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Linksradikalismus in Israel

Stephan GRIGAT

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Teil 1

Die Verteidigung gegenüber dem Antisemitismus ist der vorrangige Zweck des israelischen Staates. Der im bürgerlichen Sinne revolutionäre Charakter Israels liegt in seinem zionistischen Charakter begründet, wenn man unter Zionismus insbesondere die Funktion der israelischen Staatlichkeit für den Schutz aller Juden und Jüdinnen vor Verfolgung versteht. Diese Funktion drückt sich im von Staats wegen verbrieften Recht auf Rückkehr aus, im Rückkehrgesetz von 1950. Genau gegen diesen revolutionären Charakter der israelischen Staatlichkeit richten sich die Bestrebungen der meisten der sogenannten Post- oder Nicht- oder Antizionisten in Israel. Darin dürfte der Grund für die europäische Begeisterung für eben diese Post-, Nicht- oder Antizionisten liegen. Sie bedienen das deutsch-europäische Bedürfnis nach legitimer, weil von jüdischen Israelis vorgetragener Israelkritik. Zugleich werden die gewaltsamen Aspekte der eigenen Staaten verdrängt und auf Israel projiziert. Die „Initiative Sozialistisches Forum" schreibt diesbezüglich ganz treffend: „Blind für ihr eigenes Gewordensein muss das an Israel denunziert werden, worin die bürgerlichen Gesellschaften an ihre Robespierres, Franklins und Lenins gemahnt werden könnten. Weil die Konstitution Israels nicht abgeschlossen ist (…) erscheinen seine Staatsmänner als Barbaren, wo sie doch nur Vollstrecker nachgeholter bürgerlicher Revolutionierung sind, und deswegen gilt Ariel Scharon als Ausbund der Hölle, während er doch nur in die Fußstapfen eines israelischen Lenin, eines zionistischen Robespierre, eines jüdischen Benjamin Franklin tritt."1

Diese Analogien lassen sich fortführen. Begreift man Israel als die bürgerliche Emanzipationsgewalt von Juden und Jüdinnen, ist es nahezu unmöglich, die Begriffe links und rechts in dem Sinne auf die israelische Gesellschaft anzuwenden, wie es heute gemeinhin getan wird. Wenn man Israel als revolutionäre Emanzipationsgewalt und als Antwort auf den Vernichtungsantisemitismus begreift, dreht sich das Verhältnis von links und rechts geradezu um. In bisherigen Revolutionen galten stets jene als links, die eine konsequente Verteidigung der revolutionären Errungenschaften propagiert und praktiziert haben - eine Verteidigung, die aus leidvoller Erfahrung auch den präventiven Angriff mit einschloß. Rechts hingegen, das waren in revolutionären Situationen immer die Reformisten, die Kompromißler und die Verhandlungsbereiten.

In Israel und in der Wahrnehmung Israels ist das bekanntlich genau anders herum. Als links gilt, wer auf Verhandlungen und Kompromisse aus ist, im Gegenüber stets einen möglichen Partner sieht und die eigenen Ziele gerne zugunsten eines Ausgleichs relativiert. Als rechts hingegen gilt, wer meint, man solle sich keinen Illusionen hingeben, Kompromisse seien stets faul, man müsse auf die eigene Stärke vertrauen und sich militant zur Wehr setzen - und zwar auch und gerade präventiv. Mit Hinblick auf den revolutionären Charakter der israelischen Staatlichkeit wären solche Hardliner in diesen Fragen (von Wirtschafts- und Sozialpolitik, Homophobie, Familienpolitik, nationalreligiös motivierter Expansion und Migrationsregime ist hier wohlgemerkt nicht die Rede) waschechte Linksradikale.

