
Auf tragische Weise haben das Kamikaze-Attentat gegen die Synagoge auf der tunesischen Insel Djerba und die Welle antijüdischer Übergriffe in Frankreich das Schicksal des aus Nordafrika stammenden Judentums in den Blickwinkel einer breiteren Öffentlichkeit gerückt. Mit seiner Jahrtausende alten Geschichte und massiven Folgepräsenz in Israel und Frankreich stellt das maghrebinische Judentum den zweiten, großen Strang der jüdischen Weltbevölkerung der Neuzeit dar - ein oft kulturell unterschätzter Quasi-Zwilling des osteuropäischen Judentums. Während die wenigen, noch in Tunesien und Marokko verbliebenen Juden in einer für sie immer bedrohlicheren Atmosphäre leben und kaum über Zukunftsperspektiven verfügen, haben die jüdischen Familien aus dem Maghreb dem französischen Judentum neue Vitalität verliehen. Aus ihren Reihen stammt die Mehrheit der rund 700.000 Juden Frankreichs (die größte jüdische Bevölkerung Europas, mit Ausnahme Rußlands) und inzwischen auch die Mehrheit der intellektuellen jüdischen Eliten. Ein beträchtlicher Teil dieser Juden aber wohnt, verkehrt und arbeitet in Vierteln, in denen auch die moslemischen Migranten aus dem Maghreb ansässig wurden. Dort haben die emotionale Strahlkraft des Nahostkonflikts, eine archaische, aus dem Maghreb herrührende Stigmatisierung der Juden, islamisch-fundamentalistische Agitation und soziale Marginalisierung eines beträchtlichen Teils der moslemischen Einwandererfamilien einen Rahmen geschaffen, in dem sich antijüdische Gewalttaten junger Franko-Araber häufen.
 Es gibt Zweierlei: Einerseits eine Welle von Brandanschlägen    gegen Synagogen, jüdische Schulen, Gemeindezentren, koschere    Metzgerläden, ja sogar Wohnungen jüdischer Familien.    Dazu Steinwürfe gegen Gläubige auf dem Weg zum Gottesdienst    und gegen Kinder vor jüdischen Schulen, Attacken von    Rollkommandos gegen jüdische Sportvereine, etliche Zufallsschlägereien    und Anpöbelungen. Seit Ende 2000, also dem Beginn der    zweiten palästinensischen Intifadah, haben jüdische    Organisationen über 400 antijüdische Vorfälle    in Frankreich registriert. Die bisher identifizierten Täter    sind ausnahmslos junge Franko-Araber. Juden gaben daraufhin    das Tragen der Kippa auf, Eltern nahmen ihre Kinder aus jüdischen    Schulen. Vereinzelte jüdische Familien mußten aus    Sozialsiedlungen ausziehen, wo sie von Jugendlichen regelmäßig    bedroht worden waren.
 Andererseits gibt es auch dies: die islamische Gemeinde eines    Pariser Vororts stellt einer jüdischen Schule Fahrzeuge    zur Verfügung, um deren Schulbusse zu ersetzen, die bei    einem Brandanschlag auf einem Parkplatz zerstört wurden.    Junge Moslems folgen dem Aufruf eines Imams, um bei der Reparatur    beschädigter jüdischer Einrichtungen zu helfen.    Islamische Gemeindevorsteher erstatten angegriffenen Synagogen    Solidaritätsbesuche. Franko-arabische Intellektuelle    veröffentlichen einen vehementen Aufruf gegen die antijüdischen    Anschläge. Anti-Rassismusgruppen und Migranten-Vereine    organisieren jüdisch-moslemische Treffen. Und natürlich    haben sich die meisten Politiker Frankreichs von der Staatsspitze    abwärts bis hin zu den örtlichen Gemeinderäten    mit den attackierten Juden solidarisiert, während der    Polizeischutz erhöht wurde. 
 Das Problem ist freilich, daß die antijüdische    Gewalt so verstreut auftritt wie eben die jüdische Präsenz    in Frankreich. Und daß sie sich vor allem in jenen sozialen    Krisenzonen äußert, in denen bereits Jugendgewalt    mehr oder weniger den Alltag prägt, ohne daß die    Sicherheitsbehörden aber auch Sozialarbeiter, Stadtviertel-Aktivisten    aus Migrantenfamilien oder moslemische Betreuer damit fertig    würden.
![]()  | 
																				Gottesdienst in der Synagoge          " Al Ghriba" auf der tunesischen Insel Djerba,          in den 30er Jahren. Am vergangenen 11. April beging ein          mutmaßlicher Al Kaida-Anhänger in einem LKW          vor dem Eingang der " Al Ghriba" einen Selbstmordanschlag.          Dabei starben 18 europäische Touristen. | 
																				
Zweifellos sind in Frankreich auch radikal-islamische Untergrundgruppen    am Werk, die sozial abgeschlagene und familiär oft verwahrloste    Vorstadtjugendliche (auch aus nicht-moslemischen Familien)    in ihren Bann ziehen. In Frankreichs Gefängnissen haben    islamische Fundamentalisten durch Indoktrination, Einschüchterung    aber auch Gruppensolidarität unter jungen Häftlingen    vielfach eine Art Vorherrschaft errungen. Von da führte    auch bereits der Weg junger Moslems aus den französischen    Vorstädten ins Netz von Terrororganisationen, wie der    algerischen GIA und der Al Kaida von Bin Laden. 
