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Von Wien - Landstrasse über Shanghai nach Sydney

Alfred GERSTL

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Lebhaft vermittelt sie ihre Erinnerungen, dabei strahlt sie eine unglaubliche Vitalität aus, zwischendurch blitzt Schalk, aber auch das eine oder andere Mal tiefe Trauer durch, wenn sie ihre Lebensgeschichte in einem gepflegten Deutsch erzählt, das immer noch ihren Wiener Hintergrund verrät – so begegnet einem die heute 83-jährige Gertrude ("Gerty") Jellinek. Ein Gespräch mit einer eindrucksvollen Persönlichkeit, die dem Autor noch lange Zeit in allerbester Erinnerung bleiben wird.

 

Vom dritten Wiener Gemeindebezirk über Schanghai nach Sydney: Einmal wöchentlich erzählt Gerty Jellinek als Volunteer Schülerinnen und Schülern im Jewish Museum Sydney ihre Lebensgeschichte.

Das Schicksal in Form des Nationalsozialismus führte Gerty Jellinek vom dritten Wiener Gemeindebezirk über Schanghai nach Sydney. Seit mehreren Jahren erzählt die vitale 83-Jährige jeden Freitag vormittags australischen Schülerinnen und Schülern im kleinen, aber feinen Jewish Museum Sydney als eine von zahlreichen europäischen Volunteers ihre Lebensgeschichte. An einem schulfreien Freitag im Oktober 2007 fand sie Zeit für ein Gespräch mit DAVID.

Gerty Jellinek entstammt einem kleinbürgerlichen Milieu, die Eltern waren assimilierte, gläubige, aber nicht orthodoxe Juden. Sie hätten "die Religion im Herzen getragen", meint Gerty. Die Familie Jellinek – Gerty hatte noch einen Bruder – ging regelmäßig zum Gottesdienst, wobei die Mutter begierig war, möglichst alle Synagogen in Wien zu besuchen, weshalb man praktisch jeden Schabbes in einem anderen Gotteshaus betete. Darunter auch in den Sofiensäle im dritten Bezirk, welche die israelitische Kultusgemeinde häufig zu den hohen Feiertagen angemietet hatte, wie Gerty berichtet. Wie vielen Assimilierten blieben den Jellineks die in der Leopoldstadt lebenden sogenannten Ostjuden immer fremd.

Mit dem „Anschluss" veränderte sich die Welt der Jellineks von einem Tag auf den anderen. Lebhaft erinnert sich Gerty daran, wie ihre Schulkameradinnen unmittelbar nach dem „Anschluss" in Tränen ausbrachen, weil ihnen ihre Eltern verboten hatten, mit ihren jüdischen Freundinnen zu spielen. Mit großer Abgeklärtheit entgegnete Gerty ihnen: "Du warst eine gute Freundin – aber jetzt musst Du tun, was Dir Deine Eltern sagen!" An antisemitische Vorfälle in ihrer Schule vor dem „Anschluss" erinnert sie sich nicht.

Ihr Vater war zwar ein bewusster Österreicher und stolz darauf, im Ersten Weltkrieg als Frontsoldat gedient zu haben; unmittelbar nach dem „Anschluss" aber wollte auch er nur noch auswandern – und zwar um der Zukunft der Kinder wegen. So hörte er sich eines Abends einen Vortrag über Australien an, doch zur damaligen Zeit war Amerika sein Traumziel.

In der „Kristallnacht" wurde ihr Vater verhaftet, aber nach zehn Tagen wieder freigelassen, da die Konzentrationslager zur damaligen Zeit überfüllt waren. Doch die Erfahrungen in der Lagerhaft hatten ihn, einen mehr intellektuellen als praktischen Menschen, gebrochen und ihm den Lebensmut genommen. Von da an war es die Mutter, die "immer schon die Starke gewesen" ist und die die Dinge in die Hand nehmen musste – so auch die Flucht nach Schanghai.

