"Es ist eigenartig, wie viel der Mensch ertragen kann, solange ihm das Schicksal in kleinen Portionen verabreicht wird. Es ist genau wie mit Gift, das man gefahrlos schlucken kann, wenn man mit kleinen Dosen beginnt und diese nur langsam steigert, bis der Körper sich schließlich daran gewöhnt." David van Hessen, Mai 1943
Diese Zeilen stammen vom Vater jenes jüdischen Mädchens, dessen Jugend den Mittelpunkt dieses Beitrags bildet, und sie charakterisieren zugleich nicht nur dessen Schicksal, sondern die Leidensgeschichte der ganzen Familie van Hessen. Edith van Hessen, eine Niederländerin aus Den Haag, überlebte beinahe als Einzige ihrer Familie den Holocaust und die Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Mit Hilfe ihrer geretteten Tagebuchaufzeichnungen1 gelang ihr die Verfassung und Publikation einer Autobiografie, die uns und den nachkommenden Generationen einen Einblick in die damaligen Ereignisse sowie in die Handlungen der damaligen Akteure, aus der Perspektive einer jungen, heranwachsenden Frau erzählt, gewährt.
Da Holland ähnlich wie im Ersten Weltkrieg auch anno 1939 nach wie vor an seiner Neutralität2 strikt festhielt, in der Hoffnung, auch im Zweiten Weltkrieg außerhalb des Kriegsgeschehens bleiben zu können, hatte die niederländische Regierung weder mit den belgischen Nachbarn noch mit den Alliierten irgendwelche Verteidigungsstrategien oder–pläne entwickelt, so dass die Invasion der deutschen Heeresgruppe B am 10. Mai 1940 mit keinen allzu großen Schwierigkeiten vor sich gehen konnte.
Die damals beinahe 15-Jährige Edith van Hessen vermerkte in ihrem Tagebuch:
"10. Mai 1940, halb sechs Uhr morgens. Ich wurde [...] von einem wahnsinnig lauten Krachen geweckt. [...] Plötzlich wurde mir klar, dass das Krachen Geschützdonner war. Alle Nachbarn standen an den Fenstern. [...] Unzählige Flugzeuge flogen über die Stadt. [...] Leuchtkugeln. Ein wahnsinniger Krach! So etwas habe ich noch nie erlebt. Und dann so ganz in der Nähe! Direkt hinter unserem Haus. Die Kugeln flogen über unsere Dächer hinweg und an den Fenstern vorbei. Überall hingen dicke Rauchwolken und dazwischen kleinere Wölkchen am Himmel. [...] Was wird jetzt wohl werden? Kämpfen wir gegen die oder die gegen uns? Wie dem auch sei – ich mache mir Sorgen. Was wird die Zukunft bringen? Ich weiß es nicht. Aber jetzt will ich erst mal versuchen, noch ein bisschen weiter zu schlafen. Inzwischen ist wieder alles ruhig draußen."3
Obwohl ein Krieg gegen das Dritte Reich als unvermeidlich zu sein schien und von so manchen holländischen Autoren wie beispielsweise A. den Doolaard4 einige Jahre vor dem Einmarsch der deutschen Truppen prophezeit worden war, hoffte man dennoch auf eine Änderung der politischen Situation. Noch am selben Morgen des 10. Mai 1940 ließ die Landung zweier deutscher Fallschirmjäger Edith zum ersten Mal richtig Angst verspüren. Alle Nachbarn seien in Bademänteln und Pantoffeln auf die Straße gelaufen. Edith schnappte sich ihr Tagebuch und begleitete ihren Vater hinunter. Dort hielt sie folgendes fest: "10 Mai 1940, zwanzig vor zehn morgens. Wir führen Krieg gegen Deutschland. An den Grenzen wird gekämpft. Die ganze Zeit laufen Sondersendungen im Radio. [...] Ich höre gerade im Radio, dass die Schulen hier auch geschlossen sind. [...] Wir mussten alle in die Schutzkeller.5 Schrecklich! Die ganze Welt steht kopf. [...]."6
