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Reichenberg: Wien des Nordens, böhmisches Manchester - heute Liberec in der Tschechischen Republik.

Tina WALZER

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Einst war die böhmische Stadt Reichenberg (seit 1945 offiziell Liberec) Zentrum der Textilindustrie in der Habsburgermonarchie. Das dortige neue Rathaus erinnert frappant an jenes in Wien, das Theater machte die Stadt zu einem Zentrum der Opernwelt. Geplant vom prominenten Architektenduo Fellner & Hellmer, diente es als Sprungbrett berühmter Künstler und Sänger, und den grossen Vorhang gestaltete Gustav Klimt. In unmittelbarer Nachbarschaft lag die Synagoge, ein frühes Werk Carl Königs. Den mächtigen Repräsentativbauten der Gründerzeit - neuem Rathaus, Stadttheater, Sparkasse und Nordböhmischem Gewerbemuseum standen Bedeutung und Einfluss der Synagoge in nichts nach.

 

Schon der Name der Stadt verweist auf ein Minenfeld der Geschichte. Früher Reichenberg, heute Liberec, befindet sich hier ein Kristallisationspunkt der Konflikte zwischen Tschechen und Deutschen. Die Ansiedlung lag im stark industrialisierten Nordböhmen, dem Zentrum des Siedlungsgebietes der Sudetendeutschen, der deutschen Bewohner Böhmens und Mährens. Über 3 Millionen lebten in den böhmischen Ländern („Deutschböhmen", „Deutschmährer", „Deutschschlesier"). Bereits die Umsiedlungspolitik der Ersten Republik unternahm eine Tschechisierung der Region. Unmittelbar nach dem Münchner Abkommen vom 30. September 1938 wurde Reichenberg von der Wehrmacht besetzt und schon am 10.Oktober 1938 ins nationalsozialistische Deutsche Reich eingegliedert. Die Tschechoslowakei verlor mit dem Sudetenland ein Drittel ihrer Gesamtbevölkerung, ihre wichtigsten Industrieanlagen und sämtliche Grenzbefestigungen. In der NS-Zeit wurde Reichenberg zur Hauptstadt des Reichsgaues Sudetenland (15.4.1939 - Mai 1945) ernannt. Überzeugte Tschechen, die sich auch unter den gegebenen Umständen nicht der deutschen Nationalität anschliessen wollten, wurden ins Protektorat Böhmen und Mähren umgesiedelt und entschädigungslos enteignet. Unmittelbar nach Kriegsende 1945 folgte dann die Vertreibung fast aller Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei und ihre Enteignung. Reichenberg wurde in Liberec umbenannt, das entvölkerte Gebiet durch Tschechen aus Zentralböhmen neubesiedelt. Zusätzlich wurden Roma und Sinti dort sesshaft gemacht.