Vor dem Hintergrund einer materialistischen Staatskritik und im Bewußtsein der Besonderheiten der israelischen Souveränität stellt sich die Frage, was es bedeutet, im Staat der Shoah-Überlebenden radikale Staats- und Kapitalkritik zu formulieren. Radikale Linke befinden sich in Israel offensichtlich in einem Dilemma, das aber nur den wenigsten bewußt zu sein scheint. Der Normalzustand sollte sein, daß man sich als Staatskritiker gegen die Ideologie zur Wehr setzt, der Staat seien ‘wir alle’, und die Anmaßung des Souveräns zurückweist, einem, da man nun einmal lebt, auch noch ein ‘Recht auf Leben’ zuzuweisen, mit dem die staatliche Gewalt stets demonstriert, daß sie dieses Recht jederzeit auch entziehen oder relativieren kann. Abstrakt trifft das auf Israel ebenso zu; Israel aber ist nicht ‘normal’, ist kein ‘Staat wie jeder andere auch’, sondern die bürgerliche Emanzipationsgewalt von Juden und Jüdinnen, ein bewaffnetes Kollektiv zur Abwehr des antisemitischen Terrors. Insofern ist seine Existenz, auch wenn dieses scheinbare Paradox nur wenige in der radikalen Linken wahrhaben möchten, die Bedingung für radikale Kritik an Staat und Kapital. Nachdem die politische Emanzipation der Juden und Jüdinnen in den mehrheitlich nichtjüdischen Gesellschaften nicht möglich war, ist der Zionismus die zwangsweise seperatistische Verwirklichung dieser politischen Emanzipation, die Marx schon in seiner Frühschrift Zur Judenfrage als Voraussetzung der allgemeinen Emanzipation charakterisiert hat.2

Materialistische Kritik muß sich einen Begriff vom Staat im Allgemeinen machen; dennoch kann die Staatskritik nicht von den jeweils unterschiedlichen Ausprägungen und Zwecksetzungen staatlicher Herrschaft und Verwaltung abstrahieren. Es macht einen Unterschied, ob man Staatskritik in einem Staat formuliert, dessen vorrangige Aufgabe es ist, den "objektiven Zwangscharakter der Reproduktion"3 zu garantieren, oder aber ob man Kritik der Politik in einem Staat betreibt, dessen allererster Zweck es ist, die Vernichtung zu verhindern. Alles, was der israelische Staat in Ausübung seiner Funktion als ideeller Gesamtkapitalist, als kollektiver Organisator widerstrebender Interessen, als Herrschafts- und Gewaltinstanz gegenüber seinen Untertanen, als Moderator der Ressentiments seiner Bürger und Repressionsapparat gegenüber den auf seinem Territorium lebenden Nichtbürgern, als Organisator der demokratischen Legitimation seiner Machtausübung und Ideologe des Allgemeinwohls tätigt, alles also, was dem Materialismus Anlaß und Grund für Kritik liefert, ist in Israel auf diese Funktion rückbezogen, die außerhalb jeder Kritik steht und dem Materialismus Anlaß und Grund für emphatische Parteilichkeit ist.

Teil 2

Die antizionistische Linke in Israel stellt die Legitimation des Staates grundsätzlich in Frage. Die Mehrheit der israelischen Linken hat jedoch stets versucht, Zionismus und Sozialismus miteinander zu verbinden. Ihre Vordenker waren Leute wie Nachman Syrkin, der vom jüdischen Proletariat als den „Sklaven der Sklaven" und als „Proletariat des Proletariats" sprach.4 Die historischen Führer des sozialistischen und links-sozialistischen Zionismus konnten, wie etwa Ber Borochov, noch die Hoffnung formulieren, daß die jüdischen und arabischen Arbeiter sich gemeinsam gegen ihre Ausbeutung wehren würden und so mittels Klassensolidarität die kulturellen Unterschiede überbrücken könnten. Der linkssozialistische HaShomer HaZair oder auch Brith Shalom traten noch in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts für einen bi-nationalen Staat ein. Zum einen sieht man daran, daß diese Linke von einem starken Idealismus geprägt war, wohingegen sich die Rechten um den zionistischen Revisionisten Wladimir Jabotinsky völlig im Klaren darüber waren, daß das jüdische Staatsgründungsprojekt zwangsläufig zur Konfrontation mit der arabischen Bevölkerung führen muß. Zum anderen sieht man hier, daß in dieser Frühphase nach heutigem Verständnis nicht-zionistische Elemente noch Bestandteil der zionistischen Bewegung waren, wohingegen in der gegenwärtigen israelischen Gesellschaft die Trennung zwischen zionistischer und antizionistischer Linker recht eindeutig ist.

