Vom 11. bis 13. März 1921 versammelten sich in Wien Judenfeinde aus Österreich, Ungarn und Deutschland, nicht nur um an der Erlösung des Volks der Arier aus der „ihm vom Judenthume aufgezwungenen Knechtschaft" zu arbeiten und das Elend der Gegenwart zu lindern, sondern um die Verlierer des Ersten Weltkriegs wieder zu lichten Höhen zu führen.
Unter stürmischem Beifall begrüsste der Initiator und Vorsitzende des Antisemitentags, Dr. Jerzabek, die Versammlung und versprach den „hehren Augenblick, an dem wir jubelnd ausrufen dürfen: ‚Deutscher Aar! Gesprengt ist die Kette, die dich bisher gefangen hielt.‘" Es handelte sich also, in der üblichen Diktion aus patriotischer Larmoyance und chauvinistischem Pathos, um ein Treffen ultranationalistischer Ideologen, die seit dem Zusammenbruch der Monarchie und der Revolution 1918 die Welt nicht mehr verstanden, alldeutsch und völkisch dachten und in „den Juden" die Schuldigen an allem Unglück sahen. „Nur der Kräfte lähmenden Zersetzung, die das Deutsche Volk durch das Judengift erfahren hat, verdankt die Entente den Sieg", versicherte der Begrüssungsredner Jerzabek einem Auditorium, das diesen Glauben voll und ganz mit ihm teilte.
Dr.med. Anton Jerzabek (1867-1939) konnte auf eine politische Karriere zurückblicken, die ihn als Mitglied und Exponenten des rechten Flügels der Christlichsozialen Partei 1911 in den Reichsrat geführt hatte. 1918/19 war er Mitglied der Provisorischen Nationalversammlung und 1920-1930 Abgeordneter zum Nationalrat. Jerzabek, der als Regimentsarzt und Oberstadtarzt in Wien tätig gewesen war, hatte am Ersten Weltkrieg teilgenommen und Autorenruhm mit einer Schrift über „Sanitätshilfsdienst und Samariterwesen" erworben. Jerzabek gründete 1919 den „Antisemitenbund", der sich als überparteiliches Sammelbecken allen Judenfeinden anbot und sich als „Schutzverein" zur Abwehr jüdischen Machstrebens verstand. Der Antisemitenbund hatte Ortsgruppen in Österreich und korrespondierte mit dem „Verband gegen die Überhebung des Judentums" in Berlin, mit dem „Verein der Erwachenden Ungarn" und dem Christlich-Sozialen Verband in Budapest, der Christlich-Sozialen Landespartei in Bratislava, dem „Deutsch-Arischen Press-Verein in der Tschechei", dem Tiroler Antisemitenbund und anderen Vereinen ähnlicher „Qualität", die Vertreter nach Wien zum Antisemitentag entsandten.
Die Männer zerbrachen sich drei Tage lang den Kopf über „den Stand der Judenfrage" und allerlei behauptete Missstände wie „die Verjudung der Hochschulen", den „jüdischen Einfluss auf die Pflichtschulen", den „Kampf des Judentums um die Weltherrschaft", die schmerzlich empfundene angebliche Dominanz der Juden in Kunst und Literatur, Presse usw. Ein Arbeitsplan wurde beraten, wie den vielen festgestellten Übeln abzuhelfen sei, und ein Weltkongress der Antisemiten wurde beschlossen, der noch im Herbst 1921, nach gehöriger Vorbereitung durch den „Verein der Erwachenden Ungarn", in Budapest zusammentreten sollte. Ein Zentralbüro würde ins Leben treten, um die Beziehungen zum antisemitischen Ausland zu vertiefen, und in allen österreichischen Landeshauptstädten sollten zugleich weitere Antisemitentage abgehalten werden. Was auch irgendein Wirrkopf im Namen seiner Vereinigung oder auf eigene Gefahr beantragte, wurde beschlossen; zu guter Letzt wurde der Vorsitzende ermächtigt, ein „Komitee zur Pflege des Meinungsaustausches" zu bilden. Mit Dankesworten entliess Dr. Jerzabek die Teilnehmer.
Dokumentiert wurden die Verhandlungen des Antisemitentages in der Verbandsgazette des Antisemitenbundes „Der eiserne Besen", die mit dem Untertitel „Ein Blatt der Notwehr" in Wien und später in Salzburg erschien. In Diktion und Ausdrucksweise war der „eiserne Besen" ein Vorläufer des berüchtigten Hetzblatts „Der Stürmer", das Julius Streicher ab 1923 in Nürnberg herausgab.
