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Günther Jikeli: Antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen junger Muslime in Europa. Ergebnisse einer Studie unter jungen muslimischen Männern.
Essen: Klartext Verlag 2012.
342 Seiten, Euro 30,80
ISBN: 978-3-8375-0165-0
Salomon Korn warnt vor einem neuen Kraftdreieck des Antisemitismus:
“Der gleichzeitig von Südeuropa vordringende islamistische Antisemitismus und der aus dem Osten Europas in die Europäische Union einsickernde klassische Antisemitismus werden eine Zangenbewegung vollziehen, die den in Westeuropa vorhandenen sekundären und schuldreflexiven Antisemitismus vermutlich stärken wird. Die Folge wäre womöglich eine sich wechselseitig stützende Allianz unterschiedlich geprägter Formen der Judenfeindschaft.”[2]
Zur Besorgnis ist schon deswegen Grund, weil im Fall des islamistischen Antisemitismus auch bei nicht wenigen Muslimen Gewaltbereitschaft – die schon im mörderischen Terror gegen Juden mündete – feststellbar ist. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema in der Literatur ist eher schütter. Um so mehr sind diejenigen Wissenschaftler zu schätzen, die es wagen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Der Wiener Soziologe Arno Tausch publizierte bereits 2010 sein Buch Armut oder Radikalität.[3] Seiner Meinung nach gibt es keinen Grund für Alarmismus. Tausch plädiert für eine weitere Integration in der Tradition der Aufklärung der Mehrheitsbevölkerung und der Muslime, um die Integration von Muslimen in Europa zu beschleunigen. Den Kern der radikalen und gewalttätigen Islamisten in Europa schätzt er auf 2 bis 4 Prozent der gesamten ansässigen muslimischen Bevölkerung. Es gibt keine zuverlässige Statistik über die Zahl der gegenwärtig in Europa lebenden Muslime, nehmen wir die eher niedrig geschätzte Zahl von 20 Millionen und die vom Autor niedrig angesetzten 2 %, und wir haben in Europa 400.000 gewaltbereite Islamisten. Tausch beklagt mit Recht den Mangel an Daten. Da das 388 Seiten umfassende Buch hauptsächlich aus Tabellen besteht, ist es in erster Linie für Menschen gedacht, die sich damit befassen.
Ganz anders ist die Herangehensweise des Soziologen Günther Jikeli. Er beschäftigt sich in seinem 2012 erschienenen Buch konkret mit diesen Problemen. Jikeli war in der Bildungsarbeit gegen Antisemitismus in Berlin in den Jahren 2004 und 2005 tätig und musste feststellen, dass nicht nur Jugendliche mit muslimischem Hintergrund sich antisemitisch äusserten. Während Antisemitismus von Rechtsextremen öffentlich thematisiert wird, ist das vom Autor behandelte Thema mit Tabus belastet. Mit Recht verweist Jikeli auf den ersten wissenschaftlichen Bericht, der Antisemitismus seitens junger Muslime erfasste. Bekanntlich wollte die EUMC (heute FRA) diese Studie zunächst nicht veröffentlichen. Nach dem Mord an dem zuvor brutal gefolterten Ilan Halimi in Frankreich im Jahr 2006 und einer Reihe anderer Vorfälle kam es im März 2012 zum antisemitischen Terroranschlag auf eine jüdische Schule in Toulouse, bei dem drei Kinder und ein Vater und Lehrer aus nächster Nähe von einem jungen muslimischen Täter ermordet wurden, was kaum zu einer öffentlichen Thematisierung des Antisemitismus unter in Europa lebenden Muslimen führte. Jikeli hat mit 117 muslimischen Jugendlichen in Berlin, Paris und London (etwa 70% der Muslime in Europa leben in Deutschland, Frankreich und Grossbritannien) Interviews geführt, um festzustellen was sie über Juden denken, welche Argumente sie benützen, „um eine Feindschaft gegen Juden zu rechtfertigen“. Er konnte bei Durchsicht der Interviews feststellen, „dass die Antworten und Argumente sich weitgehend wiederholten […].“
Allerdings fand er auch fünf positive Beispiele der Ablehnung von Antisemitismus.
Trotz unterschiedlicher Herkunft der Befragten gleichen sich die antisemitischen Argumente der Jugendlichen.
„Die Banalisierung offenen Hasses gegen Juden in der Nachbarschaft ist eine Form der Akzeptanz des Hasses und dessen Irrationalität. Die Indifferenz gegenüber Judenhass und die Darstellung von Judenhass als etwas Normales ist eine Form der Banalisierung. Fatin beispielsweise, mit türkischem Hintergrund fiel ein genereller Hass von Muslimen gegen Juden auf. Er berichtete, dass er beobachtet hatte, wie junge Muslime in seiner Nachbarschaft eine jüdische Frau zusammenschlugen und dass anti-jüdische Beschimpfungen in seinem Freundeskreis und unter anderen Jugendlichen verbreitet sind. Seine Gedanken dazu beschrieb er wie folgt: „Mir ist das egal, also, das geht mir ehrlicherweise auf deutsch gesagt am Arsch vorbei, ok, das finde ich nicht richtig, aber es interessiert mich nicht, bin ich ein Jude? Nein. Na also. Das ist mir egal, das ist auch nicht so ernst gemeint, also man sagt das einfach so ‚Du Jude’, zum Ärgern, aber das interessiert mich nicht“ (Fatin aus Berlin)
Ismail war Zeuge eines Angriffs auf einen Holocaust-Überlebenden, der seine Schule in Berlin-Kreuzberg besuchte. Einige seiner Freunde waren daran beteiligt. Seinem „neutralen“ Bericht fehlt eine Verurteilung dieses schockierenden Vorfalls. Abdullah mit libanesischem Hintergrund gab an, dass er seine feindlichen Einstellungen gegenüber Juden in Gewalt gegen Juden in Berlin umsetzen würde. „Er betrachtet das Verprügeln eines Juden in Berlin als einen Beitrag zur Lösung des Nahostkonflikts“.
