuppelbaus mit asymmetrisch gesetzten Annexen, wobei die Formensprache, neben einigen neoromanischen Details, sich insbesondere an die von Otto Wagner propagierte „Moderne" anlehnte.

Die Ateliergemeinschaft von Schreier und Lindner löste sich allerdings bald nach der Triestiner Konkurrenz auf - die Gründe dafür sind nicht bekannt, und Schreier arbeitete in den nächsten Jahren in alleiniger Verantwortung, bzw. mit wechselnden Partnern. Neben der Planung mehrer Wiener Wohnhäuser war er insbesondere 1906/07 in Zusammenarbeit mit Isidor Giesskann für den Bau der Talmudschule in Wien 2, Malzgasse 16 verantwortlich.11 Als sich Schreier schließlich 1911/12 an dem Wettbewerb für die St. Pöltener Synagoge beteiligte, basierte sein Entwurf in einigen grundsätzlichen Überlegungen auf seinem Triestiner Projekt, wobei die Angaben, ob auch Viktor Postelberg von Anfang an beteiligt war oder erst später einbezogen wurde, widersprüchlich sind. Während in den Archivalien der Kultusgemeinde von St. Pölten nur Theodor Schrei-er erwähnt wird, wurde der Wettbewerbsentwurf 1912 unter dem Namen beider Architekten - Schrei-er und Postelberg - publiziert.12 Da die beiden sich bereits zwei Jahre zuvor, 1909, gemeinsam an der Konkurrenz für ein Rathaus in Mährisch-Schönberg (Šumperk, heute Tschechische Republik) beteiligt hatten und Schreier bei größeren Vorhaben stets mit einem Partner arbeitete, scheint es sehr plausibel, dass Postelberg von Anbeginn an in das Projekt eingebunden war. Der wenige Jahre ältere Viktor Postelberg (1869-1920) hatte gleichfalls an der Technischen Hochschule bei Carl König studiert, und es ist anzunehmen, dass er und Schreier ein-ander bereits von ihrer Studienzeit her kannten. Postelberg, der aus einer großbürgerlichen, äußerst gut situierten Familie stammte war offenbar sozial sehr gut vernetzt, sodass er sich bald selbständig machen konnte. In der Folge betrieb er ein ungemein erfolgreiches Architekturbüro, das mit der Planung zahlreicher Industrieanlagen, Wohnbauten und anderem in Wien und in den Kronländern der Monarchie befasst war. Beispielhaft für die noble Eleganz seiner Bauten ist das Frauenhospiz der Wiener Kaufmannschaft, das er um 1909 in Wien 19, Peter Jordan-Straße 70 errichtete.

 

Postelberg, Frauenhospiz. Wien 19, Peter Jordan – Straße 70, heute das Rektoratsgebäude der Universität für Bodenkultur. Nur ein Relief mit einer Mutter-Kind Darstellung weist auf den ursprünglichen Zweck hin. Foto: U. Prokop.

Es ist anzunehmen, dass Postelbergs großes Atelier für die Anforderungen, die die Planung eines öffentlichen Baus mit sich zog, bestens ausgestattet war.13 Dem entspricht auch der Umstand, dass Postelberg die Bauleitung der St. Pöltener Synagoge übernommen hatte. Für diese Tätigkeit, die insbesondere die korrekte Ausführung der Pläne seitens der Baufirma zu überwachen hatte, stellte er sich großzügigerweise ohne ein Honorar zu verlangen zur Verfügung.14