 Aber den bisher identifizierten, antijüdischen Gewalttätern    in Frankreich konnte keine derartige Verbindung nachgewiesen    werden. Sie verkehrten nicht einmal in religiösen oder    politischen Vereinen. Sie waren schon zuvor in Vandalismus    und Kleinkriminalität abgeglitten. Sie scheinen spontanen    Eingebungen, oft nach TV-Berichten aus dem Nahen Osten, gefolgt    zu sein. 
 Wo Attacken auf Polizisten, Busfahrer, Briefträger, Ärzte    und Angehörige der Feuerwehr (!) die Regel sind, wo Kirchen    beschmiert und ältere Passanten angespuckt werden, wo    zum Teil tödliche Bandenkriege zwischen Siedlungen ausgefochten    werden, fällt der Schritt zur Drangsalierung der jüdischen    Nachbarn nicht schwer.
Die maghrebinischen Juden in Frankreich:    zwischen Erfolgsstorys, 
 uriger Selbstbehauptung und 
 mittelständischer Unauffälligkeit
 Das ist eben auch möglich, weil es eine parallele, sichtbare    Präsenz von Moslems und Juden gibt. Die Mehrheit der    französischen Juden besteht heute aus Familien, die aus    Nordafrika stammen. Diese verließen den Maghreb (der    arabische Nordwesten Afrikas) hauptsächlich in den fünfziger    und sechziger Jahren, knapp vor und nach der Erlangung der    Unabhängigkeit der drei von Frankreich kolonisierten    Maghrebländer (Algerien, Tunesien und Marokko). Ihr Exil    beendete eine rund 2000 Jahre zurückreichende permanente    regionale Präsenz. Maghrebinische Juden und Moslems trafen    wieder aufeinander in der Banlieue (Vorortegürtel) französischer    Großstädte und innerstädtischen Pariser Immigrantenvierteln. 
 Erst die Masseneinwanderung der Juden aus Nordafrika verlieh    den französischen Juden nach dem Zweiten Weltkrieg wieder    ihre Sichtbarkeit. Die Shoa, die Diskretion der Überlebenden    und der soziale Aufstieg vieler ihrer Kinder, verbunden mit    geographischer Streuung und Auflösung religiös-gemeinschaftlicher    Bande, hatte zum Verblassen der jüdischen Präsenz    im Stadtbild geführt. Es war der Einwanderungsschub aus    dem Maghreb, der gerade noch rechtzeitig die Synagogen wieder    füllte. In etlichen Fällen kam es zur sang- und    klanglosen Ablöse des aschkenasischen durch den sephardischen    Ritus. Allerdings waren die nordafrikanischen Juden, ähnlich    wie die osteuropäischen Juden der Vorkriegsperiode, für    den Geschmack der Alteingesessenen zu laut, zu ungeniert,    zu "jüdisch".
 Inzwischen ist die vermeintliche Vitalität der maghrebinisch-jüdischen    Identität insgeheim zu einem Motiv allgemeinen jüdischen    Stolzes avanciert. Sie überwiegt auch in der Typisierung    des französischen Judentums durch außerjüdische    Beobachter. Das nordafrikanische Couscous-Gericht hat schon    längst die "gefillten Fisch" als Kultmahl jüdischer    Mütter am Schabatabend abgelöst. 
 Am bezeichnendsten war der enorme Erfolg eines Films: "La    vérité si je mens" (wörtlich: Die    Wahrheit, wenn ich lüge – sinngemäß:    Ich halte es nicht so genau mit der Wahrheit, aber du weißt    es). Mit jeweils rund fünf Millionen Zusehern wurden    zwei Folgen dieses reinen Unterhaltungsfilms zu einem der    größten Kassenschlager der neu erwachten französischen    Filmindustrie. Die Story kreist um die aus nordafrikanischen    Familien stammenden jüngeren Juden, die im Pariser Textilviertel    Sentier, einst Hochburg ostjüdischer und armenischer    Einwanderer, eine neue Konfektionsindustrie von einzigartiger    Dynamik hochstemmten. In verwinkelten Gäßchen und    schrägen Uraltbauten (häufig aus dem 18. Jahrhundert),    die von der Kahlschlagrenovierung des Baron Haussmann (19.    Jahrhundert) verschont geblieben waren, entstand ein Geflecht    aus Grossisten, Modezeichnern und (teilweise illegalen) Schneiderwerkstätten    – de facto eine riesige, aufgesplitterte Fabrik, von    der man nicht weiß, ob sie der prä- oder postindustriellen    Ära zuzurechnen ist. Ein Mix aus Risikobereitschaft,    Kreativität, Flexibilität und sozialer Brutalität,    das einigen Firmen zu Welttriumph verhalf, Frankreichs Konfektion    zeitweilig vor dem Untergang bewahrte und die ökonomische    Verödung eines Teils der Pariser Altstadt verhinderte. 
