
																				 5764. Also Taw-Schin-Samekh-Dalet. Ich muss gestehen,      dass es mir durchaus Spass macht, meine Studierenden in die Geheimnisse der      hebräischen Zeitrechnung einzuweisen. Dass jeder Buchstabe einen Zahlenwert      hat und sich somit Jahreszahlen in Buchstaben ausdrücken lassen, gehört      dabei zu den einfachen, gewissermaßen lexikalischen Seiten, die sich mit der      entsprechenden Information leicht bewältigen lassen. Der eigentliche Stein      des Anstoßes liegt dann freilich in der Zahl selbst bzw. in ihrer Deutung:      Wir schreiten in das Jahr 5764 nach Erschaffung der Welt! Haben denn die für      diese Zeitrechnung Verantwortlichen kein Ahnung von den Evolutionshypothesen      der modernen Naturwissenschaften, die in Milliarden von Jahren rechnen? Sind      Leute, die sich auf religiöse Traditionen berufen, die ewig-gestrigen, die      wissenschaftliche Erkenntnisse sogar wider bessere Einsicht aus      irgendwelchen weltfremden Ideologien schlichtweg ignorieren? Wie kommt      überhaupt die jüdische Tradition zu einer solchen Zahl, und was will sie      damit sagen? Die letzte Doppelfrage lässt sich zumindest teilweise      recht einfach beantworten: Es handelt sich bei der jeweils aktuellen      Jahreszahl um die Weiterführung des Ergebnisses der Addition aller      entsprechenden Altersangeaben in den biblischen Genealogien, beginnend mit      dem Schöpfungsbericht im Buch Bereschit/Genesis. Die Detailprobleme liegen –      abgesehen von den in der Bibel angegebenen enormen Altersspannen einzelner      Personen – in dem Umstand, dass sich die Rechnung auch unter Akzeptanz der      einzelnen Zahlen nicht ganz exakt nachvollziehen lässt. Was die jüdische Zeitrechnung jedoch ungeachtet dieser      Schwierigkeiten auszeichnet, sind die drei Aspekte (1) des Gottesbezuges,      (2) der Universalität und (3) der Geschichtlichkeit überhaupt. Der Gottesbezug der Zeitrechnung wird natürlich      dadurch verdeutlicht, dass die Erschaffung der Welt – unabhängig davon, mit      welchen naturwissenschaftlichen Hypothesen sie erklärt wird – hier als Tat      Gottes verstanden wird. "Gott sah, dass es gut war" – darin steckt das      tröstliche Vertrauen, dass alles, was auf uns zukommt, doch in irgend einer      Weise in seiner Hand geborgen bleibt. Indem sich alle Zeit auf die Erschaffung der ganzen Welt      bezieht, ist sie nicht Sondergut einer einzelnen weltanschaulichen Gruppe      oder alleiniges Eigentum einer bestimmten religiösen Gemeinschaft, sondern      für alle Menschen gültig. Diese grundsätzliche Universalität der      jüdischen Zeitrechnung tritt besonders zum Fest Rosch Ha-Schana zutage,      welches deutlich den Beginn eines neuen Welt-Jahres markiert, im Unterschied      zu Pessach im Nisan, welches in den biblischen Texten ja auch mit dem Beginn      eines neuen Jahres in Verbindung gebracht wird, jedoch wegen seines Bezuges      auf die Befreiung Israels aus der ägyptischen Knechtschaft nicht universal      verstanden wird, sondern nur im Blick auf das Volk Israel Bedeutung hat. Die Geschichtlichkeit des Lebens als dritter      Aspekt ist vielleicht derjenige, der ob seiner scheinbaren      Selbstverständlichkeit am leichtesten übersehen wird: Jeder Moment des      Lebens ist einmalig und unwiderruflich, jede gesetzte oder unterlassene      Handlung kann nicht ungeschehen gemacht werden, wie gut oder schlecht oder      wichtig oder banal sie auch sein mag; jeder Augenblick ist unendlich tief      und wertvoll, alle genossenen Freuden und alle durchschrittenen Leiden sind      unauslöschbar, können uns nie mehr genommen werden, alle Zeitpunkte des      persönlichen wie auch des gesellschaftlichen Lebens liegen auf einer Linie,      haben ihren Ort als Vergangenheit und bestimmen die Zukunft mit. Und indem      der Mensch die Jahre zählt und ihre Geschichte schreibt, wird er sich dieser      Folge von Ereignissen auch bewusst. Dem einen oder der anderen mögen diese drei Aspekte      jüdischer Zeitauffassung vielleicht als (zu) selbstverständlich erscheinen.      