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Die Schwabacher „Judenlettern"

Gerald GNEIST

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Bei der typographischen Gestaltung1 von Druck-erzeugnissen kommt der Bruchschrift heute kaum noch eine Bedeutung zu. Die bis zum Jahre 1941 in vielerlei Variationen für den Buchdruck so häufig gegossenen Typen blieben im Gedächtnis des Volkes lediglich als „Nazischrift" in Erinnerung. Dabei sind gerade diese Lettern kein Erbe der Nationalsozialisten, aber wer weiß das heute noch?

Bereits im 15. Jahrhundert kamen im Schriftsatz neben der alten Antiqua die Fraktur- oder Bruchschriften auf2, sodass die Buchdrucker im Verlauf der Entwicklung bei gegossenen Druckschriften allmählich auf viele verschiedene Schriftgattungen und Sonderschriften3 zurückgreifen konnten. Die Nachfolger Gutenbergs definierten die Frakturschriften auch als gotische oder deutsche Schriften, was aber nicht dazu führte, dass etwa die Antiqua4 gegenüber der Fraktur bedeutungslos geworden wäre. Gerade aus diesem Grund konnte sich im deutschen Raum seither jene so charakteristische Zweischriftigkeit herausbilden, die heute fast völlig verloren gegangen ist. Das Phänomen der Parallelität im Schriftsatz war seitdem innerhalb der Zunft der Buchdrucker verwurzelt, in den alten Schriftgießereien schuf man meist gleichzeitig Fraktur- und Antiquaschriften. Beiden Schriftarten haftete optisch, bedingt durch den Schriftcharakter gerundeter bzw. gebrochener Typen, eine sehr große Gegensätzlichkeit an, die noch gesteigert wurde durch den jahrzehntelang tobenden Streit zwischen Anhängern der lateinischen Antiqua und jenen der deutschen Fraktur. Dies war ein Kampf, der auch auf weltanschaulichem Boden ausgetragen wurde. Trotz dieser Querelen setzte im Schriftsatz eine äußerst schöpferische Entwicklung ein. Aus der Überfülle vorhandener Frakturschriften und ungeachtet unterschiedlichster Schnitte, die eine nahezu unbegrenzter Ausdrucks- und Wandlungsfähigkeit der Typen erlaubten, erlangte dennoch eine einzige Bruchschrift überragende Bedeutung, nämlich die Schwabacher Schrift. Diese überaus beliebte Fraktur war zunächst eigentlich die Schrift der Renaissance- und der Reformationszeit gewesen. Mitte des 16. Jahrhunderts wurde sie weitgehend durch andere Bruchschriften verdrängt, erlebte aber im Zeitungsdruck des deutschen Sprachraumes während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine neue Blüte. Viele Zeitschriften in Deutschland verwendeten im Satz wieder die Schwabacher Lettern; auch in österreichischen Boulevardblättern beherrschten diese den Satzspiegel. Erst durch das Geheime Rundschreiben vom 3. Jänner 1941 wurde im gesamten „Deutschen Reich" und somit auch in der „Ostmark" die Schwabacher für Druckerzeugnisse verboten. Martin Bormann teilte den Reichsleitern, Gauleitern und Verbändeführern im Auftrag des Führers mit:

„Die sogenannte gotische Schrift als eine deutsche Schrift anzusehen oder zu bezeichnen ist falsch. In Wirklichkeit besteht die sogenannte gotische Schrift aus Schwabacher Judenlettern. Genau wie sie sich später in den Besitz der Zeitungen setzten, setzten sich die in Deutschland ansässigen Juden bei Einführung des Buchdrucks in den Besitz der Buchdruckereien, und dadurch kam es in Deutschland zu der starken Einführung der Schwabacher Judenlettern. Am heutigen Tage hat der Führer in einer Besprechung mit Herrn Reichsleiter Amann und Buchdruckereibesitzer Adolf Müller entschieden, dass die Antiquaschrift künftig als Normal-Schrift zu bezeichnen sei. Nach und nach sollen sämtliche Druckerzeugnisse auf diese Normal-Schrift umgestellt werden. Sobald dies schulbuchmässig möglich ist, wird in Dorfschulen und Volksschulen nur mehr die Normal-Schrift gelehrt werden. Die Verwendung der Schwabacher Judenlettern durch Behörden wird künftig unterbleiben; Ernennungsurkunden für Beamte, Strassenschilder u. dgl. werden künftig nur mehr in der Normal-Schrift gefertigt werden. Im Auftrage des Führers wird Herr Reichsleiter Amann zunächst jene Zeitungen und Zeitschriften, die bereits eine Auslandsverbreitung haben, oder deren Auslandsverbreitung erwünscht ist, auf Normal-Schrift umstellen."5

