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Der Holocaust, betrachtet durch die muslimische Brille

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Jikeli, Günther/Stoller, Kim Robin/Allouche-Benayoun, Joëlle (Hg.): Umstrittene Geschichte. Ansichten zum Holocaust unter Muslimen im internationalen Vergleich
Frankfurt/New York: Campus Verlag 2013,
315 Seiten. Euro 34,90
ISBN 978-3-593-39855-6


Zu Beginn seien einige Zitate angeführt, die deutlich machen, wovon in diesem Buch die Rede ist: „Der Holocaust ist in Europa im Laufe der Zeit zum Symbol des absolut Bösen, der absoluten Barbarei geworden ... Juden als Symbol des ‚absoluten Opfers’ ... Im antizionistischen Diskurs werden jedoch ‚die Zionisten’ [und oft auch die Juden, M.M.] ... und der Zionismus als Ganzes zum absolut Bösen ... ‚Die Palästinenser’ auf der anderen Seite ... als unschuldige Opfer der Juden angesehen ...“ (S. 17)
Inzwischen (im Jahr 2013) stellen Muslime die größte Minderheit in Europa dar, deren Anzahl auf 13 bis 20 Millionen geschätzt wird, mit steigender Tendenz. Daher ist die Sicht auch dieser europäischen Bürger auf den Holocaust durchaus von Bedeutung.
Es wurden in der Vergangenheit wenige Studien, mittlerweile werden jedoch zusehends mehr Studien über die Einstellung zum Holocaust unter dieser Bevölkerung durchgeführt, s. dazu die Literaturhinweise am Ende jedes Kapitels. 2010 wurde, um nur eine zu nennen, von der Wochenzeitschrift Die Zeit eine repräsentative Studie unter 400 Personen türkischer Herkunft über ihre Einstellung zum Holocaust veröffentlicht. Die meisten von ihnen bezeichneten sich als muslimisch; 68 Prozent wussten nach eigener Aussage nur wenig über den Holocaust, 40 Prozent waren der Ansicht, Personen türkischer Herkunft, die in Deutschland leben, gehe diese Frage eigentlich nichts an. In einer anderen Umfrage, 2006 unter Muslimen in Großbritannien durchgeführt, stimmte nur ein Drittel der Frage zu, dass der Holocaust stattgefunden hat, so wie in den Schulen unterrichtet; 17 Prozent meinten, er werde übertrieben, 2 Prozent er habe nie stattgefunden, und 23 Prozent hatten noch nie etwas davon gehört.
Weiter zeigen Umfragen, dass in Europa antisemitische Einstellungen unter Muslimen weiter verbreitet sind als unter Nichtmuslimen. Nachdem die namentlich im Titel genannten Autoren weitere erschreckende Erkenntnisse über die Einstellung muslimischer Jugendlicher anführen, warnen sie allerdings davor, Muslimen notwendigerweise antisemitische Einstellungen zuzuweisen; das lehnen sie als empirisch falsch und rassistisch bzw. kulturalistisch, was immer das bedeuten mag, ab.
In einer sehr interessanten Zusammenfassung, noch immer im ersten Kapitel, ist einiges über die Art zu erfahren, wie es muslimischen Ländern während des Holocaust ergangen ist, wobei zu unterscheiden wäre zwischen jenen Ländern, die Ende 1942 für einige Monate von Deutschen und Italienern besetzt wurden, und solchen, in die diese nicht gelangten. In Bosnien-Herzegowina mit einer zur Hälfte muslimischen Bevölkerung wurden die meisten Juden ermordet, während sich in Albanien mit einer überwiegend muslimischen Bevölkerung die meisten Retter von Juden fanden. Aufschlussreich ist ein Vergleich der Diskurse in arabischen Ländern und in der Türkei heute: Die einen leugnen den Holocaust, s. Iran, die anderen ignorieren ihn weitestgehend, s. dazu die Türkei.
