Ausgabe

Antisemitismus in den Regierungen Figl und Raab (1945 - 1961)

Gertrude Enderle-Burcel

In der grundlegenden Publikation des bekannten britischen Historikers Robert Knight „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen“1 finden sich zu Fragen des Antisemitismus nach dem Holocaust und der Haltung der österreichischen Nachkriegsregierungen viele Antworten. Knight hat deutlich darauf hingewiesen, dass die ausgewählten Dokumente aus den Ministerratsprotokollen der Jahre 1945 bis 1952 erst der Anfang für eine quellensichere Gesamtsicht sind.

Inhalt

Zu den vom Autor angesprochenen Themen Entnazifizierung, Eigentumsverhältnisse nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes, Streit um das Deutsche Eigentum, Displaced Persons, Verbindungen von Teilen der österreichischen Eliten in Politik, Wirtschaft und Verwaltung zum NS-Regime und die Wirkung dieser Verbindungen im Nachkriegsösterreich sind seitdem profunde Forschungen erschienen, nicht zuletzt die Bände der Historiker-Kommission.2 Dennoch sind viele dieser Themen nicht zu Ende gedacht. Jede Monographie und Quellen-Edition führt zu neuen Fragestellungen.

 

Die Grundzüge der österreichischen Regierungspolitik sind bekannt. Die Haltung aller Parteien – ÖVP, SPÖ und KPÖ – lassen sich auf die Kurzformel „right or wrong my country“3 bringen. In den Regierungen dominierte die Ablehnung der jüdischen Forderungen in der Höhe von rund 1,2 Milliarden Dollar für nach dem „Anschluss“ 1938 „arisiertes“ Vermögen. Dazu kamen etwa 60.000 Wohnungen der aus Wien vertriebenen jüdischen Bevölkerung.4 Angesichts der Kriegszerstörungen und der alliierten Besatzung vertraten die politischen Eliten eine Opferrolle, unter Verdrängung der Mittäterschaft von Teilen der österreichischen Bevölkerung. Entschädigungen wären eine Anerkennung des Unrechts, die Einsicht in Fehlverhalten gewesen. Man gefiel sich in der Rolle der „Verführten, Getäuschten, Besiegten und Besetzten“5 und das wurde durch die Sichtweise der Amerikaner und Briten verstärkt, die meinten, dass eine „übermässige wirtschaftliche Belastung“ letzten Endes nur zu einem wirtschaftlich schwachen Österreich geführt hätte, das sie subventionieren hätten müssen.6 Dies wurde weidlich ausgenützt.

 

Verschiedene Äusserungen von Mitgliedern der Regierungen Figl und Raab führen zu einer ganz anderen Frage – zur Frage nach der persönlichen Einstellung der „Gründerväter“ der Zweiten Republik zur jüdischen Bevölkerung. Der autochthone Antisemitismus im Österreich der Zwischenkriegszeit7 hatte durch Krieg und Holocaust kein Ende gefunden. 1945 gab es keine „Stunde Null“ für den Antisemitismus.8 Die „Gründerväter“ der Zweiten Republik waren zwar Gegner des NS-Regimes, zum Teil auch in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen, aber nicht unbedingt auch immun gegen antisemitistische Einstellungen.

 

Während das Handeln als Regierungskollektiv durch Robert Knight und die auf seine Publikation folgende Gesamtedition der Ministerratsprotokolle der Regierungen Renner und Figl I9 gut dokumentiert ist, steht eine systematische Forschung zu den „Gründervätern“ bei allen Parteien noch aus. Bei der SPÖ gibt es zumindest eine Aufarbeitung der Rolle des Bundes Sozialistischer Akademiker bei der Integration ehemaliger Nationalsozialisten.10 Die Partei stellte sich „ihren braunen Flecken“ mit zwei weiteren Berichten in den Jahren 2004 und 2005. Als Folge entschloss sich auch die ÖVP, den Umgang ihrer Partei mit ehemaligen Nationalsozialisten zu durchleuchten. Erst 2018 kam diese Studie zum Abschluss.11 Entnazifizierungs-Gesetze sind aber ebensowenig ein Gradmesser für den Antisemitismus in den Nachkriegsregierungen12 wie der Umgang mit ehemaligen Nationalsozialisten. Forschungen zu prononcierten antisemitischen Politikern der Christlichsozialen Partei der Zwischenkriegszeit wie Emmerich Czermak, Josef Kresse und viele andere13 – und ihren Karrieren in der Zweiten Republik stehen noch aus.