Doch der Einmarsch der Deutschen schritt unaufhaltsam voran: Panzerverbände der deutschen 18. Armee unter Generaloberst Georg von Küchler nahmen in den ersten Tagen die Ijsselmeer-Stellung sowie die Peel-Stellung im Süden Hollands ein. Deutsche Fallschirmjäger sprangen in der Nähe der so genannten "Festung Holland", wo sie gemeinsam mit weiteren Panzerverbänden strategisch wichtige Brücken okkupierten und das niederländische Heer in die Isolation zwangen, ab. Die Aussicht der in Bedrängnis geratenen niederländischen Truppen auf Unterstützung von Seiten der französischen Verbände schien hoffnungslos.7
Vier Tage des Innehaltens, Hoffens und Bangens innerhalb der Bevölkerung waren vergangen, als die holländische Armee sich gezwungen sah, die Kapitulation anzutreten. Vier Tage lang hatte Edith sich immer wieder eingeredet: "Nur nicht den Mut verlieren!".8 Gerüchte kursierten herum, dass ganze Trupps von Deutschen erschossen worden seien und diese dennoch in niederländischen Uniformen getarnt, in die Städte kämen. Das Losungswort "Scheveningen" – für Nichtholländer ein wahrer Zungenbrecher - galt es, korrekt auszusprechen; wer dazu nicht in der Lage war, wurde auf der Stelle von den niederländischen Kontrollposten als Spion verhaftet.9
Die Stadt Rotterdam, die mit Amsterdam und Utrecht die letzte Verteidigungslinie der holländischen Armee, die "Festung Holland" gewesen war, fiel Bombardements der deutschen Luftwaffe zum Opfer. Von holländischer Seite unternommene Übergabeverhandlungen erreichten die deutschen Kommandostellen mit Verspätung: bloß die zweite Staffel des Kampfgeschwaders 54 erhielt den Befehl, eine weitere Bombardierung zu unterlassen. Die zweitgrößte Stadt des Landes mit über 600 000 Einwohnern wurde Opfer von über 90 Tonnen Bomben.10
David van Hessen hatte zu Kriegsbeginn 1939 Sicherheitsvorkehrungen getroffen und der ganzen Familie Pässe mit Visa für die Vereinigten Staaten von Amerika ausstellen lassen. Nun war die Chance zur Emigration in die USA dahin, denn die Reisedokumente, die sich im amerikanischen Konsulat in Rotterdam befunden hatten, verbrannten zur Asche.11
Ediths Heimatstadt Den Haag wurde am 15. Mai 1940 von deutschen Fallschirmspringern okkupiert. Den Haag fungierte außerdem als Sitz des "Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete", des Österreichers Dr. Arthur Seyß-Inquart, welcher zehn Tage nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages gemeinsam mit seinem aus vier Generalkommissären bestehenden Kabinett die Agenden der Zivilverwaltung in Angriff nahm.12
Die "einzig spürbare Veränderung in den ersten Tagen der deutschen Besatzung war für mich, dass ich mehr im Haushalt helfen musste"13 , erinnerte sie sich, denn angesichts der Entwicklung waren Sparmaßnahmen unbedingt erforderlich, und bald sollte die Beschäftigung eines nichtjüdischen Dienstmädchens in jüdischen Haushalten verboten werden. Trotz so mancher Restriktionen bezeichnet Edith ihren 15. Geburtstag, den sie am 3. Juli 1940 im Kreise ihrer Familie feierte, als den "schönsten Geburtstag" ihres Lebens! Sie bekam 12,50 Gulden, einen Gutschein für ein neues Fahrrad, Schuhe, Blumen und Süßigkeiten.14
Auf ausdrücklichem Wunsch des Führers sollten die Nazifizierungsmassnahmen schonender als in anderen besetzten Staaten durchgeführt werden: Das niederländische Volk sollte den Nationalsozialismus auf freiwilliger Basis anerkennen und von sich selbst aus annehmen.