Zwischen der antizionistischen und der zionistischen Linken kommt es in Israel immer wieder zu Konflikten. 2003 waren Reservisten, die zwar den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern, aber jederzeit bereit sind, das Land gegen Angriffe militärisch zu verteidigen, und das mittels der israelischen Fahne auf ihren T-Shirts auch deutlich machen, auf Demonstrationen mit antizionistischen Sprechchören konfrontiert. Anarchokommunisten, vornehmlich aus Haifa, fanden es bei der großen Friedensdemonstration vom 15. Mai 2004 angebracht, die Nationalhymne Hatikva durch den Slogan "Zionismus ist Rassismus" zu stören, und auf der 1. Mai-Demonstration 2004 kam es in Tel Aviv aus dem gleichen Anlaß zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Ordnern von Ha’noar Ha’oved Veha’lomed, der Jugendorganisation der Arbeitspartei, und Anarchisten aus dem Umfeld des autonomen Infoladens Salon Mazal.

Daß solche Kundgebungen stets mit der Hatikva beendet werden liegt daran, daß es der zionistischen Linken in Israel im Gegensatz zu der Mehrheit ihrer europäischen Fangemeinde um die Sicherung des Bestandes ihres Staates geht. Dem durchschnittlichen Linksradikalen sind Nationalhymnen, einschließlich der Hatikva, natürlich ein Graus. Man kann und will nicht sehen, daß die israelische Nation und damit zwangsläufig auch der israelische Nationalismus von anderem Charakter sind als jede andere Nation und jeder andere Nationalismus.

Die selbst noch im Nationalismus der israelischen Rechten gegenwärtigen Unterschiede zum Normalfall nationaler Vergesellschaftung will die Mehrzahl der radikalen Linken in Israel nicht sehen oder nicht gelten lassen. Repräsentativ für den israelischen, mit dem Antiimperialismus Lenins sowie dem Antikolonialismus Frantz Fanons und Aime Césaires ausgestatteten Linksradikalismus ist die mittlerweile aufgelöste „Sozialistische Organisation Israels", die fast nur unter dem Namen ihrer Monatszeitung Matzpen (Kompaß) bekannt war. Einige ihrer ehemals führenden Mitglieder wie Michael Warschawski arbeiten heute im Alternative Information Centre in Jerusalem. Warschawski charakterisiert das Programm der Matzpen wie folgt: "Die Organisation schlug eine radikale Kritik des Zionismus vor: im Gegensatz zur traditionellen Linie der Kommunistischen Partei Israels verstand sie den Krieg von 1948 als ethnische Säuberungsaktion, nicht als nationalen Befreiungskrieg; sie setzte sich für die (…) ‘Dezionisierung’ Israels (…) ein".6

Der grundsätzlichen Ablehung des Zionismus steht die Idealisierung des palästinensischen Nationalismus gegenüber, mit der die israelischen Linksradikalen stets auch der zaghaften und völlig marginalisierten Kritik am Antisemitismus innerhalb der palästinensischen Gesellschaft in den Rücken fallen. Zuletzt hat einer der ehemaligen Helden der grundsätzlichen Kritiker des israelischen Staatsgründungsprogramms nachdrücklich auf die Verklärung der nationalen Bestrebungen der Palästinenser hingewiesen: Benny Morris. Es war dieser frühe Kritiker der zionistischen Gründungsmythen, der darauf hinwies, daß sich nicht nur viele europäische Beobachter, sondern auch die radikalen Linken in Israel oft weigern, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Kampf der Palästinenser sich nicht allein gegen die Besatzung in der Westbank und im Gazastreifen richtet, sondern fast immer auch gegen das israelische Existenzrecht und gegen all jene Ausprägungen von menschlichem Dasein, die den religiösen und nationalistischen Jihadisten als Ausgeburt des ‘westlichen Satanismus’ gelten.7