 In dem Film werden die mutmaßlichen Merkmale des Sentier    gefeiert: Mut, Durchsetzungswille und Fleiß der ursprünglich    mittellosen Zuwanderer, jüdische Solidarität zwischen    Abschottung und Öffnung (die Hauptfigur ist ein Nichtjude,    der trotz Anfangsschwierigkeiten familiär und professionell    alle Erfolgsstufen dieses jüdischen Milieus erklimmt),    Schlitzohrigkeit, neo-orientalische Folklore, mediterrane    Lebensfreude und trendiger Hedonismus. Der erste Streifen    kam 1996 heraus, als Massenarbeitslosigkeit und Wirtschaftsstagnation    viele Franzosen in eine Stimmung der "Morosité"    gehüllt hatten. Damals wurden die Erfolgsstorys des Sentier    von einem dankbaren Publikum als optimistisches Gegenserum    zur allgemeinen Trübsinnigkeit aufgenommen. Der Film    bediente freilich auch üppig Klischees über schnellen    Reichtum und kommerzielle Überlegenheit "der"    Juden.
 Freilich zelebriert der Streifen das Phänomen des jüdischen    Sentier und der vibrierenden sephardischen Gruppenidentität    zu einem Zeitpunkt, da beides bereits im Abflauen ist. Ein    beträchtlicher Teil der Textilproduktion des Sentier    ist nun doch in Billiglohnländer ausgelagert worden.    In den übriggebliebenen Bereichen machen sich Türken,    Kurden, Pakistanis, Tamilen und vor allem die chinesische    Diaspora auch als Unternehmer breit. Wenn es in letzter Zeit    neuen Zuzug von Juden im Sentier gab, so war das eine noch    jüngere Generation, die in den verlassenen Textilbetrieben    Start-up-Firmen der New-Economy einrichteten.
 Denn die Juden aus Nordafrika haben, im Zeitraffer, dieselben    Etappen wie die jüdischen Familien aus Osteuropa durchschritten:    urbane Streuung und schrittweise Auflösung in einem breiten    Mittelstandsmilieu, flankiert von hervorragenden Karrieren    in High-Tech-Branchen, Industrie- und Handelsmanagement, Finanz,    Werbung, Medizin, Wissenschaft, Justiz, Kultur, Massenmedien    und Politik.
Der jüdische Maghreb – ein Spiegelbild Osteuropas
Das mag als Gegensatz zu den herkömmlichen Elendsbildern    erscheinen, die ausgehend von der nordafrikanischen Einwanderung    in Israel geprägt wurden. Die Erklärung liegt auf    der Hand: Einmal abgesehen von den Vorurteilen und dem Dirigismus    der ersten Generationen des aschkenasischen Establishments    Israels gegenüber den orientalischen Juden, fällt    zweifellos ins Gewicht, daß die Mehrheit der maghrebinischen    "Alijah" nach Israel aus Marokko kam. Also aus jenem    Teil des Maghreb, auf den der französische Kolonialismus    den oberflächlichsten Einfluß ausübte. Und    wo sich ein zahlenmäßig bedeutendes, volkstümliches,    arabo- und berberophones Judentum bis weit ins Landesinnere    erhalten hatte. Wobei es wiederum eher die ärmeren und    traditionsverhafteteren Teile des marokkanischen Judentums    waren, die nach Israel gingen. Die franko-europäisch    gebildeteren und wohlhabenderen Schichten zogen ins frankophone    Kanada, ein kleinerer Teil nach Frankreich. 
 Das tunesische Judentum teilte sich gleichmäßig    zwischen Israel und Frankreich auf – ebenfalls entlang    einer sozialen und traditionsbedingten Bruchlinie, die allerdings    weniger scharf ausfiel als in Marokko. 
 Die überwältigende Mehrheit der Juden Algeriens    ging hingegen, knapp vor und nach der Unabhängigkeit    des Landes, 1962, nach Frankreich – oft mit schlechtem    Gewissen gegenüber Israel. Ein Phänomen, das unterirdisch    weiterwirkte und sich in den letzten Jahren, in einer nachträglichen,    kleinen "Alijah" der jüngsten Generation algerisch-    und tunesisch-jüdischer Familien aus Frankreich nach    Israel wieder Bahn brach. 
 Algerien war eine extreme Variante der französischen    Expansion in Afrika gewesen. Das 1830 überfallene Territorium    wurde schrittweise zur ausgesprochenen Siedlerkolonie und    schließlich von den Kolonisatoren als normaler Bestandteil    Frankreichs gedacht – unter Ausschluß der moslemischen    Bevölkerungsmehrheit, die grausamst marginalisiert und    entrechtet wurde. 