Grundsätzlich ist schwer auszumachen, inwieweit der Anteil von Schreier bzw. Postelberg geht. Der 1912 publizierte Entwurf der Synagoge, der weitgehend mit der ausgeführten Version übereinstimmt, zeichnet sich durch eine Leichtigkeit und Eleganz aus, die von der etwas massiven Schwere, die den Entwürfen Schreiers üblicherweise zu eigen war, abwich. Es ist daher nicht völlig auszuschließen, dass von Schreier das Grundkonzept stammte, währenddem Postelberg möglicherweise bei der formalen Durchgestaltung mitgewirkt hat. Wie bereits erwähnt war man nach dem Vorbild des Triestiner Projektes von der Idee eines Zentralbaus ausgegangen, wobei die St. Pöltener Synagoge natürlich wesentlich kleinere Dimensionen aufwies. Gleichfalls übernommen wurde die Idee, asymmetrisch gesetzte Annexe anzugliedern, da ja der Tempelbau über die unmittelbare kultische Anforderung hinaus weitere Funktionen wie eine Dienstwohnung für den Tempeldiener, Sitzungszimmer und Schulzimmer zu erfüllen hatte. In formaler Hinsicht war das Projekt von einer kühnen Synthese klassizistischer Elemente und neobarock angehauchter, secessionistischer Details geprägt. Die Architekten selbst sprachen in der Baubeschreibung von einer „modernen Formgebung mit barockem Einschlag."15 Dieser Ausrichtung entspricht der über einem oktogonalen Grundriss errichtete, klassizistische Zentralbau, dessen flache Kuppel barock einschwingt, währenddem die malerisch, unregelmäßig situierten Anbauten mit ihren großen Fenstern der Villenarchitektur des Jugendstils entlehnt sind. In das Gesamtkonzept einbezogen war auch der kleine Vorgarten mit einem überdachten Haupteingang, der insbesondere für Feierlichkeiten und Hochzeiten gedacht war. Dem gleichen Formenvokabular folgte auch die Ausstattung des Innenraumes. Eine vom Jugendstil geprägte Ornamentik, die von dem aus St. Pölten stammenden Künstler Ferdinand Andri ausgeführt wurde, bedeckte die Wände. Hingegen verwendete man bei der Umrahmung des Thoraschreines das klassische Motiv einer Palladiana. Während sich früher die Tempel zumeist in schmalen, verwinkelten Gassen nahezu verstecken mussten, symbolisierte auch in städtebaulicher Hinsicht der neue Bau in strahlendem Weiß durch seine Situierung an einer prominenten Ecklage ein neues Selbstbewußtsein der jüdischen Gemeinde, die sich als akzeptierte Gruppe innerhalb der städtischen Bürgerschaft betrachtete.

Diese Erwartungshaltung und auch die berechtigte Freude anlässlich der Einweihung sollten sich jedoch bald als trügerisch erweisen. Das weitere Schicksal sowohl der Synagoge als auch der beiden Architekten verlief höchst unglücklich. Viktor Postelberg war für die nächsten Jahre weiterhin vor allem mit der Planung großer Industrieanlagen befasst, wobei er sich in diesem Kontext zunehmend auch mit Arbeiterwohnhäusern, die den Anlagen angeschlossen waren, beschäftigte. Darüber hinaus äußerte er sich in diversen Publikationen zu zahlreichen fachtechnischen Gebieten wie Problemen der Bauordnung oder Richtlinien bei Ausschreibungsbedingungen. 1914 erhielt Postelberg seitens des „Vereines für gymnasialen Mädchenunterricht" den Auftrag zum Bau des ersten Wiener Mädchengymnasiums im 8. Bezirk, Albertgasse 38. Eine nicht ganz unwichtige Rolle spielte seine Schwägerin Anna Postelberg (1872-?) bei dieser Vergabe. Sie war eine der Mitbegründerinnen des Vereines und engagierte sich gemeinsam mit der Frauenrechtlerin Marianne Hainisch dafür, dass auch Mädchen - entgegen den Usancen der Zeit - eine hochschulreife Ausbildung erhalten sollten. Der gegen Kriegsbeginn fertig gestellte mustergültige Schulbau, der bis heute noch allen Anforderungen entspricht, besticht insbesondere durch seine ausgeklügelte Raumeinteilung, die unter anderem Außenterrassen zu den diversen Unterrichtsräumen eingeplant hatte.16 Bei Ausbruch des 1. Weltkrieges musste Postelberg, der unverheiratet geblieben war einrücken und diente beim Militärbaukommando in der österreichischen Festung Przemysl im damaligen Galizien (heute Polen). Höchstwahrscheinlich holte er sich damals ein unheilbares Leiden, denn schon bald nach Kriegsende verstarb er - relativ jung - im 51. Lebensjahr nach langer Krankheit an einem Nierenversagen.17

Theodor Schreier, von dem nach dem Zeitpunkt der Errichtung der St. Pöltener Synagoge keine Bauten mehr dokumentiert sind, hatte bereits während seines einjährig-freiwilligen Jahres 1899 beim Militärbaukommando gedient und war daher während des 1. Weltkrieges neuerlich in dieser Funktion tätig. In der Zwischenkriegszeit gab er infolge der wirtschaftlich schlechten Situation seine freiberufliche Architektentätigkeit auf und wechselte in das technische Büro der Österreichischen Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe. Ende der zwanziger Jahre überschattete eine familiäre Tragödie sein Schicksal, als sein einziger Sohn Otto (1901-1929), ein hochbegabter Mathematiker, noch nicht dreißigjährig und am Sprung zu einer großen wissenschaftlichen Karriere einem Herzleiden erlag. Nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an NS-Deutschland 1938 verabsäumte es Schreier zu fliehen. Die Gründe dafür sind unbekannt. Vielleicht reichten seine finanziellen Mittel nicht aus oder er befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Pension und unterlag dem folgenschweren Irrtum, dass die diskriminierende Gesetzgebung des NS-Staates nur seine berufliche Tätigkeit als Jude betreffen würde. Darüber hinaus könnte der Umstand, dass er ein Kriegsveteran war, ihn in verhängnisvoller Weise dazu bewogen haben, sich in Sicherheit zu wähnen. 1942 wurde er in das KZ- Theresienstadt (Terezin, heute Tschechische Republik) deportiert, wo er im Januar 1943 umkam.18