Das Schanghaier Ghetto

Nachdem die europäischen Großmächte China in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus politischen und handelspolitischen Gründen gewaltsam dazu gezwungen hatte, sich der Welt zu öffnen, ließen sich zahlreiche Europäer in Schanghai nieder. Die Stadt entwickelte sich zu einem internationalen, multinationalen, multikulturellen und wohlhabenden Handelszentrum, in dem sich die europäischen Gemeinschaften selbst verwalteten. So verfügten sie über eine eigene Rechtssprechung und einen eigenen Ordnungsdienst – Privilegien, die sie selbst nach der Ausrufung der Republik behielten.

Hatten sich bis Anfang der 1930er Jahre nur einige hundert Juden in Schanghai niedergelassen, so strömten nach der Verschärfung der Judengesetze in Deutschland, und erst recht nach dem „Anschluss", circa 20.000 deutsche und österreichische Juden in die Stadt: Schanghai verlangte nämlich keine Visa, ja nicht einmal einen Pass für die Einreise. Erst nach dem Angriff auf Pearl Harbour 1941 war die Einwanderung für Juden nahezu unmöglich geworden. Die meisten Neuankömmlinge siedelten sich im Stadtteil Hongkou an. Kontakt zu den bereits bestehenden jüdischen Gemeinden in der Metropole hatten sie kaum – die kulturellen Unterschiede waren ebenso unüberwindlich wie die materiellen.

Die "traditionellen" jüdischen Einwohner Schanghais verkörperten keine homogene Gruppe (vgl. dazu den Beitrag von Urs Schoettli in DAVID Heft 70, September 2006). Nach 1850 waren einige hundert sephardische Juden eingewandert, meist aus Bagdad via Hongkong kommend, die es dank ihrer internationalen Handelskontakte zu erheblichem Wohlstand brachten. Reich, aber nicht ganz so vermögend war die Gruppe von circa 5.000 russischen Juden, die aufgrund der kommunistischen Revolution aus Russland zuerst in die chinesische Hafenstadt Harbin geflohen waren, sich nach dem japanischen Vormarsch aber im sichereren Schanghai niederließen.

Soziale Kontakte zwischen diesen beiden Gruppen und den Emigranten aus Europa gab es kaum, doch die Wohltätigkeitstradition war auch den russischen Juden nicht fremd, und so halfen sie ihren europäischen Glaubensbrüdern immer wieder mit Spenden aus. Auch wohltätige amerikanische Organisationen, sowohl mit jüdischem als auch christlichem Hintergrund, unterstützten die hauptsächlich aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei, später Polen und dem Baltikum eingewanderten Juden.

Um das Heimweh etwas zu lindern, errichteten die österreichischen und deutschen Juden in Schanghai ihr Little Vienna oder Little Berlin, wo sie heimische Kultur lebten, nicht zuletzt in den Kaffeehäusern. Auch erschienen zu dieser Zeit Zeitungen in jiddischer, deutscher und polnischer Sprache.

1941 besetzten die Japaner, die bereits die Mandschurei und weite Teile Ostasiens kontrollierten, die Stadt – ohne einen einzigen Schuss abgeben zu müssen. Obwohl sie Alliierte der Deutschen waren, widersetzten sie sich Berlins Plänen, entweder KZs für die Schanghaier Juden einzurichten oder diese auf eine dem Untergang geweihte Schiffsreise zu schicken. Dem deutschen Gesandten, Oberst Josef Meisinger, der 1942 in Schanghai eintraf gegenüber zeigte sich das zuständige japanische Militär verwirrt: Gestern noch waren die Flüchtlinge Deutsche, Österreicher, Italiener – heute sollten sie alle einfach Juden sein?

Mit der nazideutschen Rassenpolitik konnten die Japaner nichts anfangen. Da sie die Juden nicht als Feinde betrachteten, sich dem Verbündeten Berlin aber doch verpflichtet fühlten, ergriffen sie Kontrollmaßnahmen gegenüber den jüdischen Flüchtlingen, wie auch gegenüber Amerikanern, Franzosen oder Briten.