 Die algerischen Juden freilich, die zuvor, in der erstarrten,    islamisch-ottomanischen Gesellschaft, als verachtete, verhältnismäßig    schutzlose und immer wieder mißhandelte Minderheit gelebt    hatten, sahen in der französischen Besetzung eine Chance    für ihre Emanzipation. Die anfänglich
| 
																				 
  | 
																				Jüdische Schneider im Souk von Tunis um 1915. Von etlichen Bereichen ausgeschlossen, füllten Juden ähnliche berufliche Nischen in Nordafrika wie ihre Glaubensbrüder in Osteuropa. | 
| 
																				 
  | 
																				Schulklasse der franko-jüdischen "Alliance Israelite Universelle" in Tetuan, Marokko, um 1910. Religiöse Durchschulung und Alphabetisierung verliehen der jüdischen Pariakaste wie in Europa eine Aufstiegsdynamik. | 
![]()  | 
																				Jüdische Versammlung in Tlemcen, Algerien, um 1910 . Die Jüngeren tragen bereits europäische Kleidung, die Älteren noch orientalische Gewänder. Algeriens Juden sahen in der französischen Besetzung eine Chance für ihre Emanzipation. Die Attraktionskraft der französischen Kultur auf die algerischen Juden ist mit jener vergleichbar, die die deutsch-österreichische Kultur auf die Juden Galiziens und der Bukowina ausübte. | 
zaghaften Hoffnungen wandelten sich in frenetische Verehrung    für Frankreich, als, nicht zuletzt auf Druck der jüdischen    franko-patriotischen Kulturbewegung Alliance Israélite    Universelle, den algerischen Juden 1870 die französische    Staatsbürgerschaft verliehen wurde. Was bei den Moslems    den Neid anstachelte und bei den Siedlern aus Südeuropa    (Frankreich, Spanien, Italien) den bereits schwelenden Judenhaß    auf mörderische Höhe trieb. Dieser entlud sich 1898    in monatelangen, blutigen antijüdischen Unruhen der katholischen    Algerien-Franzosen. 
 Überdies sollten 1940, nach der Besetzung Frankreichs    (aber nicht der französischen Kolonien) durch die NS-Armeen    und dem Antritt des Kollaborationsregimes von Philippe Pétain,    den algerischen Juden ihre Staatsbürgerschaft sofort    wieder aberkannt werden. Die Algerien-Franzosen waren dem    Kollaborationsregime überdurchschnittlich ergeben. Es    kam trotzdem, im November 1942 im Vorfeld einer Landung von    US-Truppen, zu einem kühnen Handstreich gegen die örtliche    Pétain-Verwaltung, an dem sich aber hauptsächlich    junge Juden beteiligten. Die lokalen französischen Behörden    hielten auch noch danach ein Jahr lang die Entrechtung der    Juden aufrecht. 
 Die eben nur teilweise erwiderte Liebe der algerischen (und    tunesischen) Juden für Frankreich erinnert an die Attraktionskraft    und die Emanzipationsversprechen der deutsch-österreichischen    Kultur gegenüber den Juden Osteuropas. Würde man    eine komparative Näherungsskala verwenden, könnte    man die jüdische Symbiose mit der idealisierten französischen    Kultur in Algerien (und Tunesien) mit der Wien-zentrierten    jüdischen Kultur in den ehemals österreichisch verwalteten    Gebieten Galizien und Bukowina vergleichen, also den westlichsten    Teilen des Ostjudentums (unter Ausschluß der mitteleuropäischen    Tschechoslowakei und Ungarns). 
 Darüber hinaus gibt es fundamentale Ähnlichkeiten    zwischen dem sozialhistorischen Entwicklungsschema der jüdischen    Partikulargruppen in Osteuropa und Nordafrika. In beiden Fällen    handelte es sich um – über weite historische Strecken    hinweg – stagnierende und zunehmend periphere Gesellschaften    (gegenüber den jeweiligen kapitalistisch-imperialen Zentren). 
 Ausschlaggebend für den Fortbestand und die zeitweilige    Zunahme der jüdischen Gruppen war einerseits die politische    Organisation dieser Herrschaftsgebiete: eine gleichzeitig    lose und starre Organisation. Starr, weil es kaum ein Ausbrechen    aus den religiösen und/oder ethnischen Minderheiten und/oder    Ständen gab, diese aber in etlichen Belangen über    eine Art kommunitaristische Selbstverwaltung unter der Obhut    der Zentralgewalt verfügten.
 Obwohl und manchmal auch weil immer wieder verfolgt und ständig    ghettoisiert, konnten die jüdischen Gruppen eine wichtige    Mittlerfunktion im ökonomischen Gefüge übernehmen.    Diese reichte vom mehr oder weniger verfeinerten Handwerk    (Schuster, Schneider, Weber, Gerber, Färber, Blech- und    Kunstschmiede) über Hausierertum, halbseßhaften    Gebrauchsgüter- und Lebensmittelhandel, Getreide- und    Viehhandel bis hin zu Gutsverwaltung, Kreditwesen und Fernhandel.    Darüber hinaus gab es an den Rändern der jüdischen    Gruppen auch Bauern (und sogar nomadisierende jüdische    Beduinen in den Wüsten Algeriens), aber meistens waren    dies Reste der vormaligen jüdischen Expansion, als Islam    und Christentum noch nicht den Wettlauf um die religiöse    Dominanz für sich entschieden hatten. Im marokkanischen    Atlas-Gebirge waren die Juden unter den Berberstämmen    vielfach als Schmiede tätig (einer oft als "unrein"    betrachteten Aktivitität) und in eine Form von Leibeigenschaft    gegenüber den moslemischen Stammesführern geraten.    Der Wunsch nach Freiheit und Sicherheit ebenso wie die religiöse    und erwerbsmäßige Gruppendynamik in den urbanen    Siedlungen sorgten für ein radikales Schrumpfen dieser    geographischen und sozialen Ränder des Judentums. 