Auch die "Endlösung der Judenfrage" wurde vorerst nicht aufgerollt. Doch bereits im August/September 1940 ergingen diverse Verordnungen, welche den Ausschluss des jüdischen Populationsanteils aus dem wirtschaftlichen, kulturellen und öffentlichen Leben zum Inhalt hatten. Dass die Germanisierungs- und Nazifizierungspolitik im Vergleich zu jener in der sogenannten Ostmark radikal durchgeführten "Entjudungspolitik" "schonender" vor sich ging, zeigt beispielsweise, dass Ediths Eltern zu Silvester des Jahres 1940 trotz großer Besorgnis um ihre Zukunft, diese zumindest für jenen Abend "ablegen" konnten und mit Smoking bzw. rotem Paillettenkleid gekleidet, den Eintritt ins neue Jahr feierten.15
Mit langsamen Schritten waren die Einschränkungsmaßnahmen des Besatzungsregimes allerorts zu spüren: Die Straßenlaternen wurden abends zwecks Verdunklung ausgeschaltet, Radioapparate und Automobile, so auch der Chevrolet der Familie van Hessen, wurden konfisziert. Das Betreten von Lokalen, Kinos, der Besuch von öffentlichen Schwimmbädern, Stränden, Parks oder Rennbahnen waren für Juden verboten. Die 15-Jährige Edith betrachtete es als eine Folge jener Maßnahmen, dass sie sich ihrer "jüdischen Identität plötzlich stärker bewusst" wurde und wusste, so manche Verordnung zu umgehen, indem sie sich mit Freunden an einem verlassenen Stück Strand traf und dort gemütliche Nachmittage verbrachte.16 Sie wurde das jüngste Mitglied der zionistischen Jugendorganisation "Gideon" und betrachtete es als eine "riesengroße Ehre"17 , mit 15 Jahren aufgenommen worden zu sein.
Bald durften jüdische Kinder keine öffentlichen Schulen mehr besuchen; der Judenrat beauftragte daher das Komitee für Jüdische Erziehung mit der Gründung einer jüdischen Schule: am 8. Oktober 1941 wurde das Jüdische Lyzeum schließlich eröffnet.18 Der Schulalltag gestaltete sich ähnlich wie in den anderen, öffentlichen Schulanstalten auch: Am Ende des Schuljahres wurden Gedichte zitiert, Lieder gesungen und die Sorgen des Alltags für eine Weile vergessen. Alle Schüler trugen an ihren Revers eine "fröhliche gelbe Narzisse". "Wir konnten nicht ahnen, dass wir keinen Monat später an derselben Stelle den gelben "Judenstern" würden tragen müssen."19 , bemerkte sie hierzu. Überall waren Schilder mit "Juden unerwünscht" zu lesen, auf den Straßen wurden antisemitische Plakate angebracht. Edith fiel auf, dass gerade auf dem Laternenpfahl vor ihrem Haus besonders viele Pamphlete angeklebt worden waren; und dennoch versuchte sie, sich selbst Courage und Zuversicht zuzusprechen: es hätte sie "große Mühe" gekostet, ihre Umgebung von ihrem Optimismus zu überzeugen. Trotz aller Repressalien verleugnete sie ihre Abstammung nicht, sondern manifestierte ihren Stolz, indem sie sogar auf ihren Schal einen gelben Stern nähte. Eines Tages spürte sie jedoch einen Stoß in den Rücken und einen Schlag auf dem Kopf, die ihr von einem unbekannten Radfahrer verabreicht wurden, und erst da begriff sie, dass es auch Andersdenkende gab, die jenen Stern keineswegs als "Ehrenzeichen" betrachteten.20
Ab Mitte des Jahres 1942 standen Deportationen und Razzien an der Tagesordnung. Deshalb wurden Fluchtpläne in allen Varianten geschmiedet: Ediths Bruder, Jules beabsichtigte, in die östlichen Niederlande zu fahren und seinen Lebensunterhalt als Bauernknecht zu verdienen, um danach nach England zu flüchten. Es gelang ihm, von einer Untergrundorganisation gefälschte Personalausweise zu bekommen, die im Elternhaus mit Hilfe von Gummistempeln, Scheren, kleinen Messern und Pinzetten sowohl für die Familie van Hessen als auch für Jules´ Freunde rekonstruiert und adaptiert wurden. Als Vorwand für die vielen Besucher im Hause van Hessen gab man die Schlittschuhschleifmaschine an: Während einer der Freunde mit dem Schleifen der Eislaufschuhe viel Lärm verursachte, widmete sich der Rest dem Fälschen von Dokumenten.21