Gerty erinnert sich heute noch lebhaft daran, wie alle Schanghaier Juden in das neu errichtete Ghetto einziehen mussten. Einst wohlhabende Familien gaben ein Vermögen aus, um eine große Wohnung im heillos überfüllten Ghetto mieten zu können. Es gab zwar keine Mauern, aber ein teils aus jungen jüdischen Männern bestehender Wachdienst kontrollierte die Passierscheine, die man vorweisen musste, um das Ghetto zu verlassen, etwa um die Arbeitsstätte in der eigentlichen Stadt zu erreichen. Einigen, so erinnert sich Gerty, stieg diese Macht zu Kopfe, und so wurden viele Passierscheine mutwillig verteilt oder verweigert.

Dank finanzieller Unterstützung durch ihre Verwandten konnte sich die Familie Jellinek schon kurz nach ihrer Ankunft ein kleines Zimmer leisten, das als Schlaf-, Wohn- und Kochraum in einem dienen musste. Andere waren weniger glücklich; sie lebten während ihrer gesamten Zeit in Schanghai in provisorischen Unterkünften, die jeweils etwa 40 Personen ein Dach über dem Kopf boten. Lediglich Leintücher, über die Stockbetten gestülpt, verschafften hier ein Minimum an Privatsphäre.

Die Jellineks hatten großes Glück gehabt, vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nach Schanghai abgereist zu sein. Anfang August 1939 hatte die Familie Wien verlassen, 14 Tage lang hielt sie sich in Genua auf, wo sie sich am 16. August 1939 einschiffte. Auf der Reise englische Häfen meidend, da sich an Bord von den Briten als Feinde betrachtete Flüchtlinge aus Österreich und Deutschland befanden, traf das Schiff am 12. September 1939 in Schanghai ein.

Für die nächsten neuneinhalb Jahre sollte die Hafenstadt das Zuhause der Familie Jellinek sein. Gerty lernte hier nicht nur die englische Sprache – sondern sie lernte auch ihren späteren Ehemann Willy, einen Schneider und begeisterten Sportler, kennen. Sie fand rasch Aushilfsarbeiten, wusste sie doch schon als Jugendliche, wie wichtig es war, in diesen schwierigen Zeiten die Familie finanziell zu unterstützen. Speziell galt dies nach dem Tod des Vaters 1943.

Während des Krieges konnten die jüdischen Flüchtlinge nur die japanischen Propagandasender empfangen. Zwar hatten einige russisch-stämmige Juden Zugang zu Informationen aus Moskau, doch ihren Berichten über den Kriegsverlauf und die Judenverfolgung wurde nicht geglaubt. Nachrichten über den Holocaust trafen die Schanghaier Juden somit wie ein Schock. Verzweifelt versuchten sie nach der Befreiung durch die Amerikaner Anfang September 1945 über das Rote Kreuz herauszufinden, ob ihre Verwandten die Judenvernichtung überlebt hatten.

Die Amerikaner gaben den Juden in Schanghai nicht nur ihre Bewegungsfreiheit zurück, sondern verschafften ihnen auch Arbeit, brachte die Armee doch amerikanische Institutionen wie Supermärkte oder Restaurants mit. Die Emigranten konnten sich hier als Personal verdingen. Gerty kamen ihre Englischkenntnisse jetzt zugute, und sie fand einen Job als Kassiererin.

Von ihrem ersten Gehalt wollte sie sich sogleich etwas kaufen, was sie sich so lange Zeit nicht leisten konnte bzw. das während der Ghetto-Zeit nicht erhältlich gewesen war: Lippenstift und Parfum. Doch ihre Mutter verbot dies: Von ihrem zweiten Lohn könne sie sich diese Sachen kaufen; wichtiger sei jetzt für sie, für die Aussteuer zu sorgen. Also kaufte Gerty Leintücher und schönes Geschirr, das ihr dann noch viele Jahre lang gute Dienste leisten sollte. Der zweite Lohn reichte dann tatsächlich für die schönen Dinge des Lebens.