 Die jüdischen Gruppen bildete also eine Art Pariakaste,    die spezielle ökonomische Funktionen erfüllte. Aber    innerhalb dieser Kaste fanden sich fast alle Berufe und die    schärfsten sozialen Abstufungen. Einerseits, weil die    teilweise autarke Kaste für ihren Eigenbedarf alle möglichen    Handwerkerkategorien benötigte. Und andererseits, weil    das eigene demographische Wachstum, die Versorgungskapazitäten    der Kaste oft überforderte und zu ihrer allgemeinen Pauperisierung    führen konnte. 
 Es ist frappierend, daß sich etliche "jüdische"    Berufs- oder Sozialtypen aus Europa in den Ghettos ("Mellah"    in Marokko, "Hara" in Tunesien) und jüdischen    Vierteln der Dörfer des Maghreb wiederfinden. Eine brillante    Schilderung des jüdischen Völkchens, das noch in    den fünfziger Jahren die "Mellah" von Marrakesch    bewohnte, verdanken wir Elias Canetti. In seinem Reisebuch    "Die Stimmen von Marrakesch" wird die Dialektik    zwischen Bedrückung und Energie der marokkanischen Juden    greifbar. Leider – oder vielleicht symptomatischerweise    – ist darin auch ein Vergleich voll verächtlicher    Pauschalierung für die moslemisch-arabische Bevölkerung    enthalten. Dieser Vergleich dürfte sowohl Canettis europäischer    Überheblichkeit als auch seiner Wahrnehmung des Gegensatzes    zwischen jüdischer Minderheit und feindlicher Mehrheit    entspringen – er mag dabei wohl auch an seine europäische    Ursprungsheimat gedacht haben.1
Im Zentrum der "jüdischen Dynamik" steht zweifellos die spezielle religiöse Durchschulung mit ihrem prononcierten Bildungsethos, ihrer dialektischen Debatiertradition und der ziemlich breiten Alphabetisierung der Juden, die jahrhundertelang als eine vorwiegend urbane oder halburbane Gruppe inmitten einer überwiegend bäuerlich-ländlichen und nichtalphabetisierten Bevölkerung lebten.
Es ist dieser kollektive Startvorteil, der maßgeblich zum rasanten sozialen Aufstieg und der massiven Präsenz der Juden in akademischen Berufen beiträgt – ab dem Zeitpunkt, da die jeweiligen Metropolen für die jüdische Minderheit in den peripheren Gebieten die Schleusen zur bürgerlichen Gesellschaft öffnen. Mit einem Fuß in der Metropolen-orientierten Mittel- und Oberschicht, mit dem anderen im einheimischen Unterschichtsmilieu, werden Juden in diesem Spannungsfeld auch zu herausragenden künstlerischen Mittlern. Sie mixen die ländliche Musik, die im autochthonen Proletariat weiterlebt, mit externen Elementen und frischen Texten zu einer als "urtypisch" empfundenen altneuen Folklore (was ja ebenfalls für das deutschsprachige Europa gilt, man denke nur an den Beitrag eines Hermann Leopoldi zum Wienerlied oder an die jüdischen Operetten- und Schlagerautoren in Deutschland).
Kulturelle Symbiose, archaischer Haß, 
 soziale Krise
 Diese sentimental-kulturelle Symbiose zementierte anschließend    die jahrzehntelange, manchmal sogar idyllisch wirkende Koexistenz    der jüdischen und moslemischen Einwanderergeneration    in Frankreich: Beide pflegten und pflegen in denselben (meistens)    jüdisch-maghrebinischen Imbißstuben und Restaurants    ihr nostalgisches Heimweh. Es gab «gemischte»    Kartenspielerrunden, man lauschte derselben orientalischen    Musik. Im geschichtsträchtigen Migrantenviertel Belleville,    vor dem Krieg ein Zentrum der jüdischen Einwanderer aus    Osteuropa und neuerdings eine chinesisch geprägte Gegend,    dominierten noch bis in die achtziger Jahre, Seite an Seite,    eine tunesisch-jüdische und tunesisch-moslemische Halbwelt    mit ihren pittoresken Figuren: fliegenden Straßenhändlern,    Prostituierten und Zuhältern, professionellen Spielern,    Schutzgelderpresser-Gangs, Bettelsängern. 
 Zwar kam es auch zu spektakulären Reibereien: Während    des Sechstagekriegs, 1967, wurde Belleville Schauplatz von    bedrohlichen Aufmärschen beider Gruppierungen. Moslems    und Juden aus Tunesien errichteten abwechselnd Straßensperren.    Der Pariser Oberrabbiner und Tunesiens Botschafter eilten    herbei und vermittelten erfolgreich. Aber damals fühlten    sich die Juden nicht wirklich bedroht: Den israelischen Sieg    erlebten die Juden aus dem Maghreb als Revanche für die    in der Heimat erlittenen Anfeindungen und ihr Exil. Dazu kam    die proisraelische Berichterstattung der Medien. Ebenso verfügten    die Juden damals über eine bedeutende kollektive Präsenz    in den Unterschichtsvierteln. 
