Ist eine Symbiose zwischen Deutschtum und Judentum nach den Schreckensjahren des Dritten Reiches heute noch möglich? Bei Robert Raphael Geis wurde der Grundstock dafür von Vater und Großvater geschaffen. Als er am 4. Juli 1906 in Frankfurt/M. geboren wurde, führte sein Vater, der in jungen Jahren bereits ein Vermögen erworben hatte, das Leben eines Rentiers. Er fühlte sich als Liberaler, sowohl was sein Judentum, als auch sein Deutschtum anbelangte und war auf dem besten Wege, sich zu assimilieren; die Synagoge besuchte er nur an Jom Kippur. Der Großvater hingegen, ein frommer Jude, nahm den kleinen Robert oft in die Synagoge mit, was bei dem Kind einen nachhaltigen Eindruck hinterließ und ihn öfters veranlasste, Rabbiner zu spielen.
Und so durchkreuzte Robert auch die Pläne seines Vaters, der vorsah, dass er nach dem Abitur und dem Einjährigen eine Banklehre machen sollte.
Robert Raphael Geis wollte höher hinaus, er wollte studieren. Er ließ sich von diesem Wunsch auch nicht abbringen, als sein Vater anbot, ihm eine einjährige Weltreise zu bezahlen, wenn er auf das Studium verzichten würde. Er hatte schon als Junger einen Dickschädel. Aber als er 1925 still und leise von Frankfurt nach Berlin zum Studium reisen wollte, erschien doch die ganze Familie, um ihn zu verabschieden und sein Vater überreichte ihm einen Briefumschlag mit dem Nötigen, das er zum Leben brauchte.
Von 1925 bis 1932 studierte Geis an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin und zwischendurch auch am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau. Neben seinem Lehrer Leo Baeck stand er in engem Kontakt mit dem Kreis um Martin Buber und Franz Rosenzweig.
Neben seinem Judentum fühlte sich Geis immer auch der deutschen Kultur verbunden, weshalb er begann, die neueste deutsche Geschichte zu studieren. Ursprünglich bei dem angesehenen Friedrich Meineke, dann in Breslau bei Johannes Ziekursch, dem er dann sogar nach Köln folgte, um bei ihm über "Der Sturz des Reichskanzlers Caprivi", des Nachfolgers von Bismarck, zu dissertieren. 1930 erwarb er seinen Doktortitel.
1932 wird er Jugendrabbiner in München, einer Stadt, die damals bereits fast vollständig von den Nationalsozialisten beherrscht wurde. Er kämpft gegen Inhumanität und übertriebenen Nationalismus. Als Sympathisant der Sozialdemokraten zieht er sich den Zorn des Gemeindevorstandes zu, da dieser "echt baierisch" der Meinung ist, dass alles Unglück von den Sozialisten komme. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung kam es mit dem Gemeindevorstand zu einer harten Auseinandersetzung, als dieser von Geis verlangte, er möge die von den Nationalsozialisten anderswo ausgegrabenen Urnen der bayerischen Revolutionäre Kurt Eisner und Gustav Landauer heimlich und ohne die Gräber zu bezeichnen irgendwo an der Friedhofsmauer beisetzen. Ein Lichtblick ist für den jungen Rabbiner Kardinal Faulhaber, der ihn 1933 anläßlich einer seiner Adventspredigten gegen den Antisemitismus aufforderte, mit ihm gemeinsam in die Kirche einzuziehen.
Geis wird zweiter Stadtrabbiner in Mannheim, 1937 kommt er als Landesrabbiner nach Kassel. Im November 1938 wird er mit vielen seiner Gemeindemitglieder ins KZ Buchenwald gebracht. Nach Vorlage von Ausreisepapieren nach Palästina wird er aus dem KZ entlassen und trifft im Februar 1939 in Palästina ein. Der Mensch Geis, zeit seines Lebens Anwalt der Schwachen und Wehrlosen, wird bald in seinem Glauben an den Zionismus erschüttert, als man ihn hinderte, in den oftmals blutigen Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern verletzten Arabern Hilfe zu leisten.
So ist es nicht verwunderlich, dass er gleich nach Kriegsende wieder nach Deutschland zurückkehren wollte; er glaubte, sich in den Dienst der Betreuung von Juden, die das KZ überlebt hatten, stellen zu können. Aber erst nach Zwischenaufenthalten in England, der Schweiz und Holland bekam er eine Stelle als Landesrabbiner von Baden in Karlsruhe.
Aber die Arbeit konnte den Mann nicht befriedigen. Er verstand sein Rabbinat vor allem als Aufgabe zu lehren, er wollte reformieren, stattdessen war er mit allem möglichen Kleinkram und mit sozialen Problemen beschäftigt. So legte er 1956 sein Amt nieder und widmete sich völlig dem Predigen und Lehren, vor allem bemühte er sich um ein neues Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland. Er forderte, dass sich die Christen ihrer jüdischen Wurzeln bewusst werden müssten, andererseits bedürften aber auch die Juden der christlichen Herausforderungen. Die Weisung der Tora, "Streiter für das Königreich Gottes auf dieser Erde zu sein", wurde ihm zum Lebenselement. Er forderte eine radikale Veränderung der Gesellschaft, die aus den Trümmern von 1945 Wege für ein gutes Zusammenleben finden müsste.
Seine Menschlichkeit und Vorbildlichkeit trugen ihm bald den Ehrennamen "Aba Geis" ein, bei Juden und Christen, ja bei ehemaligen Nationalsozialisten. Er war mehrere Male Mitglied der Deutschen Unesco-Kommission, 1967 - 1971 gehörte er dem Programmbeirat des Westdeutschen Rundfunks an. Seine Vorträge fasste er in mehreren Büchern zusammen: "Bund und Geschichte", "Juden und Christen", "Juden in Deutschland"... Sein Hauptwerk "Vom unbekannten Judentum" ist leider seit langem vergriffen. Geis schrieb hier nicht eine Erklärung der jüdischen Religion, sondern bot mit zahlreichen literarischen Belegen eine Darstellung der Vielfalt jüdischer Tradition.
Enttäuscht war Geis, dass man ihm keine Möglichkeit bot, sich als akademischer Lehrer zu etablieren, und er dachte schon daran auszuwandern. 1970 wurde er dann noch Honorarprofessor für Judaistik an der Pädagogischen Hochschule Duisburg und 1971 wurde er an die Universität Göttingen berufen. Für seine aktive Mitarbeit in der "Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen" beim Evangelischen Kirchentag erhielt er 1970 die Buber-Rosenzweig-Medaille. Die Dankesrede für diese Ehrung schloss mit seinem politischen Credo: "Politik als Prüfstein für die Ernsthaftigkeit unseres gläubigen Tuns, einen anderen Weg vermögen wir nicht zu sehen."
Am 18. Mai 1972 verstarb Robert Raphael Geis – viel zu früh. Wir würden heute solche Männer brauchen, um Brücken in einer Welt des Hasses zu bauen.