Die radikale israelische Linke hat in der einen oder anderen Form die Unterstützung für oder die Sympathie mit dem Kampf der Palästinenser zum Inhalt. Zentrales Element dieses Kampfes gegen Israel waren aber immer auch gar nicht emanzipatorische Anwandlungen wie beispielsweise der Haß auf Ausschweifungen und Freizügigkeit. Dieser Tugendterror begleitet den Kampf der Palästinenser nicht erst seit der sogenannten Al-Aqusa-Intifada, sondern war schon in der ersten Intifada Ende der achtziger Jahre integraler Bestandteil des Aufstands. Der Kampf gegen die Israelis bedeutete auch damals schon, daß alle, die für die Gesellschaft als schädlich betrachtet wurden, ausgegrenzt und verfolgt wurden; zum Beispiel alle, die Alkohol trinken und Haschisch rauchen. Es ging um eine Erneuerung der ‘traditionellen und religiösen Werte’. Die ausgesprochen propalästinensische Autorin Lätitia Bucaille bemerkt dazu ganz richtig: „In diesem Punkt treffen sich die nationalistischen und die islamistischen Bewegungen."8 Die Islamisierung der palästinensischen Gesellschaft hat bereits während der ersten Intifada begonnen. Diese Entwicklung hat in der zweiten Intifada ihren sinnbildlichen Ausdruck in der Übernahme, zum Teil in der Wiederaufnahme der sowohl auf Massenmord als auch auf Demonstration der eigenen Opferbereitschaft abzielenden Selbstmordattentate durch die zuvor säkularen Organisationen geführt.

Hinweise auf Derartiges gelten in der radikalen Linken in Israel bestenfalls als Ablenkung vom Wesentlichen. Gespräche mit israelischen Linksradikalen über den Konflikt mit den Palästinensern nehmen stets einen ähnlichen Verlauf. Der Konflikt ist zwar das alles beherrschende Thema, aber der Antisemitismus in den arabischen Gesellschaften wird weitgehend ignoriert. Spricht man Aktivisten darauf an, sei es aus dem autonom-anarchistischen, sei es aus dem marxistisch-leninistischen Milieu, kann man in der Regel das gleiche Reaktionsmuster beobachten. Anfänglich wird die Existenz eines Antisemitismus schlicht geleugnet. Gib man sich damit nicht zufrieden, so wird er verharmlost, mit dem Hinweis auf die Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern rationalisiert oder im Vergleich mit dem antiarabischen Rassismus in Israel relativiert. Am häufigsten wird er mit dem Hinweis auf die Besatzung entschuldigt, wobei man sich fragt, was dann der Grund für den arabischen Antisemitismus vor 1967 war, als es die israelische Besatzung im Gaza-Streifen und im Westjordanland noch nicht gab. Nicht selten geben jedoch dieselben Leute nach einiger Zeit zu, daß der palästinensische Judenhaß ein zunehmendes Problem ist, nur könne es für eine radikale Linke kein Thema sein, da der Antisemitismus stets vom "zionistischen Establishment" instrumentalisiert werde. So ist es nur zu verständlich, daß der antisemitische, auf Vernichtung zielende Charakter der Selbstmordattentate in der radikalen Linken gar nicht zum Thema werden kann. Bestenfalls lehnt man, wie etwa Ilan Pappe, Politikwissenschaftler an der Universität Haifa, der den jüdisch-israelischen Diskurs über Araber für den "real anti-Semitism" hält,9 das Suicide bombing aus militärtaktischen und politischen Gründen ab und empfiehlt statt dessen, Israel einer ähnlichen internationalen Ächtung auszusetzen wie einst das rassistische Südafrika.10