Die Mutter der Kinder Hilde van Hessen war inzwischen mit einem diffizilen Beckenbruch ins Krankenhaus eingeliefert worden, doch wusste sie über die Fluchtpläne ihrer Schützlinge Bescheid. Am 18. Juli 1942 machte sich das Geschwisterpaar Edith und Jules zum letzten Mal auf den Weg ins Spital. Edith Velmans-van Hessen beschrieb jene Momente des Abschieds mit folgenden Worten: "[...] Das Zimmer meiner Mutter zu verlassen, kostete mich die allergrößte Mühe. Jules und ich gingen in Richtung Tür, kehrten aber immer wieder um, für einen letzten Kuss, noch eine letzte Umarmung, wobei wir, um das Theater aufrechtzuerhalten – die Mutter lag in einem Zweibettzimmer [Anm. D.C. Albu] – jedes Mal so taten, als hätten wir vergessen, ihr etwas zu sagen. `Denk dran, morgen die Taschentücher mitzubringen, Edith`, sagte meine Mutter [...] Ihre Stimme klang ganz normal, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.[...]". 22
Edith mit ihrer Mutter, den beiden Brüdern Guus (stehend) und Jules und dem Hund Fifi im Jahre 1938
Wieder zu Hause angekommen wurden die allerletzten Vorbereitungen getroffen: Mit Nagelschere und Rasiermesser wurden die gelben Sterne von allen Kleidungsstücken sorgfältig entfernt. Die Großmutter und der Vater der Beiden nahmen am Abend einige Schlaftabletten ein, denn der Plan lautete dahingehend, dass die Kinder van Hessen beschlossen hätten, ohne Wissen oder Zustimmung der
Eltern in die Schweiz zu flüchten.23 Edith van Hessen existierte am nächsten Morgen nicht mehr: Von nun an hieß sie Antoinette Schierboom, geboren am 22. Juli 1925, stammte aus Wassenaar und kam bei einer mit den Eltern ihres Freundes Adrie Verhulst befreundeten Familie aus Breda als Haushaltshilfe unter. Die Kleinsmiedes waren etwa im gleichen Alter wie Ediths Eltern und hatten eine um fünf Jahre ältere Tochter namens Ineke. Nettie, wie Edith nun genannt wurde, galt als Inekes beste Freundin aus dem Norden, die den Sommer bei ihr und deren Familie verbrachte.24
Da das Führen eines Tagebuches sie unter Umständen hätte verraten können, waren die durch Kuriere überbrachten Briefe ihrer Familienangehörigen, die Edith entgegen der Ermahnung ihrer Mutter, sie nach dem Lesen sogleich zu verbrennen, aufbewahrte, das einzige, woran sie sich klammern konnte und ihr ein Gefühl der Zugehörigkeit und Geborgenheit vermittelte.25
Insbesondere der Briefverkehr zwischen Edith und ihrer Mutter gestaltete sich sehr rege. Anfangs waren die Briefe eher kurzgehalten, die ganze Sorge der Mutter galt ihren Familienangehörigen. Da die Großmutter ihren einzigen Sohn im Ersten Weltkrieg verloren und dafür das Ehrenkreuz verliehen bekommen hatte, glaubte man, sie von der Gefahr einer Deportation ausschließen zu können, was eine Zeit lang mit viel Glück auch tatsächlich funktionierte. Nachdem sich Ediths Vater einer komplizierten Kieferoperation – er hatte Krebs – unterziehen musste, fungierte Edith als erste Ansprech- und Vertrauensperson, und sie fühlte sich geschmeichelt, von der eigenen Mutter als erwachsene Person betrachtet zu werden. In einem ihrer vielen Briefe schrieb Hilde van Hessen: "[...] Wir reden von gleich zu gleich miteinander, und deswegen habe ich Dir mein Herz ausgeschüttet und Dir meine größten Sorgen anvertraut. [...] Doch wem sollte ich sonst mein Seelenleid offenbaren als Dir, mein Engel? Du verstehst mich, und Du bist mein Trost. [..]".26
Edith mit ihrem Bruder Jules im Jahre 1931
1942 begannen die "Säuberungsmaßnahmen" und "Entjudung" vieler Ortschaften und Gemeinden. Die deutschen Juden wurden ins "Polizeiliche Durchgangslager Westerbork" untergebracht, welches ursprünglich - also seit Kriegsbeginn 1939 bis zur Invasion der deutschen Truppen im Mai 1940 – als Aufnahmestelle für Flüchtlinge mosaischen Glaubens aus dem Altreich fungiert hatte; die niederländischen Juden hingegen verfrachtete man im Zuge eines Aufenthaltsverbotes in Haarlem, Heemstede, Bloemendaal und Voorschoten zunächst ins Lager Vught bei Hertogenbosch bzw. nach Amsterdam. Doch bald sollte das 50.000 qm große Zwischenlager Westerbrock als Zwischenstation auf dem Weg in den sicheren Tod für alle Angehörigen des jüdischen Glaubens dienen.27