 Inzwischen ist die Zuversicht in Israels Zukunft, wie überall,    bohrenden Zweifeln gewichen. Die Israel-kritische Berichterstattung    der Medien wird als Bedrohung empfunden. Gleichzeitig ist    die Einwohnerzahl in den "jüdischen Gassen"    durch Abwanderung geschrumpft. 
 Übrig blieben meistens mittellose und/oder ältere,    isolierte Personen. Von denen gibt es viele: Nach Erhebungen    jüdischer Wohltätigkeitsvereine dürfte der    Prozentsatz der in der Armutsfalle gefangenen Juden (gemessen    an der Gesamtzahl der jüdischen Bevölkerung) höher    sein als der durchschnittliche Anteil der Armen an der französischen    Gesamtbevölkerung – auch wenn derartige prozentuelle    Darstellungen eine problematische Schlagseite haben, zumal    sie manchmal unter Rechtfertigungszwang in der Auseinandersetzung    mit antijüdischen Klischees entstehen und dabei erst    recht eine abgelöste jüdische Partikulargesellschaft    suggerieren, die "ihre eigenen Reichen und Armen"    erzeugen und untereinander existentiell verbinden würde.
 Aber diese jüdisch-plebejische Restbevölkerung lebt    heute, weitgehend atomisiert, in einer mit sozialen Spannungen    unvergleichlich aufgeladeneren Umgebung – nach einer    ganzen Generation arbeitsloser Familien, Auflösung traditioneller    proletarischer Berufsbilder und Solidargemeinschaften, Prekarisierung    und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für Minderqualifizierte.    Umso schärfer stoßen sich die moslemischen Arbeiterfamilien,    die ursprünglich vielfach aus nichtalphabetisierten,    ländlichen Schichten stammen, an der Aufstiegsdynamik    eines Teils der maghrebinischen Juden. Auch wenn sich dieser    Aufstieg meistens auf eine Etablierung in der breiten Mittelschicht    beschränkt, in der sich auch ein bedeutender Anteil des    moslemischen Nachwuchs wiederfindet. So gibt es Synagogen,    die zwar noch im ärmeren Teil der Vororte stehen, aber    von Gläubigen aufgesucht werden, die den Sprung in die    Reihenhaussiedlungen des Mittelstands geschafft haben. 
 Eine neue, urbane jüdische Auffälligkeit beruht    auf der oftmaligen Konzentration in Mittelstandsvierteln von    Gefolgsleuten der pietistischen "Lubawitscher"-Strömung.    Trotz jiddisch-osteuropäischer Prägung konnte diese    – bekanntlich aus den USA ausstrahlende – missionierende    und neomessianistisch orientierte Bewegung einen kleinen,    aber signifikanten Teil der Nachfolgegeneration der Einwanderer    aus Nordafrika gewinnen, namentlich unter Angehörigen    von High-Tech-Berufen. 
 Gleichzeitig gibt es einen gewichtigen Anteil an Juden unter    Apothekern, Ärzten, Lehrern und Sozialarbeitern, die    in Randsiedlungen wirken. Oft sind sie die greifbarsten Zielscheiben    für die brachialen Wutausbrüche der jüngeren    Jahrgänge der deklassierten Gruppen. Umgekehrt sind so    manche, ursprünglich links engagierte Ärzte, Pädagogen    oder Sozialbetreuer durch diese Dauergewalt inzwischen zermürbt,    verängstigt und deswegen auch immer unduldsamer geworden.    Die aus jüdischen Familien stammenden Personen reagieren    da genauso wie die übrigen durch die Jugendkriminalität    genervten Mittelschichtler, inklusive der Moslems. In der    Optik der marginalisierten jungen Moslems dürften "die    Juden" aber eine Schlüsselrolle einnehmen. Was ansatzweise    an die Spannungen zwischen Afroamerikanern und jüdischen    Mittelschichtlern in US-Großstädten erinnert. 
 Darauf stieß ich bei Reportagen lange vor der jüngsten    antijüdischen Welle. Etwa 1995, als in Frankreich eine    Serie von Anschlägen stattfand, für die die GIA,    die radikalste algerische Islamistentruppe, verantwortlich    gemacht wurde. Bomben explodierten in Pariser Kaufhäusern,    in der U-Bahn, aber auch vor einer jüdischen Schule in    Lyon. "Die Jungen in den Vororten sind gegen diese blinden    Anschläge", erzählte mir ein franko-algerischer    Sozialarbeiter: "Nur das Attentat vor der jüdischen    Schule finden sie gut." Ein andermal erläuterte    mir ein junger maghrebinischer Imbißkellner unter dem    zustimmenden Nicken seiner Freunde: "Wir Araber haben    in Frankreich so lange keine Chance, als die Regierung von    einem Juden geführt wird." Tatsächlich war    damals der konservative Katholik Edouard Balladur Regierungschef.    "Jüdische Lehrer", so der Kellner weiter, würden    "moslemische Kinder absichtlich durchfallen lassen". 