Die jüdische Gemeinde Reichenberg

Die jüdische Geschichte der Stadt verlief nicht weniger konfliktreich. Jahrhundertelang gab es  kein Niederlassungsrecht für Juden. Der Reichenberger Rabbiner Emil Hofmann fasste die Situation 1934 pointiert zusammen und konstatierte „weniger die Geschichte einer Gemeinde, als die Geschichte einer jüdischen Handelskolonie". Trotz aller Hindernisse florierte die jüdische Bevölkerung, am Höhepunkt der Entwicklung kam es zu Carl Königs Synagogenbau. Infolge der Eingliederung des Gebietes nach NS-Deutschland flüchteten bereits im Oktober 1938 12.000 der insgesamt 28.000 ansässigen Juden aus dem Sudetenland, unter Zurücklassung ihrer Besitztümer. In Reichenberg selbst blieben 30 Personen zurück und wurden verhaftet. Während der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 wurden insgesamt 44 Synagogen im Sudetenland zerstört, darunter auch jene von Reichenberg. Die Auslöschung der  jüdischen Bevölkerung folgte. Wiewohl als Hauptargument für die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei nach dem Krieg deren Kollaboration mit dem NS-Regime behauptet wurde, hatten sich viele Sudetendeutsche dem Naziterror entgegen gestellt - Oskar Schindler ist das wohl bekannteste Beispiel dafür. Nach Kriegsende kam es im Zuge von Umsiedlungen aus den Gemeinden der Karpatho-Ukraine, welche der Sowjetunion zugeschlagen wurde, 1945 zur Wiederansiedlung von Juden in Reichenberg und zur Wiederaufnahme eines jüdischen Gemeindelebens. 1912 hatten in Reichenberg 1.240 Juden gelebt - 1948 waren es 1.105 Juden: 37 Reichenberger Juden, die überlebt hatten, 182 ausländische Soldaten und insgesamt rund 1.000 Umgesiedelte. Heute ist Leah Adamova Generalsekretärin der jüdischen Gemeinde Liberec, neun Präsidiumsmitglieder bilden den Gemeindevorstand. 2006 hatte die Kehile rund 70 Mitglieder. Die heutige jüdische Gemeinde verwaltet ein großes Einzugsgebiet von Jablonec nad Nisou (dt. Gablonz ) bis Varnsdorf (dt. Warnsdorf) und hat darüber hinaus auch Mitglieder in Ceský Dub (dt. Böhmisch Aicha), Jablonné v Podjestedi (dt. Gabel), Rumburk (dt. Rumburg) und Smrzovka (dt. Morchelstern).

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Lage der Synagoge in unmittelbarer Nähe des Stadttheaters im Stadtzentrum. Im Vordergrund das neue Rathaus. Mit freundlicher Genehmigung Evelin Riegler 2013.

Gedenken

Carl Königs Synagoge gibt es nicht mehr. Seit 1939, nach der Abtragung der Brandruine des Novemberpogroms, war die Baulücke als Parkplatz genutzt worden. Im Jahr 2000 wurde anstelle der Synagoge das „Haus der Versöhnung" errichtet, bestehend aus der neuen Stadtbibliothek und einem daran angebauten Gebäude in Dreiecksform, als Symbol für einen halben Davidstern. Am 9. November 2000, zum Jahrestag der Novemberpogrome, wurde der dortige Betraum eröffnet - es war der erste Neubau des Landes dieser Art seit dem Zweiten Weltkrieg. Reste der zerstörten Thorarolle der alten Synagoge befinden sich im Schnittbereich zwischen Grundriss der alten Synagoge und „Haus der Versöhnung", dort wurde aus Bauresten der alten Synagoge eine „Klagemauer" errichtet. Das Gebäude in der heutigen Rumjancevova ulice dient auch als Sitz der jüdischen Gemeinde.

Neuerdings gibt es im ehemaligen Tahara-Haus am jüdischen Friedhof von Reichenberg eine Holocaust-Gedenkstätte. Die Namen der Reichenberger Opfer und der Arbeits- und Vernichtungslager sind dort verzeichnet, Teile der Wandtäfelung der zerstörten Carl-König-Synagoge an den Wänden montiert. Der 1864 eingeweihte Friedhof war 1992 an die jüdische Gemeinde restituiert worden, das Gebäude bis 1999 als Lagerhalle benutzt. Seit der Renovierung dient es als Veranstaltungsort.

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Die Synagoge wurde auf einer Anhöhe über der Stadt erbaut. Am rechten Bildrand die Kuppel des Stadttheaters. Mit freundlicher Genehmigung Evelin Riegler 2013.

Reichenberg als Tuchmacherstadt

Reichenbergs Besiedlung erfolgte im 13. Jahrhundert durch deutsche Siedler am Verkehrsweg zwischen Zentralböhmen und der Ostsee, die Anfänge jüdischer Geschichte im Raum Reichenberg reichen ins 14. Jahrhundert zurück. Aus jener Zeit ist bereits die Leinenfertigung dokumentiert, die kargen Böden eigneten sich vor allem zum Flachsanbau. Anfang des 15. Jahrhunderts, am Ende der Hussitenkriege, verlief die deutsch-tschechische Sprachgrenze 10 km südwestlich der Stadt. 1577 erhielt Reichenberg das Stadtrecht, aus 1582 ist die älteste urkundliche Erwähnung von „sechzig" Juden, die aus Prag vor der Pest geflohen waren, erhalten. Der grosse Aufschwung kam während des Dreissigjährigen Krieges unter Wallenstein, dessen Hofjude Jakob Bassewi für die Einkleidung der Truppen zuständig war.  Im Frühkapitalismus des 18. Jahrhunderts entstanden Textilmanufakturen, und viele Tschechen wanderten auf Arbeitssuche in die Industriegebiete des Nordens. Aus dieser Zeit datieren erste Belege des Namens Liberec. Die Textilindustrie entwickelte sich, auch Färbereien und Wollhandel florierten.