Doch die Amerikaner hatten der jüdischen Gemeinde nicht nur die Aussicht auf ein regelmäßiges Einkommen gegeben; viel wichtiger war für Gerty, dass die Amerikaner sie als Menschen behandelten. Wohl auch deshalb wäre die Familie damals lieber nach Amerika ausgewandert. Doch während die Amerikaner nach dem Krieg für deutsche Juden eine großzügige Einwanderungsquote festgelegt hatten, so war es für österreichische sehr schwierig, in die USA zu emigrieren. Eine Rückkehr nach Österreich kam für Gerty ebenso wenig in Betracht wie eine Auswanderung nach Palästina. Es sollte ein englischsprachiges Land sein, und wirklich, 1949 öffneten sich dank der guten Kontakte ihres Mannes für Gerty, ihre Mutter und ihren Bruder das Tor nach Australien.

Neue Heimat Sydney

Es war nicht das gelobte Land, in dem Gerty im Februar 1949 mit ihrer Familie eintraf. Selbst Sydney war damals nicht jene weltoffene, multiethnische und multikulturelle Metropole, die es heute darstellt. Man habe sich an das Leben hier, fern von Europa, erst anpassen müssen – was jedoch gelang. Dabei war sicherlich hilfreich, dass die Jellineks in einem Viertel in Bronte lebten, in dem sehr viele Freunde und Bekannte aus der chinesischen Emigration wohnten, die sogenannte Shanghai Community. Nach vier Jahren erhielten die Jellineks die australische Staatsbürgerschaft.

Insgesamt spricht Gerty sehr positiv über Australien, ja selbst an die schwierigen ersten Jahre in Sydney erinnert sie sich gerne. Da sie damals ein Baby erwartete, wurde sie von ihrem Mann und ihrer Mutter nach der Ankunft fürsorglich umsorgt: "Ich war die Madam!" – und dabei blitzt es in ihren Augen schalkhaft-fröhlich auf. Und das nicht zum ersten Mal in diesem Gespräch.

Nicht zum ersten Mal merkt man ihr aber auch Trauer an, wenn sie auf die leidvolleren Passagen in ihrem Leben zurückblickt – speziell, wenn sie sich an ihren vor elf Jahren verstorbenen Mann erinnert oder an ihren Bruder, der vor sieben Jahren verstarb. Deutlich spürbar sind dafür Freude und Stolz, wenn sie über ihre zweisprachig erzogene Tochter Irene, eine Mittelschullehrerin für Deutsch, und ihr Enkelkind spricht. So etwas wie Genugtuung hört man, wenn sie erzählt, dass – auch wenn "es lange gedauert hat" – sie und ihr Mann von der Republik Österreich eine finanzielle Wiedergutmachung für ihre Zeit im Schanghaier Ghetto erhalten haben.

1990 besuchte Gerty zum ersten Mal nach 1939 wieder Wien. Dabei traf sie auch zum ersten Mal mit ihrer Cousine zusammen, ihrer einzigen noch in Wien lebenden Verwandten. Deren Vater, der Bruder von Gertys Mutter, war mit einer Katholikin verheiratet gewesen; er konnte sich während der Nazi-Herrschaft verstecken. Die beiden Schwestern der Mutter kamen im Holocaust um.

2002 folgte Gerty einer offiziellen Einladung nach Wien, und 2004 reiste sie gemeinsam mit ihrer Familie nach Schanghai, das sich seit den 1940er Jahren aber extrem verändert hat. Im Mai 2008 wird sie, gemeinsam mit ihrer Tochter, erneut als Ehrengast der Gemeinde Wien in die alte Heimat kommen, um im Rahmen des Projektes "A Letter to the Stars" als eine von 250 Zeitzeugen an verschiedenen heimischen Schulen aus ihrem Leben zu berichten. Auf den Besuch in einer Schule in Niederösterreich freut sie sich besonders, haben sie doch einige Schülerinnen in einem bewegenden Brief nach ihren Erlebnissen seit den Dreissiger Jahren gefragt.

Gerty Jellineks Erinnerungen an ihre Jugend in Österreich sind naturgemäß zwiespältig, doch heute scheint es so, als ob sie sich mit ihrer alten Heimat ausgesöhnt hätte.