Die Verharmlosung und Leugnung des palästinensischen Antisemitismus kennt kaum Grenzen. Am Global Action Day im September 2004 konnte man auf einer Kundgebung vor der amerikanischen Botschaft in Tel Aviv Anarchisten treffen, die darüber Auskunft gaben, daß sie auch gemeinsam mit der Hamas demonstrierten. Das würde man zwar nicht gerne machen, aber sonst könne man innerhalb der palästinensischen Gebiete ja gar nicht mehr demonstrieren. Die Hamas sei auch nur zu „einem sehr kleinen Teil" eine terroristische Organisation, sie sei „vor allem" eine Wohlfahrtsorganisation, viele ihrer Unterstützer würden keine Selbstmordanschläge gutheißen, die im übrigen nur aus Verzweiflung heraus passieren würden. Die Islamisten seien "eigentlich keine Antisemiten". Und falls doch - der Antisemitismus richte sich ja auch gegen Araber, die schließlich auch "Semiten" seien. Auch der Antisemitismus vor 1948 sei bereits eine Reaktion auf das zionistische Projekt und daher verständlich, wenn nicht sogar legitim gewesen. Selbst das Massaker von 1929, dem in Hebron die nicht-zionistische, mehrheitlich orthodox-religiöse jüdische Gemeinde zum Opfer fiel, war in den Augen dieser Menschenfreunde nicht „einfach Antisemitismus", sondern Protest gegen die "zionistischen Kolonialbestrebungen".

Teil 3

Die israelische Linke hatte und hat Anteil an dem Unsinn, den die Linke weltweit im Hinblick auf das Verständnis von Kapitalismus und Nationalsozialismus, von Antisemitismus und von den Vorstellungen einer befreiten Gesellschaft verzapft hat - auch, wenn all das in Israel unter anderen Bedingungen und in einem anderen Kontext stattgefunden hat als in anderen Ländern.

Die zionistische Linke war so arbeitsfetischistisch wie kaum eine andere. Liest man die Haßtiraden der arbeitsamen Kibbutzim auf die verweichlichten, nur dem Handel und dem Vergnügen fröhnenden Stadtmenschen in Tel Aviv, so sind die Parallelen zum stalinistischen Arbeitskult und seinen ressentimenthaften Implikationen ebenso deutlich wie in der Bildsprache des Arbeiterzionismus, der - allerdings keineswegs allein aus ideologischen Gründen, sondern aus Gründen äußeren Zwangs, angesichts der Notwendigkeit, in einer feindlichen Umwelt eine funktionsfähige Ökonomie plus staatlicher Verwaltung hinzubekommen - das antisemitische Bild vom jüdischen Lust- und Luftmenschen nicht durch eine Affirmation konterte, sondern durch die Avoda Ivrit (hebräische Arbeit), durch das Ziel der Schaffung des neuen, arbeitsamen und wehrhaften, kräftigen und tugendhaften Arbeiters.11

Neben solch traditionsmarxistischem Arbeitsfetischismus findet und fand sich in der israelischen Linken auch ein Faschismusverständnis, wie man es aus der marxistisch-leninistischen Theorie kennt. Es war die mal stalinistische, mal linkssozialistische Mapam, die immer wieder versucht hat, den spezifischen Begriff des Nationalsozialismus durch einen allgemeinen Faschismusbegriff zu ersetzen.12 Wie auch bei den Linken in anderen Ländern war es dann plötzlich nicht mehr die Judenverfolgung, die das Wesentliche am Nationalsozialismus ausmachte, sondern es ging recht allgemein um Rassismus und Krieg, wenn vom Faschismus die Rede war. Das ermöglichte es auch Teilen der israelischen Linken, die legitimen Nachfahren des deutschen Nationalsozialismus im ‘us-amerikanischen Kryptofaschismus’ auszumachen.