 An dieser Stelle ist ein Exkurs ins aktuelle Algerien nötig,    wo sich seit 1992 die Armee und islamische Freischärler    einen erbarmungslosen Bürgerkrieg liefern. Die Mehrheit    der moslemischen Migranten in Frankreich stammt aus Algerien.    Auch wenn Stimmung und Mentalitäten in den franko-algerischen    Familien überwiegend durch ihren französischen Lebenskontext    geprägt werden, so gibt es doch weiterhin eine enge Verbindung    zum Ursprungsland. Insofern fällt auch der wahnartige,    von magischem Denken mitgeprägte Antijudaismus ins Gewicht,    auf dem man in Algerien häufig stoßen kann. Obwohl    dort heute maximal noch ein paar Dutzend Juden leben, ist    es üblich, daß Sympathisanten beider Bürgerkriegslager    den jeweiligen Gegner als "jüdisch gesteuert"    oder schlicht "jüdisch" bezeichnen. Das Wort    "Jude" wird von Jugendlichen ganz selbstverständlich    für die Beschimpfung von Polizisten und Regierungspolitikern    verwendet. 
 Einer der wenigen "echten" Juden, die nach der Unabhängigkeit    in Algier geblieben waren, ein allseits beliebter Optiker,    wurde vor wenigen Jahren, im Rahmen des Terrorfeldzug der    Islamisten gegen Nicht-Moslems, ermordet. In Tunesien (einer    straffen, prowestlichen Diktatur) und Marokko (einer halb-autoritären    Monarchie) stehen die noch verbliebenen Juden (insgesamt weniger    als 10.000) unter dem demonstrativen Schutz der Behörden.    Sie müßten aber bei einem Umsturz mit dem Schlimmsten    rechnen. Die Juden verfügen noch über einige ihrer    Kultstätten, Sozialeinrichtungen und sogar Schulen. Im    Alltag häufen sich aber die Anfeindungen bei jeder Verschärfung    der Lage im Nahen Osten. 
 Insofern ist der Kamikaze-Anschlag eines mutmaßlichen    Al-Kaida-Angehörigen am symbolträchtigen 11.April    vor der Synagoge "Al Ghriba" auf der tunesischen    Insel Djerba, bei dem achtzehn europäische Urlauber starben,    nur die Spitze eines Eisbergs. Knapp darauf wurde eine Synagoge    in einem Vorort von Tunis geschändet, der Vorfall wurde    von den Behörden freilich vertuscht. 
 Sowohl in Tunesien als auch in Marokko schlägt die Anteilnahme    am Schicksal der Palästinenser jetzt wieder in bedrohlich    anwachsenden Haß gegen die örtlichen Juden um.    In Marokko, wo ein jüdischer Industrieller zum Beraterkreis    des Königs zählt, ereifert sich ein Teil der –    autorisierten – islamistischen Opposition über die    staatliche Toleranz gegenüber den Juden. Feierliche Zusammenkünfte    bei Bar Mizwas oder jüdischen Hochzeiten sind in Marokko    zurzeit defacto unmöglich, auf den Straßen werden    Juden immer häufiger mit Steinen beworfen und angespuckt.    In Casablanca wurde ein jüdischer Kaufmann mit einer    Axt attackiert, er verlor dabei ein Auge. Allerdings erheben    sich in beiden Ländern erstmals Stimmen, vor allem aus    den Reihen der liberalen Opposition, die gegen die antijüdische    Hetze Stellung nehmen.
Le Pen mischt die Karten neu
In Frankreich entlud sich Angst und Wut vieler Juden Anfang    April in mehreren großen Aufmärschen, darunter    einer Monsterdemo mit rund 200.000 Teilnehmern in Paris. Die    Organisatoren hatten das Angebot einer Teilnahme mehrerer    politischer Parteien aber auch moslemischer Persönlichkeiten    ausgeschlagen, die gegen die antijüdischen Attacken marschieren    aber keine Parteinahme für Israel im Kundgebungsaufruf    akzeptieren wollten. Die Pariser Demonstration war dann auch    entsprechend virulent. Neben Parolen wie "Wenn Synagogen    brennen, ist die Republik in Gefahr" gab es viele Plakate    mit "Courage Sharon" und dem Ruf: "Keine Araber,    keine Probleme". Am Rande machten rechtszionistische    Jugendgruppen Jagd auf arabische Passanten und Teilnehmer    eines getrennten, kleineren Demonstrationszugs, zu dem linke    und liberale jüdische Vereine sowie Anhänger der    israelischen Friedensbewegung "Schalom Achschav"    aufgerufen hatten. Dabei wurde ein Polizist durch einen Messerstich    schwer verletzt. 