Ein weiterer wichtiger Aspekt betrifft die Beteiligung muslimischer Organisationen am Holocaust-Gedenken in Europa. Gleich im ersten Absatz seines Beitrags betont der Verfasser, Michael Whine, ausdrücklich „Obwohl die Jüdinnen und Juden ganz sicher nicht die einzigen Leidtragenden waren“ (sic!), dennoch will er sich auf ihre Rolle als Opfer und muslimische Reaktionen auf den Holocaust konzentrieren. Allein schon dieser einführende Satz zeigt, dass Mr. Whine nicht begriffen hat, worum es beim Holocaust und dem Gedenken daran geht. Dieser einführende Satz nimmt Lesern, darunter auch mir überdies die Lust, sich noch weiter mit seinen Erörterungen zu befassen. Mr. Whine macht jedoch fröhlich weiter und meint, „Daher haben MuslimInnen unter der Besatzung genauso sehr gelitten wie die Bevölkerungen anderer okkupierter Länder“ (S. 76). Und deshalb nehmen ihre Vertreter in Europa wohl nur ungerne an öffentlichen Gedenkveranstaltungen teil, und das gilt für Belgien, die Niederlande genauso wie für Großbritannien als auch für Deutschland.
Der wohl wichtigste Beitrag ist der von Esther Webman über die Entwicklung der Holocaust-Wahrnehmung im arabischen Raum. Begleitet wird die Entwicklung der Wahrnehmung des Holocaust seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die nächsten drei Kapitel befassen sich mit der Wahrnehmung des Holocaust in der Türkei, in Großbritannien und Italien sowie in den Niederlanden.  
Der Bericht über ein Begegnungsprojekt mit jüdischen und palästinensischen Multiplikatoren aus Israel nimmt sich anfangs sehr hoffnungsreich aus – bis man zu der Aussage einiger jüdischer Teilnehmenden stößt: „Ja, aber wir haben keinen anderen Ort“, auf den die palästinsensische Seite mit der Aufforderung reagiert, “die jüdische Seite solle doch ‚in ihre Herkunftsländer zurückkehren’“ (S. 249/250).
Ja, wirklich? Ich zumindest glaube nicht, dass Juden aus Tunesien, Libyen, oder Ägypten aber auch aus dem Irak, Iran oder Afghanistan zurück in die Heimat ihrer Vorfahren kehren möchten.
Das Begegnungsprojekt in Israel ist ein Versuch, Menschen mit gegensätzlichen Ansichten und Erfahrungen zusammenzubringen. Die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus ist ein weiterer. Und sie liest sich sehr viel tröstlicher als die erst genannte. Bleibt zu hoffen, dass es noch viele weitere Initiativen gibt, um alle Menschen guten Willens davon zu überzeugen, dass die Schoa, der Holocaust, ein Verbrechen war, das bis dahin beispiellos war, das mit keinem anderen Leid während der Nazi-Schreckensherrschaft über Europa und dem glücklicherweise misslungenen Griff nach der Weltherrschaft verglichen werden kann! Und noch etwas sollte eigentlich klar herauskommen: Islamophobie darf auf gar keinen Fall mit Antisemitismus gleichgesetzt werden.
Ein aufschlussreiches Buch, das jedem an dieser Frage Interessierten viel neue Information vermittelt, manchmal sogar genau die von der/dem/den Verfasser/in/n entgegengesetzt gemeinte. Befremdlich wirken auf den ersten Blick die Bemühungen der „HerausgeberInnen“ um die Verwendung des geschlechts-neutal-intendierten Unterstrichs (gender gap) oder „Juden und Jüdinnen“ – und was ist mit den jüdischen Kindern, welches Geschlecht haben die? --, der sich für den ungeübten Blick eher lächerlich ausnimmt oder schlichtweg beim Lesen stört. Genauso wenig weiß man wohl schwerlich etwas mit dem Begriff „autochthone Deutsche“ anzufangen. Man kann es auch übertreiben, meine ich.