In Jabars Bericht eines gewalttätigen Angriffs auf einen Pariser Rabbiner stellt dieser das Opfer als Täter dar und verharmlost oder billigt gar die antisemitische Gewalttat. „Bemerkenswerterweise führte er den Vorfall als ein Beispiel für Rassismus an, den er und Menschen mit ähnlichen Hintergründen erleiden müssen.“
Jikeli dokumentiert auch die Zustimmung zum Holocaust, zum Beispiel Saibal, der südasiatischer Herkunft ist und in London lebt:
Saibal: Hitler war ein super Typ.
Interviewer: Warum?
Saibal: Er hat all die Juden ermordet.
Der Begriff „Jude“ wird negativ konnotiert und „Jude“ wird als Schimpfwort benutzt. Der Hass auf das Jüdische an sich kann auch zu offener Zustimmung zu Gewalt gegen „die Juden“ und gegen einzelne Juden heute in der Nachbarschaft oder auch gegen Juden in der Vergangenheit und während des Holocausts führen.
„Die Verbindungen zu anderen Argumentationsmustern für negative Einstellung gegenüber Juden, wie Verschwörungstheorien, Bezüge zu Israel oder zu ethnischen oder religiösen Identität, weisen darauf hin, dass letztere lediglich weniger offensichtlich irrational und widersprüchlich sein. Eine genaue Untersuchung der Argumentationen für anti-jüdische Einstellungen legt deren „Kern der Unwahrheit“ und deren Irrationalität offen.“
Der Autor stellt fest, es gebe „keine eindeutige Verbindung zwischen Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen und antisemitischen Einstellungen.“ Die Analyse der Argumentationen der Interviewpartner, in denen die Diskriminierung und Ansichten zu Juden auf vielfältige Weise miteinander verknüpft werden, zeigt teilweise widersprüchliche Ergebnisse. „Einige Wahrnehmungen von Diskriminierung jedoch, wie die eines globalen Krieges gegen „die Muslime“ oder gegen „den Islam“, schliessen Verschwörungstheorien ein, die antisemitisch sind.“ Jikeli kommt zum Schluss, dass die antisemitischen Argumentationsmuster inkohärent sind, „wobei sich diejenigen, die sie verwenden, in der Regel nicht an den Widersprüchen und Lücken ihrer eigenen Argumentationen stören.“ Das überrascht überhaupt nicht. Denn wir müssen dafür ausserhalb der kognitiven Wahrnehmung die Gründe dafür finden, welches Vergnügen und welchen emotionalen Gewinn der Antisemitismus seinen Anhängern verschafft.
Und das betrifft natürlich nicht nur die grosse Mehrheit der von Jikeli befragten Personen.
Man muss erlebt haben, mit welchem Vergnügen sich als „links“ definierende Menschen Juden mit Nazis vergleichen, oder Mitleid simulieren, wenn sie sich über den angeblichen Fakt beklagen, dass doch die Juden selbst für den Hass gegen sie verantwortlich sind und dieser insbesondere von Israel und seinen zionistischen Unterstützern verursacht wird. Sie begeistern sich buchstäblich, wenn sie mir erklären, „die Juden hätten nichts aus dem Holocaust gelernt“, als ob der Massenmord ein pädagogisches Experiment gewesen wäre und als ob sie selbst etwas daraus gelernt hätten. Wie andere Formen des Rassismus liefert der Antisemitismus auch eine Vielfalt von Befriedigung für seine Anhänger. Wenn also, der Wiener Gemeinderat vor ein paar Jahren bereit war sofort und einstimmig – ohne die relevanten Fakten zu kennen – den Staat Israel zu verurteilen, dann hat das wirklich nichts mit dem realen Konflikt zu tun, sondern damit, dass Israel ein jüdischer Staat ist. Anders ist dieser Beschluss nicht zu erklären.
Doch kehren wir nach diesem Exkurs zurück zum Problem, dass ein verhältnismässig hoher Prozentsatz der muslimischen Jugendlichen antijüdisch eingestellt ist. Auf diesem Gebiet hat die islamische Glaubensgemeinschaft eine Bringschuld. Während die IKG gegen jede Hetze und Diskriminierung – selbstverständlich auch gegen diejenige, die gegen Muslime gerichtet ist – protestiert, wird von Funktionären der islamischen Gemeinde der Nahostkonflikt gelegentlich dazu benützt, den Hass noch aufzuschaukeln.
Günther Jikeli, dokumentiert den real existierenden Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen und liefert allen Material, die sich mit diesem auseinandersetzen wollen oder zumindest beschäftigen sollten.
Anmerkungen:
1 Günther Jikeli: Antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen junger Muslime in Europa / Ergebnisse einer Studie unter jungen muslimischen Männern. Klartext Verlag, Essen, erste Auflage Juni 2012.
2http://buecher.hagalil.com/2013/04/psychologie-gesellschaftskritik/
3 Arno Tausch: Armut und Radikalität? Soziologische Perspektiven zur Integration der Muslime in Europa basierend auf dem „World Values Survey“ und dem „European Social Survey“, Europäischer Hochschulverlag, 1 Auflage 2010, 388 Seiten.