Nach Knights Publikation zum Handeln im Regierungskollektiv und nach den Berichten von SPÖ und ÖVP zum Umgang mit ehemaligen Nationalsozialisten bleibt nach wie vor die Frage nach dem persönlichen Antisemitismus von einzelnen Politikern. Es werden immer wieder die Namen einer Handvoll Politiker genannt.

 

Bei der SPÖ sind dies Karl Renner, Adolf Schärf und Oskar Helmer. Bei der ÖVP dominiert Leopold Kunschak, doch werden auch Leopold Figl, Julius Raab, Josef Klaus oder Alfons Gorbach mit ihren „antisemitischen Ausrutschern“ und Äusserungen gegen Emigranten zitiert. Die rassistische Verunglimpfung von Bruno Kreisky als „Saujud“ durch den ÖVP-Abgeordneten Alois Scheibengraf im Wahlkampf 1966 stellt einen abstossenden Höhepunkt dar.14

 

Detailstudien gibt es zum SPÖ-Parteivorsitzenden, Vizekanzler und späteren Bundespräsidenten Adolf Schärf,15 diese ergeben ein Bild „away from the conventional narratives“ wie Robert Knight in einer Rezension zu den edierten Tagesnotizen des Jahres 1953 schrieb.16 Jeder der bisher erschienenen Bände brachte neues Quellenmaterial, das die Grundlagen lieferte, um den Stellenwert von Einzeldarstellungen zu Adolf Schärf und zu seiner Zeit neu zu definieren, vordergründige und voreilige Interpretationen und nachträgliche Rechtfertigungen zu revidieren. In den Einleitungen zu den Editionsbänden wird im Detail auf die Vorwürfe gegen Adolf Schärf – er habe 1938 eine Rechtsanwaltskanzlei „arisiert“ und nach 1945 die Rückkehr linker, jüdischer Sozialdemokraten aus der Emigration aus „persönlichen antisemitischen Ressentiments verhindert“17 – eingegangen. Quellen, die dies belegen sollen, halten einer Überprüfung nicht stand. Dabei wird die Entwicklung der Nachkriegs-SPÖ schlicht verzerrt, Handlungsmuster werden als Antisemitismus interpretiert und historische Entwicklungsstränge ausgeblendet. Die Vorwürfe gegen Adolf Schärf zwingen jedoch zum Faktischen. Wichtige Materialien seines Nachlasses sind in Gabelsberger-Stenografie verfasst und die Protokolle des Präsidiums und des Vorstandes der SPÖ für die Zeit nach 1945 sind für die Benützung immer noch gesperrt.

 

Es fehlt an einer Gesamtsichtung und an Dokumentenkritik, gleichzeitig werden Dokumente, die eine andere Interpretation zulassen, ignoriert. Das negative Schärf-Bild hat sich verfestigt und hängt auch eng mit dem Wandel der Geschichtswissenschaft in Richtung Legitimationswissenschaft seit Ende der 1980er Jahre zusammen. Damit unterliegen auch die Interpretationen der faschistischen Vergangenheit einem Wandel. Das weitgehende Schweigen einer ganzen Generation nach 1945 über die jüngste Vergangenheit, das erst in den späten 1980er Jahren dauerhaft ein Ende fand, wird am Beispiel von Adolf Schärf – eines Spitzenpolitikers der Nachkriegszeit – aufgerollt. Einem prominenten Sozialdemokraten, Vizekanzler und Bundespräsidenten Antisemitismus zu unterstellen, ist so verlockend, dass Vertreter von Forschung und Medien oft nicht widerstehen konnten und können. Je höher der Rang und die Integrität einer von der Generation der Nachgeborenen zur negativen Symbolfigur hochstilisierten Persönlichkeit, desto medienwirksamer. Schärf wurde zum vermeintlichen Repräsentanten für eine ganze schuldig gewordene Generation.