Einmütige Achtung und Anerkennung fremder Meisterwerke    sind eher selten Merkmale großer Komponisten, noch weniger, wenn es sich um    Schöpfungen prominenter Zeitgenossen handelt; die nicht musikalische    Bibliothek so manchen Tonsetzers ist voll bissiger und mehr oder minder    qualifizierter Bemerkungen, wenn es sich um das Schaffen eines Kollegen    dreht. Nein, da ging es nicht immer um Richtungsstreitigkeiten oder    tiefgreifende Zerwürfnisse in Sachen des musikalisch Richtigen oder Wahren,    vielmehr - auch geniale Künstler sind eben nur Menschen - stehen    Karrierestreben und Erfolgsneid oft an erster Stelle. Was eine Claque ist,    darüber können Theaterbesucher spätestens dann ein trauriges Lied singen,    wenn sie so manch hochgeputschte Musiktheaterpremiere abseits der beiden    großen Häuser Wiens, etwa im leichteren Unterhaltungsfach, erlebt haben.    Doch wer denkt, ein diffiziles Mikromarketing wäre erst Ende des 20.    Jahrhundert geboren, der sollte sich den Begriff des "Dormeur" vor Augen    halten, jene etwas skurrilen, bezahlten Figuren in den Zuschauerräumen im    Paris des 19. Jahrhunderts, die bei Opernpremieren vornehmlich eines zu tun    hatten: ein Schläfchen zu absolvieren, und das, bitteschön, möglichst    publikumswirksam. Und wenn sich davor und danach auch noch ein kleineres    oder größeres deutliches Gähnen einfand, dann war der Job bestens erledigt.    Bezahlt wurden diese "Dormeure" natürlich von der Konkurrenz, die    demonstrieren wollte, wie blutleer und langweilig doch die Oper dieses oder    jenes Komponisten wäre. Und dennoch: Es gab immer wieder Werke in der    Musikgeschichte, die von Fachkollegen nur breitestes Lob erhalten haben, die    über persönlicher Konkurrenz, Missgunst oder Fehde standen und einen    besonderen Glanz der Einmaligkeit bargen, der sie gleichsam außerhalb    menschlicher Emotionalität und Berechnung stellte. So Fromental Halévys "La    Juive". Man greife einfach einen beliebigen Komponisten heraus: Liszt,    Wagner, Berlioz, Mahler... - nur Lob. Also: Ein totaler Erfolg, eine    Sensation, eine Wegmarke auf dem Vormarsch der französischen Oper! Ensemble LA JUIVE Doch wie wundersam ist die Geschichte, wie erstaunlich    ihr Lauf und wie traurig sind manchmal ihre Hakenschläge. Ein Publikum einer    Weltmetropole ist außer sich, nein, nicht nur einer Metropole, gleich    mehrerer, das Werk steht auf den Spielplänen aller wichtigen Häuser, um    dann, wie mit einem Schlag, zu versinken. Oder, Hand aufs Herz, wer hatte in    Wien "La Juive", ausgenommen vielleicht der Arie "Rachel, quand du Seigneur",    wirklich genau gekannt, bevor Staatsoperndirektor Ioan Holender, der wohl    seit Jahrzehnten erfolgreichste Direktor dieses Instituts, das Werk neu auf    seine Bühne hievte? In der Renaissance der einstigen großen Erfolge im    Bereich der Grand Opéra ging er also den Weg konsequent weiter, den er mit "Rienzi",    "I vespri siciliani", "Le Phrophète", "Guillaume Tell" erfolgreich begangen    hatte; wesentliche Opern, die kein leichtes Leben in der Wiener Musikwelt    haben, die oftmals auch in letzter Zeit kritisch hinterfragt worden waren    und doch immer bewiesen hatten, dass sie zum wesentlichen Stock der    Literatur gehören und ihren Platz im Opernhaus, vielleicht sogar im    Repertoire verdienen.  