Der St. Pöltener Stadttempel wurde wie alle jüdischen Kultbauten im Zuge der Novemberpogrome 1938 von NS-Horden angezündet, die Ausstattung vernichtet und verbrannt, nur einige ganz wenige Objekte, wie ein Gebetbuch, konnten gerettet werden. Dessen ungeachtet blieb die Bausubstanz weit- gehend erhalten. Während des Krieges wurde das Gebäude von der SA zu verschiedensten Zwecken genutzt, später diente es als Auffanglager für russische Zwangsarbeiter. Nach dem Krieg verwendete die sowjetische Besatzungsmacht den inzwischen stark beschädigten Bau als Getreidespeicher, der schließlich an die Israelitische Kultusgemeinde Wien restituiert wurde. Da sich in St. Pölten nach dem Krieg jedoch keine jüdische Gemeinde mehr etablieren hatte können, sah man keine Verwendungsmöglichkeiten und erwog einen Abbruch.

Nachdem das Gebäude in den 1980er Jahren endlich unter Denkmalschutz gestellt und restauriert wurde, dienen die Räumlichkeiten heute dem Institut für jüdische Geschichte Österreichs, außerdem finden hier Veranstaltungen statt. 19

1 Siehe dazu auch: Pierre Genee: Synagogen in Österreich. Wien 1992.

2 Siehe dazu: Matthias Lackenberger: Die Geschichte der israelitischen Kultusgemeinde St. Pölten 1867-1918. Wien: Unpublizierte Dipl. Arbeit 1999, S.18 ff.

3 Einweihung der neuen Synagoge in St. Pölten, in: Dr. Blochs Wochenschrift 30 (1913), Nr. 34, S. 602f.

4 St. Pöltener Deutsche Volkszeitung 21. 8. 1913, S. 4 - In der Zwischenkriegszeit kam es aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage nur zu ganz wenigen Synagogenbauten, darunter des bedeutenden Hietzinger Tempels. 1938 wurde mit der Machtergreifung der Nazis schließlich jegliches jüdische Leben in Österreich brutal beendet.

5 Siehe Lackenberger, zit. Anm.2 und Christoph Lind: Der letzte Jude hat den Tempel verlassen. Wien 2004, S. 192ff.

6 ebenda

7 Insbesondere Jakob Gartner (1861-1921), der mehr als zwanzig Synagogen errichtet hatte, galt als einer der bedeutendsten Spezialisten auf diesem Gebiet.

8 Siehe dazu Ursula Prokop: Ignaz Reiser. In: www.architektenlexikon.at

9 Siehe dazu Evi Fuks: Der Synagogenwettbewerb von Triest. In: Oskar Strnad 1897-1935. Ausstellungskatalog. Wien: Jüdisches Museum Wien 2007, S. 39f.

10 Den zweiten 2. Preis erhielten die Budapester Architekten Ernst Fortz und Julius Sandy, die beiden 3. Preise fielen Oskar Marmorek und der Architektengemeinschaft Franz Matouschek & Emil Adler (alle aus Wien) zu. Oskar Strnad, der später ein berühmter Bühnenbildner werden sollte, ging leer aus.

11 Siehe dazu: Jüdische Presse, Wien-Bratislava, 7. 1. 1921, S. 5.

12 Zu den Archivalien der IKG siehe Lackenberger, zit. Anm. 2 und Der Bautechniker 32 (1912), S. 557ff, T. 24.

13 Siehe dazu: Ursula Prokop/ P. Schumann: Viktor Postelberg. In: www.architektenlexikon.at.

14 Siehe Anm.3: „Postelberg (…) machte sich in besonders gewissenhafter und uneigennütziger Weise um das gute Gelingen verdient."

15 Siehe Lackenberger, zit. Anm. 2, S. 33.

16 Siehe dazu Friedrich Achleitner: Österreichische Architektur im 20. Jhdt. Bd.III/1. Wien 1990.

17 Siehe Anm.13

18 Siehe dazu Ch. Gruber: Theodor Schreier. In: Österreichisches Biographisches Lexikon. Bd. 11.

19 Siehe Synagoge St. Pölten (www.wikipedia)