Das Ganze war bis dahin eher komisch: Ein kleines Grüppchen von Fanatikern hatte sich mit der gebotenen Feierlichkeit wichtig genommen, Reden waren gehalten und protokolliert worden, Botschaften wurden versandt, wie es unter Gleichgesinnten vorkommt. Dass es sich um Judenfeinde handelte, die ihren Hass zum politischen Programm stilisierten, machte die Veranstaltung aber zu einem unerfreulichen Ereignis, das freilich keine besondere Dimension hatte, obwohl die Presse darüber berichtete, als handele es sich um einen ernstzunehmenden Kongress. 40.000 Teilnehmer seien es gewesen, ist gelegentlich in der Fachliteratur zu lesen. Das wäre freilich ein Fanal gewesen. Der Festsaal der Wiener Bäckergenossenschaft, in dem die Antisemiten tagten, hätte aber so vielen nicht Raum bieten können und das Missverständnis klärt sich, wenn man in der internen Berichterstattung von 62 Teilnehmern liest, die insgesamt 400.000 Mitglieder der Vereine und Bünde vertraten, in deren Namen die Herren in Wien agierten. Der aus München angereiste Nationalsozialist Hermann Esser etwa sass dann zugleich für alle Abonnenten des „Völkischen Beobachters" in Wien, denn in dieser Eigenschaft wurde er begrüsst.
Der Vertraute Hitlers überbrachte die Grüsse der „radikal-judenfeindlichen reichsdeutschen Nationalsozialisten" und erklärte unter stürmischem Beifall, „dass eine wesentliche Vorstufe zur Lösung der Judenfrage" im „Anschluss Deutschösterreichs und aller deutschsprechenden Gebiete" an das Deutsche Reich bestehe. Das war einige Tage später im „Völkischen Beobachter" so zu lesen.
Vom Antisemitentag 1921 zum „Anschluss" 1938
Die dreitägige Veranstaltung endete am Abend des 13. März mit dem Aufruhr des aufgepeitschten Pöbels auf den Strassen Wiens. Die Abschlusskundgebung des Antisemitentages fand in der Volkshalle des Rathauses statt. Da der Raum nicht Platz bot für die Formationen der christlichsozialen und deutschnationalen Vereinigungen, die aus den Bezirken zum Rathaus marschierten, wurde um 17.00 Uhr eine Versammlung unter freiem Himmel vor dem Rathaus improvisiert, die etwa 5000 „Patrioten" im Zeichen des Antisemitismus vereinte. Zu den Anhängern des Dr. Jerzabek gesellten sich der Nationalverband deutschösterreichischer Offiziere, die Frontkämpfervereinigung, die Nationalsozialistische Partei, die Gewerkschaft der völkischen Postler, die Gewerkschaft deutscher Eisenbahner, und andere, die sich an verschiedenen Aufmarschplätzen formiert hatten, von denen aus sie zum Rathaus strömten.
An fünf Plätzen vor dem Rathaus wurden Reden gehalten, dann bildete sich mit Musik an der Spitze ein Zug in Viererreihen, der sich über die Ringstrasse Richtung Parlament in Bewegung setzte. Dort sang man entblössten Hauptes „Deutschland, Deutschland über alles". Zahlreiche Polizeikräfte bildeten einen Kordon zwischen den patriotischen Judenfeinden und ihren politischen Gegnern, die vor dem Burgtheater die Internationale anstimmten. An der Babenbergerstrasse verloren die Organisatoren die Kontrolle über den Zug, dem sich Krawallmacher und aufsässiger Mob angeschlossen hatte. Der Pöbel randalierte gegen die Polizei, stürmte Strassenbahnwagen mit dem Ruf „Juden hinaus", zerschlug die Fenster von Kaffeehäusern, jagte Passanten, prügelte Personen, die man für Juden hielt. Sicherheitskräfte verhinderten das Eindringen des pogromsüchtigen Mobs in die Leopoldstadt. Der Spuk dauerte, bis die Polizei den Zug zerstreut hatte, etwa zweieinhalb Stunden; 25 Personen wurden wegen polizeiwidrigen Verhaltens und öffentlicher Gewalttätigkeit verhaftet.
Die Zeitungen berichteten über den Antisemitentag und die anschliessenden Ausschreitungen. Die „Volkszeitung" beschrieb die Strassenkrawalle ausführlich in missbilligender Diktion, berichtete aber über den Antisemitentag ohne Distanz, als handele es sich um einen normalen Kongress. Die „Neue Freie Presse" schrieb weniger zurückhaltend über diese „tiefbedauerlichen Vorgänge, die nicht scharf genug verurteilt werden können" und verwies auf den aussenpolitischen Schaden des Krawalls: „Die Veranstalter der Rathausversammlung mussten wissen, dass ihre Brandreden auf der abendlich dunklen Strasse jenen abscheulichen Widerhall finden würden." Der Wiener „Neuen Freien Presse" war es wichtig zu betonen, dass das „wüste Treiben der Strassenbahnstürmer, der Fensterscheibenzerschmetterer, der Helden vom geschwungenen Stock und vom Schlagring, die einen verschwindenden Teil der Bevölkerung darstellen, überall das peinlichste Aufsehen und die schärfste Missbilligung hervorgerufen hat".
17 Jahre später, im März 1938, spielten sich wieder Szenen ab, deren Anlass Judenfeindschaft war. Zum Auftakt des „Anschlusses" wurden Juden auf den Strassen gedemütigt und verhöhnt, johlende und gewalttätige Barbaren, in die sich der tonangebende Teil der Bevölkerung verwandelt hatte, wurden zu Tätern, die antisemitische Ideologie in der Praxis auf der Strasse agierten. Die Ideologie der Judenfeindschaft war jetzt Staatsdoktrin. Die Antisemiten waren an der Macht. Die Ereignisse im März 1921 waren ein Vorspiel gewesen.