Doch werfen wir einen Blick zurück und schauen uns an,    wie alles begann: Fromental Halévy (1799-1862), Sohn des deutsch-jüdischen    Dichters und Denkers Elias Levy, Schüler Cherubinis und Méhuls, kam 1822    nach Wien, wo er mit Beethoven zusammentraf, schuf mit seiner Oper "La Juive"    (Die Jüdin) im Jahr 1835 den durchschlagendesten Erfolg seines Lebens.    Gemeinsam mit dem ebenso genialen Vielschreiber Eugène Scribe brachte er das    Pariser Opernpublikum zum Toben und wurde als wesentlicher Komponist der    ersten Phase der Grand Opéra zum ernsthaften Konkurrenten Giacomo    Meyerbeers. 150.000 Goldfrancs soll die Ausstattung der "Juive" gekostet    haben, beinahe zwei Dutzend von einem Zirkus ausgeliehene Pferde waren mit    dabei, und es war Franz Grillparzer, der nach der Pariser Uraufführung der    Oper in sein Tagebuch schrieb: "Aber welche äußere Ausstattung! Die    Dekorationen Wirklichkeiten, aber nein: Bilder. ... Hier malt man das Licht,    die Steigerung und die Beiläufigkeit gleich von vorneher in die Dekoration    hinein!" Halévy, der Lehrer von Komponisten wie Gounod, Saint-Saëns, Lecocq    oder Bizet war, hatte insgesamt an die 40 szenischen Werke für die Bühne    geschrieben, konnte aber kein zweites Werk zu solch einem Erfolg führen. Shicoff und Isokoski Worum geht es nun in dieser hochgelobten "Juive"? Eugène    Scribe wählte die Zeit der Hussitenkriege und des Konzils von Konstanz    (1414), in der er religiöse, richtiger: menschliche Fehlleistungen grell auf    die Bühne brachte. Ein römischer Schurke Brogni lässt aus religiösem    Fanatismus die Kinder des jüdischen Goldschmieds Eléazar töten, dieser    wiederum nimmt dessen verloren geglaubte und christlich getaufte Tochter    Rachel bei sich auf und erzieht sie jüdisch. Léopold, der Reichsfürst,    verführt diese in jüdischer Verkleidung, hat jedoch nicht den Mut und    Charakter, zu ihr zu stehen. Als Rachel nun das Verhältnis offenlegt, werden    sie, Léopold und Eléazar mit einem Bannfluch belegt. Rachel nimmt ihre    Aussage zurück, rettet den Reichsfürsten, wird jedoch gemeinsam mit ihrem    vermeintlichen Vater ermordet. Dieser offenbart dem inzwischen gebesserten    und zum Kardinal avancierten Brogni die Wahrheit über Rachel: Sie war die    Tochter Brognis! Shicoff und Isokoski Auch in Wien, wo schon mehrere Werke von Halévy mit    mäßigem Erfolg erklungen waren, feierte "Die Jüdin" einen durchschlagenden    Erfolg. Wobei man bemerken muss, dass die Zensur die Oper ziemlich zerzauste    und entstellte und das Werk nicht in Originalsprache zu erleben war. Doch es    dauerte nicht einmal 20 Jahre, da hatte die Oper bereits die magische    Aufführungszahl 100 an der Hofoper überschritten, Gustav Mahler, ein    Bewunderer des Werkes, brachte sie erneut auf den Spielplan, der    unvergleichliche Leo Slezak übernahm die Rolle des Eléazar. Und welch ein    Namenreigen in der Besetzung der Tochter Rachel: Maria Jeritza, Lotte    Lehmann, Maria Nemeth, Rose Pauly... Bis 1933 wurde die Oper gespielt, dann    verschwand sie vom Spielplan. Danach der Nationalsozialismus, der das Werk    bannte und durch diesen Akt beinahe in seiner Lebenskraft tötete, denn nach    der Befreiung Österreichs und damit auch der Befreiung der Kunst schien die    Oper lange nicht mehr auf Programmzetteln auf, sehr lange, erst in den 80er    Jahren waren an der Staatsoper zwei konzertante Aufführungen zu hören (mit    José Carreras, Sona Ghazarian, Cesare Siepi), dann wieder eine große Stille.    