Ein letztes Mal war es Edith beschert, ihren Bruder Jules Anfang 1943 (wieder zu) sehen: mit einem alten rostigen Fischerboot beabsichtigte er, gemeinsam mit Ediths Freund Adrie nach Groningen und von dort aus nach England zu fahren. Jules schien voller Optimismus und guter Hoffnung zu sein, als er sich von seiner Schwester mit den Worten "Auf ein ganz, ganz baldiges Wiedersehen, Nettie!" Und denk dran, die Befreiung rückt immer näher!"28 verabschiedete. Doch relativ bald wurde er verraten, arretiert, ins Durchgangslager Westerbork überstellt und schließlich nach Auschwitz-Birkenau deportiert, von wo er nie mehr zurückkehren sollte.29
Als Freundin des zweiten Sohnes30 der Familie van Hessen, der zu Beginn des Krieges in die USA emigriert war, getarnt, betrat Edith die Abteilung der Mund- und Kieferchirurgie des Krankenhauses in Utrecht. Das deformierte Gesicht ihres schwerkranken Vaters war kaum wieder zu erkennen, doch er versuchte, ihr durch versteckte Botschaften Mut zuzusprechen. Er begleitete sie schließlich bis zum Ausgangstor und sagte: "Der Tag wird kommen. Der Tag wird kommen." Edith schrieb dazu in ihr Buch: "Langsam drehte er sich um und ging zurück zum Krankenhaus. Noch einmal wandte er sich zu mir um und winkte. Als ich dort stand und ihm hinterher blickte, wusste ich, dass ich ihn nie mehr wiedersehen würde."31
Nun war es so weit: auch Altersheime und Spitäler wurden nach Juden durchkämmt. Ediths Mutter und Großmutter kamen nacheinander ins Hauptdurchgangslager Westerbrock. Die Lagerordnung, die den Gefangenen das Feiern von jüdischen Fest- und Gedenktagen und den Empfang von Briefen und Paketen ermöglichte, sowie das relativ geordnete Lagerleben, das musikalische, künstlerische und sportliche Veranstaltungen erlaubte, machten den beiden Frauen Hoffnung auf eine Rückkehr bzw. einen möglichen Verbleib in den Niederlanden.32 In Ihren langen Briefen an ihre Tochter vermengten sich Hoffnung und Trauer, Zuversicht und Verzweiflung. Mit letzter Kraft versuchte Hilde van Hessen, Stärke und Courage zu beweisen und vor allem ihren Familienangehörigen Mut zuzusprechen, wie dies aus einem Brief an ihren Gatten, den sie in der Nacht vor dem Abtransport verfasste, zum Ausdruck kommt: "[...] Ich komme gewiss zurück, und dann nehmen wir das Leben wieder auf, das wir uns, lange bevor dieser Alptraum begann, geschaffen haben. Du musst Dein Bestes tun, um zu genesen, denn wenn ich zurückkomme, werde ich Dich mehr denn je brauchen. Ich will, dass Du diese Krankheit bezwingst und Dich nicht von den Grausamkeiten unterkriegen lässt, die die Nazis uns zufügen. [...] Und Ihr müsst auch Euer Bestes tun, verstanden? Ich zähle auf Euch und werde Euch dringend brauchen, wenn ich zurückkomme. Dann müsst Ihr da sein! Ich werde Euch immer lieben. Hilde."33
Auch Ediths Vater spürte sein Ende nahen. Seine Briefe schloss er stets mit Botschaften wie "Auf Wiedersehen, meine liebe Freundin. Du hast mir nichts als Freude gemacht!" oder "Lebe wohl, mein Engel – ich liebe Dich bis über das Grab hinaus."34 Edith weigerte sich, dies zu akzeptieren, und dennoch schaffte sie es, ihren geliebten Vater mit den Worten " [...] Du hast uns so viel Glück und so viel schönes gegeben. [...] Mach Dir keine Sorgen mehr. Auf Wiedersehen, mein lieber Vati. Ich küsse Dich nochmals innig und werde immer bei Dir sein, von Dir und für Dich. Dein Kind." aus dieser Welt zu entlassen. Wenige Stunden nach dem Erhalt jenes Briefes starb David van Hessen.35
Nun schienen die Einsamkeit und Isolation sowie die Monotonie des Alltags für Edith immer unerträglicher zu werden; sie spielte mit dem Gedanken, sich selbst anzuzeigen. Am 29. Oktober 1944 jedoch begann der Traum von der Befreiung endlich wahr zu werden: Explosionen und Schüsse waren zu hören, Flüchtlinge zogen durch die Straßen, und drei Tage später hielten polnische Befreier mit ihren Panzern Einzug in Den Haag. Nun gaben die Kleinsmiedes die wahre Identität der Nettie Schierboom preis, und alle Nachbarn umarmten und beglückwünschten sie.36