Carl Königs Synagoge

Nach der Aufhebung der Ghettos 1848 entstanden in Reichenberg 1861 ein erster Betsaal, 1863 ein religiöser Klub, und 1877 wurde die jüdische Gemeinde Reichenberg gegründet. Die räumlichen Gegebenheiten reichten nicht mehr aus, ein Synagogenneubau wurde in Angriff genommen. Fast ein Drittel der Spenden zum Tempelbau kamen von nichtjüdischen Reichenbergern. Auf Einladung des Baukommittees wurden Baupläne von Max Fleischer und Carl König erstellt, Königs Entwurf setzte sich durch. Die neue Synagoge hatte je 250 Sitzplätze für Männer und Frauen, eine Zentralheizung und eine Orgel. Der Innenraum wurde mit Vergoldungen polychrom ausgestaltet. Die Bauzeit betrug zwei Jahre, am 24.9.1889 wurde der Sakralbau eingeweiht. Die Feier endete mit einer Mottete von Joseph Haydn, dem Kaisergebet und dem Absingen der Volkshymne. Der neue Prachtbau im Frührenaissance-Stil lag auf einer Anhöhe mit Blick auf die Stadt in prominenter Position, er dominierte das Stadtbild vom Rathaus in Blickrichtung Norden. Später gab es auch ein eigenes Bethaus der orthodoxen Achdus Jisrael, vor allem für Kriegsflüchtlinge aus Galizien nach dem 1. Weltkrieg.

Prominente Familien

Zu den bekanntesten Reichenbergern zählt die Familie von Stefan Zweig - das Einkommen aus dem dortigen Fabriksunternehmen sicherte dem Schriftsteller seine Existenz. Eine Enkelin des Reichenberger Fabrikanten Richard Neumann heiratete 1924 den einzigen Sohn von Richard Strauss, der dafür die Familie vor der NS-Verfolgung schützte. Eine der Ikonen der tschechischen Moderne ist die Villa der Familie Stross, im Volksmund das „Nilschiff" genannt, in der heutigen Husova ulice 64/186.n

  

Nachlese:

Isa Engelmann, Reichenberg und seine jüdischen Bürger, Zur Geschichte einer einst deutschen Stadt in Böhmen, Berlin LIT Verlag 2012.

Jiri Fiedler, Jewish Sights of Bohemia and Moravia, Cedarhurst Gefen Books 2000, 102f.

Emil Hofmann, Geschichte der Juden in Reichenberg, In: Hugo Gold, Die Juden und Judengemeinden Böhmens in Vergangenheit und Gegenwart, Brünn - Prag Jüdischer Buch- und Kunstverlag 1934, 529-569.  (Emil Hofmann war 1892 bis 1938 Rabbiner der Reichenberger jüdischen Gemeinde.)

Evelin Riegler, Virtuelle Rekonstruktion der Synagoge in Liberec. Modellierung, Texturierung und Visualisierung, Technische Universität Wien Dipl. Arbeit 2013.

Links: www.kehila-liberec.cz ; http://www.iajgsjewishcemeteryproject.org/czech-republic/liberec.html ; http://www.jewishbrno.eu/index.php?option=com_content&view=article&id=63&Itemid=47&lang=de

Kontakt: Zidovská Obec Liberec/ Jüdische Gemeinde Liberec (Reichenberg)

Rumjancevova 1/1362, 460 01 Liberec; http://www.kehila-liberec.cz

Aus drucktechnischen Gründen wird auf die Wiedergabe der diakritischen Zeichen verzichtet.