1999 hauchte Ioan Holender ihr neues Leben ein - und was für eines! Denn die    Besetzung, die das Haus am Ring aufbot, war so einmalig, so treffend, dass    der Erfolg bereits in der Stunde programmiert war, als die Verträge der    Künstler unterschrieben wurden. "Renner von einst zu entdecken" titelte da    Österreichs Kritikerpapst Karlheinz Roschitz in der Neuen Kronen-Zeitung und    schrieb über den triumphalen Erfolg der Sänger ebenso euphorisch wie sein    Kurier-Kollege, der inzwischen verstorbene Musikkritiker Franz Endler. Die    bekannte australische Dirigentin Simone Young, die als erste Frau überhaupt    eine Opernpremiere am Haus am Ring leitete, führte den Starreigen an, das    Feuerwerk wurde mit Neil Shicoff (als Eléazar) und Soile Isoloski (Rachel)    gezündet, ein Sängerpaar, das diese tragische, ja erschreckende Geschichte    so einmalig und unvergleichlich sang und spielte, dass nicht nur die Wiener    Tagespresse voll des Lobes war. Ja, es war wieder eine von Shicoffs    Lebensrollen, die er bis in die letzte Nervenendung, bis ins letzte Detail    mit seiner gesamten Kraft und Seele ausfüllte und verinnerlichte. "Eine    Sternstunde der Gesangskunst", so schrieb die Stuttgarter Zeitung, und der    Sänger, dessen Ausspruch, nicht aufzutreten, wenn er nicht 110 Prozent geben    könne, ebenso bekannt ist wie seine Absagen, schuf eine Figur mit solch    großer Intensität, solcher Plastik und einzigartig glühender Leidenschaft,    dass jeder, der sie nach ihm interpretiert, sich diesem Giganten nur mit    Achtung stellen kann. Soile Isokoski: Kein Deut hinter ihm, "makellos    schöner Sopran", "berührend tiefe Empfindungen", "sie singt, dass einem das    Herz bricht", so die Zeitungen. Und Regisseur Günter Krämer, der in der    vergangenen Saison nicht nur "Jonny spielt auf", sondern auch "Tristan und    Isolde" an der Wiener Staatsoper inszenierte, sowie am Theater in der    Josefstadt Molières "Der Menschenfeind", schuf ein psychologisches    Kammerspiel, das wohl das genaue Gegenteil des Pomptheaters des 19.    Jahrhunderts darstellte und gerade dadurch zeigte, wie vielfältig man dieses    Werk sehen kann. Doch noch einen wesentlichen Erfolg sollte diese Produktion    der Wiener Staatsoper feiern: An insgesamt 13 Abenden im Jänner/Februar 2000    war die Oper an der New Israeli Opera (in dem 1500-Plätze-Haus mit guter    Akustik gastieren regelmäßig Gäste aus den großen europäischen Opernhäusern)    in Tel Aviv zu sehen, Michael Sylvester und Francesco Casanova sangen    abwechselnd den Eléazar, Krassimira Stoyanova und Hasmik Papian die Rachel.    Und die Aufführungen wurden, wie zu lesen war, als Ereignis behandelt. Für    viele auch ein politisches Zeichen, das in einer Zeit, in der die Angst vor    einem Bundeskanzler Jörg Haider besonders groß war, als ein wichtiger Akt    gewertet wurde. Und vor allem: Staatsopernchef Ioan Holender sprach sich für    eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den beiden Institutionen aus, ein    Versprechen, das auch im Jahr 2002 bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit    Kunst-Staatssekretär Franz Morak, dem israelischen Kulturminister Matan    Vilnai und dem Bürgermeister von Tel Aviv Ron Huldai in Israel wiederholt    wurde. Und gerade solche Projekte fördern ja bekanntlich die Zusammenarbeit    und die Vertiefung zwischen Staaten, bemerkte Franz Morak bei dieser    Gelegenheit. Denn, so Morak weiter, die Kunst könne ein "Meilenstein sein,    um die Welt besser zu machen als sie ist..." Shicoff, Todorovic und Isokoski Bundespressedienst des Bundeskanzleramtes, Fotos: © Axel Zeininger,    Wiener Staatsoper