 Die antijüdische Welle trug auch zum überraschenden    Durchbruch des Rechtsaußen-Tribuns Jean-Marie Le Pen    im ersten Durchgang der französischen Präsidentenwahlen    am 21. April bei. Weil der SP-Kandidat Lionel Jospin unter    der Aufsplitterung des linken Lagers litt, konnte sich Le    Pen mit nur 17 Prozent vor ihn reihen und für die Stichwahl    am 5.Mai qualifizieren. Nach einer epochalen Reaktion der    gesamten französischen Zivilgesellschaft gegen Le Pen    wurde die Stichwahl dann aber vom bisherigen Amtsinhaber Jacques    Chirac mit 82 Prozent breitest gewonnen Die Entfesselung der    Gewalt gegen jüdische Einrichtungen in den Wochen zuvor    hatte freilich den Ängsten vor den Moslems und vor ethnischen    Konflikten auf französischem Boden neuen Auftrieb gegeben.    In den Vororten hatte auch eine Minderheit der jüdischen    Wähler für Le Pen gestimmt. Vermutlich in einem    ähnlichen Ausmaß und aus ähnlichen Motiven    wie bei den Franko-Israelis. 7,4 Prozent dieser Doppelstaatsbürger,    die in französischen Konsularabteilungen in Israel wählten,    stimmten für Le Pen. 
 Ein jüdischer Marktverkäufer aus dem Vorort Sarcelles    erzählte mir: "Ein junger Tunesier wollte mir meinen    Stammplatz wegnehmen. Als ich ihn zur Rede stellte, sagte    er mir auf Arabisch, das ich ja versteh, weil ich auch aus    Tunesien komme: geh nach Israel. Aber klebt denn das Wort    Jude auf meiner Stirn?" Die Marktaufsicht schritt ein,    um eine Schlägerei zu verhindern: "Mir wurde angeboten    gegen den Tunesier wegen rassistischer Beschimpfung Anzeige    zu erstatten, darauf verzichtete ich. Aber am nächsten    Tag war ich so wütend, daß ich Le Pen gewählt    habe. Bei der Stichwahl wiederholte ich das nicht, das schien    mir doch zu gefährlich". Ebenso stimmten aber auch    einige Franko-Maghrebiner und Franko-Afrikaner in den urbanen    Randsiedlungen für Le Pen aus Angst vor der Jugendkriminalität,    manchmal sogar aus Angst vor ihren eigenen Kindern, die sie    nicht mehr zu bändigen vermögen.
Andererseits führte der Schock über den Durchbruch von Le Pen im ersten Wahlgang zu ebenso massiven wie spontanen Mobilisierungen vor allem der Schuljugend (insgesamt demonstrierten über zwei Millionen) zur "Verteidigung der Republik", also der einigenden Prinzipien der französischen "Citoyenneté", in der weder ethnische Abstammung noch Religionszugehörigkeit ins Gewicht fallen. Dieses gruppenüberschreitende Aufbäumen gegen die Gefahr von Rechtsaußen spülte auch vorerst die kommunitaristischen Verkrampfungen hinweg. In der Zeit um die Präsidentenwahlen und bis zur Fertigstellung dieses Artikels (Ende Mai) ging die Zahl der antijüdischen Vorfälle radikal zurück. Die gefährlichen ethno-politischen Spannungen sind damit natürlich nicht vom Tisch. Schon allein weil ihre beiden Hauptantriebe, der israelisch-palästinensische Krieg und die sozialen Erschütterungen Frankreichs im Rahmen der Globalisierung weiter wirken. Die französische Gesellschaft hat aber vorerst bewiesen, daß sie noch über bedeutende Kapazitäten verfügt, um ihr postuliertes, republikanisch-integrationistisches Modell zu verteidigen, das wohl als sicherstes Schutzschild gegen Judenhaß betrachtet werden kann.
| 
																				 
  | 
																				Ambulante jüdische Händler und Handwerker im marokkanischen Atlas-Gebirge um 1950. Wie die jüdischen "Landgeher" im vorindustriellen Europa waren Juden im Maghreb wirtschaftliche und kulturelle Mittler zwischen Stadt und Land. | 
![]()  | 
																				Die Filmkomödie "La Verité si je mens" über das Pariser Textilviertel "Sentier" und die dort erfolgreichen Grossisten aus jüdisch-tunesischen Familien wurde zu einem der größten Kassenschlager der französischen Filmindustrie der neunziger Jahre. | 
(1) Canetti schreibt über die Juden, die er in der Mellah beobachtet, unter anderem: "Aber sie hatten etwas, das ihnen allen gemeinsam war … Sie hatten eine rasche Art, aufzublicken und sich über den, der vorüberkam ein Urteil zu bilden … Selbst bei den wenigen unter ihnen, die faul wie die Araber dalagen, war der Blick nie faul: Er kam, ein sicherer Kundschafter, und ging rasch wieder … Es waren Blicke von Menschen, die immer auf der Hut sind, aber die Feindseligkeit, die sie erwarten, nicht hervorrufen wollen." Zitiert nach Elias Canetti: Die Stimmen von Marrakesch.
| DANNY LEDER,  Jahrgang 1954, in Wien aufgewachsen, arbeitet seit 20 Jahren als Publizist in Paris und ist Frankreich-Korrespondent des "Kurier". Islam und Maghreb gehören zu seinen Schwerpunktthemen.  |