Allein die Tatsache, eine Antiquaschrift als „normal" zu bezeichnen, implizierte, die Frakturschriften als „abnormal" zu disqualifizieren. Hier waren handfeste politische Ziele im Spiel, galt es doch, durch die Vereinheitlichung der Schriften die paneuropäischen Herrschaftspläne europäischer Faschisten - natürlich unter deutscher Führung - zu realisieren. Somit lag der Grund für den „typographischen Unfug" Hitlers in der berechnenden Absicht, dieses letternreine „neue Europa" künftig leichter anführen zu können. Mittels dieser Maßnahme wurde Deutschland, das sich damals satztechnisch durch die Dominanz der Frakturschriften ohnehin schon deutlich von kyrillischen Schriften des Ostens distanziert hatte, dem „lateinischen", kapitalistischen Westen zugeschlagen. Steinberg, der Historiker der Druckkunst, bemerkte dazu später trocken, dies sei „the one good thing Hitler did for German civilisation", gewesen.

Das Bild zeigt einige Zeilen des 1983 in der DDR erschienen Buches Das Hohe Lied Salomo. Es handelt sich um eine Sammlung althebräischer Liebes- und Hochzeitslyrik in der Übersetzung von Martin Luther. Der Text lautet: „Er kusse mich mit dem kusse seyns mundes/denn deyne brüste sind lieblicher denn weyn/. Abbildung mit freundlicher Genehmigung: Gerald Gneist

Die Entscheidung der Nationalsozialisten, bei Druckerzeugnissen den Antiquaschriften den Vorrang zu geben, um die weitreichenden Pläne einer NS-Herrschaft umsetzen zu können, führte dazu, dass heutzutage die gedruckten Frakturschriften nur mit Mühe gelesen werden können. Jungen Historikern etwa bleibt dadurch das Lesen von Geschichtsquellen im Originaldruck oder in der Originalschrift vorenthalten.

Rudolf Koch, überzeugter Christ, Lehrer und Ehrendoktor der Theologie schrieb schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts:

„Die Kunst des Schreibens ist heute zu einem großen Teil den Kunstfreunden, ja selbst den Künstlern eine fernliegende, [...] unserer Zeit nicht mehr gemäße Fertigkeit."

Koch war ein Verehrer der großen Leistungen anderer Völker. Das Alte Testament imponierte ihm; die schönsten Handschriften fanden sich seiner Meinung nach in den Psalmen- und Prophetentexten. Für eine jüdische Gemeinde stellte er handgetriebene Kultgeräte und Schriftteppiche in hebräischer Sprache her. Der spätere Offenbacher Ehrenbürger Siegfried Guggenheim zählte zu seinen besten Freunden. Im nordamerikanischem Exil veröffentlichte Guggenheim in Neu York anno 1948 posthum das Buch Rudolf Koch, His Work and the Offenbach Workshop.

Koch, am 9. April 1934 verstorben, hatte weder Röhm-Putsch noch Nürnberger Rassegesetze miterleben müssen. Sein früher Tod verhinderte den Konflikt mit den neuen Herren Großdeutschlands, welche die Schwabacher in den Setzkästen nicht mehr dulden wollten. Die Frakturschrift aber ist mehr als ein Mittel zum Zweck: Sie schafft ein erweitertes Lebensgefühl, sie ist ein Mittel der Bildung.

1 Mit der Erfindung des Buchdruckes setzte eine Entwicklung der Typographie ein, die, ausgehend von der lateinischen Druckschrift, Anregungen der Kalligraphie aufnahm und die Schwerpunkte der graphischen Gestaltung einerseits auf Formenstrenge und andererseits auf Dekorativität legte.

2 Die Fraktur erschien zum ersten Mal 1513 in einem Gebetbuch Kaiser Maximilians.

3 Unter Schrägschriften (Kursivschriften) sind im deutschen Schriftsatz nicht nur Bruchschriften (Frakturschriften) zu verstehen, sondern auch Rundschriften (Antiquaschriften, die alle „s" - Formen aufweisen), die von deutschen Schriftschöpfern bzw. Gießereien als Hausschnitt herausgebracht wurden.

4 Die Antiqua, Lateinschrift oder noch besser Altschrift genannt, ist eine aus der lateinischen Quadrat- und der Humanistenschrift abgeleitete Druckschrift.

5 Quelle: Bundesarchiv Koblenz. Man beachte übrigens die „s" - Schreibung der Nationalsozialisten, die unangenehm an die letzte deutsche Rechtschreibreform erinnert.