In den letzten Jahren vor Kriegsende waren Entbehrungen im Nahrungsmittelbereich hie und da zu spüren; Butter war ein begehrtes und rares Produkt. Nach dem Tode ihres Vaters bekam Edith dessen Anzug und ein Paar Schuhe, die sie vorerst als Erinnerungsstücke aufbewahren wollte. Zögernd, widerwillig und unentschlossen tauschte sie dann schließlich die Schuhe gegen Mehr, Eier und ein Stückchen Butter ein.37
Im Norden des Landes sollte der Krieg bis zum 5. Mai 1945 andauern und eine unvorstellbare Hungersnot ausbrechen. Während im Radio Berichte vom Ver-zehr von Tulpenzwiebeln, Zuckerrüben und Katzen zu hören waren, erschien Edith und ihrer Pflegefamilie ihr "armselige Mahl [...] geradezu ekelhaft üppig."38
Mit Beginn des Frühlings des Jahres 1945 gewann Edith ihre Lebensfreude wieder zurück. Eine Tagebucheintragung vom 26. März 1945 teilt uns folgendes mit: "Ich habe oft so ein Gefühl in mir: Ich will glücklich sein, und ich werde glücklich sein. Ich bin dem Leben gewachsen, und wenn es mir auch noch so viele Steine in den Weg legt. [...] Das Leben muss einfach schön werden, wenn man anderen etwas zu geben hat, anstatt immer nur zu nehmen. Dieses Gefühl der Kraft verleiht mir Mut und die Gewissheit, stark genug zu sein für das Leben. Es hilft mir, vieles zu überstehen. [...]"39
Mit diesem Optimismus und dem Vorsatz, immer glücklich sein zu wollen, meisterte sie ihr Leben nach dem Krieg: Sie feierte das Wiedersehen mit ihrem Bruder Guus, absolvierte das Studium der Psychologie und heiratete Loet Velmans, einen Schulfreund ihres im KZ umgekommenen Bruders Jules.40 Edith Velmans-van Hessen lebt heute mit ihrem Ehegatten und ihren drei Töchtern in den USA.41
1 Als die Großmutter der Autorin im September 1938 nach Holland emigrierte, machte sie ihrer Enkelin ein Album, welches in späterer Folge als Tagebuch benutzt wurde, zum Geschenk. Einen Tag, bevor Edith van Hessen in Breda untertauchen musste, vertraute sie ihrer besten Freundin Miep Fernandes ihre Tagebücher in einem schwarzen Lacklederkoffer verpackt, in dem die Großmutter ihre Unterwäsche für die Beerdigung aufbewahrte, an. Edith Velmans-van Hessen, Ich wollte immer glücklich sein. Das Schicksal eines jüdischen Mädchens im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt/Main 2001, S13-14. (Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel Edith Velmans-van Hessen, Het verhaal van Edith, Amsterdam 1997.) 2 Die geographische Lage Hollands machte eine neutrale Haltung erforderlich, denn ähnlich wie Belgien und Luxemburg lag/liegt es in der Rheinfront und konnte im Falle einer militärischen Auseinandersetzung zwischen den europäischen Großmächten Frankreich und Deutschland als Spielball benutzt werden. Theodora Redlich, Die Stellung der Niederlande im Zweiten Weltkrieg (unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Wien 1987), S7-15. 3 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S35, ebda. 4 A. den Doolaard verfasste 1938 das Werk Het hakenkruis over Europa – Das Hakenkreuz über Europa. Edith hatte ein Segelboot, welches sie "Den Doolaard" taufte. E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S25, ebda. 5 Die Familie van Hessen hatte nach der Kriegserklärung Frankreichs und Großbritanniens an Hitlerdeutschland im eigenen Garten einen Bunker angelegt, welcher mit Grassoden und Narzissen verdeckt, mit Gasmasken, Taschenlampen u. dgl. ausgestattet wurde und als Abstellraum bzw. als Spielraum für Edith und deren Freunde fungierte. E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S28, ebda. 6 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein....; S36, ebda. 7 Die "Festung Holland umschloss die Städte Rotterdam, Amsterdam und Utrecht. Vgl. www.dhm.de/lemo/html/wk2/kriegsverlauf/niederlande oder Frans S.A. Beekman, Franz Kurowski, Der Kampf um die Festung Holland, Herford 1981. 