Auch die heutige Verharmlosung, Leugnung und Relativierung des arabischen Antisemitismus hat in der radikalen Linken in Israel Tradition. Der aus Marokko stammende Charlie Biton, Mitbegründer der israelischen Black Panther, ließ 1979 verlautbaren, daß es Antisemitismus in seinem arabischen Heimatland nicht gegeben hätte, sondern nur in Europa. Das habe daran gelegen, daß „die europäischen Juden eine Ausbeuterklasse" waren.13 Was die Verharmlosung des Antisemitismus in den arabischen Ländern angeht, scheinen sich die Linksradikalen einen regelrechten Wettstreit zu liefern. Gewinnen könnte diesen zum Beispiel eine Gruppe wie die Mizrahi Front, die in den 80er Jahren so weit ging, von einer Notwendigkeit des „Respekt(s) gegenüber den arabischen Ländern" zu sprechen, „die (uns) über Jahrhunderte hinweg Schutz geboten haben".14

Auch die Zusammenarbeit von maßgeblichen Teilen der palästinensischen Nationalbewegung mit den Nazis wird von vielen Linken dahingehend verharmlost, daß sie lediglich als taktische Zusammenarbeit erscheint. Hillel Schenker beispielsweise, früher Herausgeber der einflußreichen, in der Tradition Martin Bubers stehenden Publikation „New Outlook" und heute Mitherausgeber vom „Palestine-Israel Journal", spricht von der „unglücklichen Wahl" Amin El-Husseinis,15 ehemals Mufti von Jerusalem und einer der übelsten antisemitischen Hetzer, für eine Zusammenarbeit mit den Nazis. Die Zusammenarbeit resultierte demnach nicht aus ideologischen Übereinstimmungen, sondern die Palästinenser hätten nach der durchaus typischen Einschätzung Schenkers lediglich nach dem Prinzip gehandelt: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.

Teil 4

Anders als in den postnazistischen Gesellschaften, in denen die Israelkritik fast immer eine Form des sekundären Antisemitismus darstellt, sorgen sich in Israel noch die radikalsten Kritiker des Zionismus ernsthaft um die Zukunft ihrer Gesellschaft. Selbst jemand wie Warschawski spricht bezüglich Israel vom „Verfall einer Gesellschaft, die die meine ist" und attestiert dieser Gesellschaft, in der Vergangenheit trotz aller widrigen Umstände ein erstaunliches Maß an Zivilisiertheit hervorgebracht zu haben.16 Linksradikale in Israel sind in der Regel nicht von jener moralisierenden Bösartigkeit getrieben, wie man sie von vielen deutschen oder österreichischen Linken und aus den Statements der deutsch-europäischen Außenpolitik kennt, sondern von einem naiven, sich aber durch die Zurückhaltung bei der Kritik an arabischen Untaten selbst desavouierenden Humanismus, der dem Vormarsch der antiisraelischen Front durch seinen grenzenlosen Idealismus und seine zwanghafte wie zwangsläufige Abstraktion von der antisemitischen Bedrohung permanent Vorschub leistet.

So sehr ein Nachgeben gegenüber dem Antisemitismus seitens jüdischer Israelis eine reale Gefahr darstellt, so unverzichtbar ist dieser naive Humanismus innerhalb Israels. Die israelische Gesellschaft braucht ihre Linke, einschließlich der radikalen. Es liegt in der Natur der Sache, daß ein großer Polizei- und Militärapparat, auch wenn er einer Gesellschaft durch die feindseligen Nachbarn aufgezwungen wird, zwangsläufig nicht besonders menschenfreundliche Praktiken hervorbringt. Schon damit Israel seinem eigenen Anspruch gerecht wird, ein ‘Licht unter den Nationen’ zu sein, bedarf es der permanenten gesellschaftlichen Kontrolle von Militär und Polizei. Eine radikale Linke ist notwendig, da eine gemäßigte Linke immer dazu neigt, über bestimmte Mißstände zu schweigen. Alleine wegen ihrer objektiven Kontrollfunktion müssen die Linken in Israel gegen die Angriffe von Rechten und radikalen Rechten, die ebenso wie die Linken fast obligatorisch ihre politischen Kontrahenten mit den Nazis vergleichen, verteidigt werden; insbesondere dann, wenn die politischen Erben der Revisionisten das gesamte Repertoire eines autoritären und nationalistischen Ressentiments nicht nur der radikalen, sondern auch der gemäßigten Linken, den Liberalen, in letzter Zeit auch den pragmatischen Rechten gegenüber aufbieten. Die Heftigkeit dieser Angriffe ist allerdings auch Ausdruck davon, daß es bei Politik in Israel in der Regel um mehr geht als im politischen Alltagsgeschäft europäischer Gesellschaften: die Verhinderung einer zweiten Katastrophe.