Dass sie dies in Wirklichkeit jedoch nicht sind, zeigt ein kurzer Vergleich      mit den Zeitrechnungen anderer Religionen, der Gemeinsames wie auch      Unterschiedliches ans Licht bringt. Christen berechnen die Zeit bekanntlich nach der      Geburt Jesu, die sie als "Mitte der Zeit" verstehen – als einen      innergeschichtlichen Höhepunkt, von dem aus das Leben sowohl vor diesem      Zeitpunkt als auch danach eine neue Dimension erfährt. Der Aspekt der      Geschichtlichkeit bleibt dabei im bereits besprochenen Sinn durchaus      bestehen. Der Gottesbezug tritt hier in spezifisch christlicher Gestalt auf:      Auch für die christliche Zeitdeutung ist Gott der Ursprung, da Christen in      Jesus den menschgewordenen Gott bekennen. Die Universalität dieser      Zeitrechnung ist – ungeachtet ihrer faktischen weltweiten Verbreitung –      freilich nur mehr von innen her erkennbar: Nur diejenigen, die tatsächlich      in dem genannten Sinn an Jesus glauben, werden in seinem Kommen auch den      Angelpunkt der Zeit erkennen können; für die Außenstehenden bleibt die      Diskrepanz zwischen dem christlichen Anspruch des bereits angebrochenen      Gottesreiches und der empirisch wahrnehmbaren Weltgeschichte bestehen, und      den Christen ist die ernsthafte Frage auferlegt, was sich denn wirklich seit      dem Kommen Jesu geändert habe. Die islamische Zeitrechnung schreibt derzeit das      Jahr 1424 und basiert auf der Hedschra, der Auswanderung Muhammads von Mekka      nach Medina, welche in das Jahr 622 der allgemeinen/christlichen bzw. 4382      der jüdischen Zeitrechnung fällt. Die rechnerische Differenz zwischen 2003      und (1424 + 622 =) 2046 ergibt sich daraus, dass der islamische Kalender in      Mondjahren rechnet, die gegenüber dem Sonnenjahr um ca. 11 Tage kürzer sind.      Den Grundaspekt der Geschichtlichkeit teilt auch der Islam mit seinen beiden      älteren Schwesterreligionen. Da Muhammad als menschlicher Empfänger der      unverfälschten göttlichen Offenbarung verstanden wird, ist mit der Wahl      eines Datums aus seiner Lebensgeschichte als Ausgangspunkt der Zeitrechnung      auch ein bestimmter Gottesbezug gegeben. Die Universalität des Bezugspunktes      ist hier freilich in ganz spezifischer Weise verändert: Mit der Hedschra      geht die Begründung eines (politischen) Gemeinwesens in Medina einher, das      nach Muhammads Visionen zu gestalten ist. Der Eckpunkt ist also nicht      kosmologisch bestimmt wie im Judentum (Erschaffung der Welt) oder      theologisch wie im Christentum (Menschwerdung Gottes), sondern politisch,      und zwar als Beginn einer islamisch geordneten und verwalteten Gesellschaft. Auch die indischen Traditionen thematisieren natürlich      die Zeit. Dennoch kann in den Hindu-Religionen kaum von einer      Zeitrechnung in obigem Sinne gesprochen werden: Die Rede ist dort von      Weltzeitaltern (kalpa), deren Länge in astronomisch anmutenden Zahlen      angegeben wird und die zyklenhaft aufeinander folgen. Im Prinzip ist in der      Vergangenheit nichts aufbewahrt, vielmehr kehrt alles ständig wieder, bis es      letztendlich abgearbeitet ist. Daher lässt sich der Begriff der      Geschichtlichkeit in den indischen Religionen so nicht finden. Ihre      Gottesbezüge sind vielfältig, grundsätzlich sind aber auch die indischen      Götter – ebenso wie das Universum als ganzes – den Zeitzyklen unterworfen      und somit dem biblischen Gott nicht vergleichbar. Ähnliches gilt auch für den Buddhismus, der ja dem      indischen Boden entstammt. Wohl gibt es in der buddhistischen Welt diverse      Zeitrechnungen, die sich am Leben des historischen Buddha (traditionell 563      – 483 vor der Zeitrechnung) orientieren, doch sind diese letztlich kaum      relevant, da nach vielen buddhistischen Schulen der historische Buddha nur      einen von vielen Buddhas der verschiedenen Zeiten und Welten darstellt.      Seine Predigt und Lehre wird auch nicht als göttliche Offenbarung      verstanden, sondern als Einsicht in die Notwendigkeit einer Praxis, die      jedem Menschen ganz universell in gleicher Weise zugänglich ist. Ein      expliziter Gottesbezug ist hier nicht gegeben und auch nicht sinnvoll      denkbar, da der Buddhismus in seiner Lehre Götter weitgehend als bloße      Illusionen ablehnt. – Die skeptische Distanz der beiden letztgenannten      Religionen zu einer geschichtlich denkenden Weltgestaltung, wie sie die drei      monotheistischen Religionen vertreten, kann im Zusammenhang gesehen werden      mit einer tendenziell geringen Rolle von religiösen und religiös motivierten      politischen Institutionen in ihrem Einflussbereich.
Der kleine Durchgang durch die Religionsgeschichte hat die Eigenart der jüdischen Zeitrechnung aufleuchten lassen: Das Bewusstsein, in der Welt und mit der ganzen Menschheit in der Reihe einer von Gott her eröffneten Geschichte zu stehen, einer Geschichte, die unumkehrbar ist, die sich sogar – bei aller Bruchstückhaftigkeit – aufschreiben lässt und die den Wunsch begründet, auch für die Zukunft eingschrieben zu sein in das Buch des Lebens.