8 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S36, ebda. 9 General Winkelmann, Chef des niederländischen Heeres, unterzeichnete am 15. Mai 1940 den deutsch-niederländischen Waffenstillstandsvertrag. Die Bilanz des fünftägigen Krieges waren 2890 im Kampf gefallene (holländische) Soldaten und 2500 Tote unter der Zivilpopulation. Th. Redlich, Die Niederlande...; S46, ebda. E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S38, ebda. 10 Vgl. Frans S.A. Beekman, Sturmangriff aus der Luft. Die erste Fallschirm- und Luftlandeoperation der Kriegsgeschichte in der Festung Holland, Berg am See 1990. 11 David van Hessen hatte eine künstlerische Ausbildung absolviert und zusätzlich einen kaufmännischen Beruf im Holzhandel erlernt und fungierte als europäischer Repräsentant der amerikanischen Firma Ritter Lumber Company of Columbus (Ohio). E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S21-22, ebda. 12 Ursprünglich hatte Adolf Hitler die Einrichtung einer reinen Militärverwaltung vorgesehen, welche die Sicherheit im Inneren und die Ankurbelung des Wirtschaftslebens gewährleisten sollte. Der Kölner Regierungspräsident Eggbert Reeder wurde zum Chef der Militäradministration ernannt; doch bestand dadurch die Gefahr des Überhandnehmens militärischer Kompetenzen, so dass die neuen Instruktionen des Führers nach dem 15. Mai 1940 die Einrichtung eines Reichskommissariats anordneten. Th. Redlich, Die Niederlande...; S50-58, ebda. Zu den Generalkommis-sären gehörten der ehemalige österreichische Staatssekretär und Regierungspräsident in Regensburg Friedrich Wimmer, der nunmehr für Verwaltung und Justiz zuständig war, Hans Fischböck, der ehemalige Wiener Bankpräsident und nunmehriger Kommissar für Wirtschaft und Finanzen; Hanns Albin Rauter, höherer SS-Polizeiführer fungierte als Chef der Sicherheit und Polizei, Fritz Schmidt betreute das Kommissariat zur besonderen Verwendung, und Otto Bene war für die außenpolitischen Angelegenheiten verantwortlich. Horst Lademacher, Die Niederlande. Politische Kultur zwischen Individualität und Anpassung, In: Propyläen Geschichte Europas, Ergänzungsband, (Berlin, Frankfurt/Main 1993), S409. 13 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S41, ebda. 14 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S44, ebda. Im Juni 1942 war Edith gezwungen, ihr Fahrrad abzugeben. In ihr Tagebuch schrieb sie: "[...] Ich musste von halb elf bis zwei Uhr warten. Kein Jude darf jetzt mehr Fahrrad fahren. Was für eine Schweinerei. Sogar das nehmen sie uns noch weg! In letzter Zeit halte ich mir die ganze zeit den Spruch vor Augen: ´Wenn die Not am größten ist, muss die Rettung nahe sein.` [...]". E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S120-121, ebda. 15 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S53, ebda. 16 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S51, 55, 61,72, 76, 78 ebda. 17 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S62, ebda. 18 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S88, 93, 95, ebda. 19 Am 2.5.1942 wurde der "gelbe Judenstern" mit der Aufschrift "Jood" eingeführt. Die Verpflichtung bestand bei jedem Auftritt in der Öffentlichkeit, selbst wenn sich die betreffende Person auf dem eigenen Balkon oder am eigenen Fenster aufhielt. Auf Plakaten wurde verkündet, an welcher Stelle der Stern, der vor dem Aufnähen gewaschen werden musste, um ein Eingehen zu verhindern, angebracht werden musste. E. Lademacher, Niederlande...; S581, ebda. E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S106, 108 ebda. 20 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S91, 108, 114 ebda. 21 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S126-127, ebda. 22 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S131, ebda. 23 