Stephan Grigat ist Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der Universität Wien und gehört zu der Gruppe Café Critique www.cafecritique.priv.at. Soeben ist im Freiburger ça ira-Verlag sein Buch „Fetisch und Freiheit – Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus" (400 Seiten, 22,- Euro) erschienen.

Anmerkungen

1 Initiative Sozialistisches Forum: Go straight to Hell. In: Phase 2, Nr. 12, 2004, S. 63. Wenn im Folgenden von israelischen Linken und Linksradikalen gesprochen wird, sind stets jene Leute gemeint, die sich selbst so bezeichnen und im allgemeinen Sprachgebrauch auch so genannt werden.

2 Vgl. Marx, Karl: Zur Judenfrage. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1988 (1844), S. 347 ff.

3 Agnoli, Johannes/ Mandel, Ernest: Offener Marxismus. Ein Gespräch über Dogmen, Orthodoxie und die Häresie der Realität. Frankfurt/M. 1980, S. 20

4 Zitiert nach Meir, Golda: Mein Leben. Hamburg 1975, S. 55; Vgl. auch Laquer, Walter: The History of Zionism. London 2003, S. 270 ff.

5 Borochov, Ber: Die Grundlagen des Poalezionismus. Frankfurt/M. 1969, S. 61

6 Warschawski, Michael: An der Grenze. Hamburg 2003, S. 46

7 Vgl. Morris, Benny: Politics by Other Means. https://ssl.tnr.com/p/docsub.mhtml?i=20040322&s=morris032204, 03/04 (21. 4. 2005)

8 Bucaille, Lätitia: Generation Intifada. Hamburg 2004, S. 37

9 Pappe, Ilan: From Anti-Semitism to Anti-Islamisms. Jewish Israeli Intellectual Perceptions of Anti-Semitism in Europe, 2000-2004. In: Zuckermann, Moshe (Hg.): Antisemitismus – Antizionismus – Israelkritik. Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXIII. Göttingen 2005, S. 342

10 Vgl. Pappe, Ilan: Israel must be treated as South Africa was. Green Left Weekly, September 1, 2004, http://www.greenleft.org.au/back/2004/596/596p16.htm (12. 1. 2005)

11 Gegen die Versuche, dem Antisemitismus in den postnazistischen Gesellschaften mit dem Verweis auf die Aufbauleistungen der Avoda Ivrit in Israel zu begegnen wandte schon Adorno ein: „Entfallen müsste darum die gesamte Argumentationsreihe, die sich darauf bezieht, daß die Juden in Israel mit saurem Schweiß das Land fruchtbar machen. Ich bin der letzte, der die großartige Leistung dort verkleinert. Aber sie ist selber im Grunde nur der Reflex auf die furchtbare soziale Rückbildung, die den Juden durch den Antisemitismus aufgezwungen wurde, und nicht zu verabsolutieren, nicht so darzustellen, als ob der Schweiß an sich etwas Verdienstliches und etwas Positives wäre." Adorno, Theodor W.: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 20.1. Frankfurt/M. 1997 (1962), S. 370

12 Vgl. Segev, Tom: The Seventh Million. The Israelils and the Holocaust. New York 2000, S. 336 und 436

13 Zitiert nach ebd., S. 397

14 Zitiert nach Shohat, Ella Habiba: Mizrahim in Israel: Zionismus aus der Sicht seiner jüdischen Opfer. In: Neidhardt, Irit (Hg.): Mit dem Konflikt leben!? Berichte und Analysen von Linken aus Israel und Palästina. Münster 2003, S. 92

15 Schenker, a. a. O., S. 103

16 Warschawski, Michael: Mit Höllentempo. Die Krise der israelischen Gesellschaft. Hamburg 2004, S. 7 und 35 f. Solche Äußerungen unterscheiden ihn von jenen Gruppierungen wie der AIK, für die er auf Vorträgen in Wien den jüdisch-israelsichen Kronzeugen spielt.