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S130, ebda. 24 Edith wurde von ihrem Freund Adrie nach Breda begleitet: "[...] Da wir in den morgendlichen Hauptverkehrszeit unterwegs waren, wimmelte es nur so von deutschen Soldaten. [...] Mir klopfte das Herz bis zum Hals. Trotzdem fühlte ich mich frei wie ein Vogel. [...] Adrie und ich saßen Hand in Hand und versuchten, [...] uns wie ein ganz normales verliebtes Pärchen zu verhalten. In meiner Brieftasche hatte ich, wie alle anderen, meinen Ausweis – ohne das abscheuliche `J´[...]:" E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S132-135; 138-139, ebda. 25 Sie las die Briefe ihrer Eltern und Freunde so oft, so dass sie jene beinahe auswendig konnte. Gemeinsam mit selbstverfassten Gedichten und selbstangefertigten Zeichnungen versteckte sie diese unter einem Stapel Kleidung im Schrank. E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S164, ebda. 26 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S176, ebda. 27 E. Lademacher, Niederlande…; S580-582, ebda. 28 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S192, ebda. 29 In einem Brief an seine Mutter schrieb er, er werde vom Gefängnispersonal "sehr gut" behandelt, warte auf den Abtransport nach Westerbork und bitte um einige Kleidungsstücke. Jules hatte als Inhaftierter zwei Fluchtversuche unternommen, weshalb er den Vermerk "S" in seine Dokumente eingetragen wurde, was ihm eine "Sonderbehandlung" bescherte. In Westerbrock war er zu Zwangsarbeit verurteilt worden. Beinahe ein Jahr nach der Deportation starb Jules van Hessen am 29. Februar 1944. Adrie Verhulst, Ediths Freund, erhielt von David van Hessen den Auftrag, das Segelboot, das als Fluchtmittel für Jules dienen hätte sollen, zum Verkauf anzubieten. Bevor er das Boot bei einem Schiffsbauer in der Nähe von Loodsrecht ablieferte, gönnte er sich noch einen Segeltörn, was ihn in Ediths Augen als herz- und taktlos erscheinen ließ. Jene Geschichte habe einen Wendepunkt in ihren Gefühlen für Adrie markiert, stellte Edith fest. E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S206-207; 212; 214-215; 216-217; 300, ebda. 30 Guus reiste am 1. März 1940, also einige Monate vor der Okkupation Hollands nach Amerika und sollte neben Edith der einzig Überlebende der Familie van Hessen sein. Vgl. E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S215, ebda. 31 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S196, ebda. 32 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S218-221, ebda. Vgl. außerdem E. Lademacher, Niederlande...; S582, ebda. 33 Hilde van Hessen starb gemeinsam mit ihrer aus Deutschland stammenden Mutter in den Gaskammern von Sobibor. E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S231-232; 300 ebda. 34 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S235, ebda. 35 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S240-241, ebda. 36 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S259-262, ebda. 37 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S244-248, ebda. 38 Da Hitler ausdrücklich angeordnet hatte, dass der Lebensstandard der Niederländer unangetastet bleiben und nicht unter jenen der Deutschen sinken sollte, waren Einschränkungen erst ab 1942 festzustellen, die vor allem im Norden Hollands im Hungerwinter 1944/45 kulminierten. E. Lademacher, Niederlande...; S588, ebda. E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S270. 39 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S287, ebda. 40 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S308-309, ebda. 41 Bei der Geburt ihrer beiden Zwillingstöchter 1950 in einem Amsterdamer Krankenhaus teilte Edith Velmans-van Hessen das Zimmer mit einer gewissen Miep Gies, jener Person, die der Familie der Anne Frank während der Besatzungszeit Unterschlupf gewährt hatte. E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S11-13, ebda. Vgl. außerdem: Carol Ann Lee, Anne Frank. Die Biographie. München, Zürich 2002.