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Ein streitbarer Geist in stürmischen Zeiten – Gedanken zu Oskar Goldberg

Domagoj AKRAP

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In einer Zeit, als ein Teil der Juden Deutschlands trotz gegenteiliger Signale aus der Gesellschaft noch immer an eine erfolgreiche Assimilation glaubte und ein anderer, vorwiegend von der Jugend getragener, diesen Bestrebungen in der neu entstandenen zionistischen Bewegung trotzte, wirkte ein Denker, der in der Widerherstellung des althebräischen Ritualismus die einzig wirksame Lösung für das Überleben des jüdische Volkes sah: Oskar Goldberg (1885-1952), von den einen als Prophet und geistiger Führer, als „Aussenseiter der Naturwissenschaft" (Döblin) angerufen, von den anderen zum Obskuranten und „Zauberjuden" (Benjamin) abgestempelt oder gar als „ typisch jüdischer Faschist" (Thomas Mann) geschimpft, hinterliess keine nennenswerte Spuren in der jüdischen Geistesgeschichte, und dennoch lohnt es sich, auch für heutige Entwicklungen einen Blick auf sein Wirken zu werfen. Was verbirgt sich hinter all den emotionalen Zuschreibungen, und wer war diese Person, die solch polarisierende Urteile hervorrief?

Oskar Goldberg absolvierte nach der Matura zunächst das Studium an der Jüdischen Theologischen Hochschule „Beth ha-Midrasch" in Berlin (1908). Anschliessend besuchte er Vorlesungen aus Medizin, Orientalistik und Völkerpsychologie. Die Wahl der Studienfächer deutet bereits auf ein breit angelegtes Forschungsfeld und auf die im späteren Werk deutlich zu Tage tretende Verbindung von Kulturwissenschaften und Naturwissenschaften.
Sein Erstlingswerk - „Die fünf Bücher Mosis ein Zahlengebäude" - erschien 1908, also zu jener Zeit, als Goldberg am orthodoxen „Beth ha-Midrasch" gerade seinen Abschluss machte. Das Werk rief ein breites Echo hervor und löste unter den Lehrern Goldbergs am Rabbinerseminar eine Kontroverse aus. Goldberg versuchte darin zu beweisen, dass die Torah von Anfang bis zum Ende aus einer Reihe an Zahlenkombinationen, die sich aus dem Namen G‘ttes, dem Tetragramm (YHVH), speisen, bestehe. Der Torah läge somit eine tiefere, dem oberflächlichen Leser nicht sichtbare, mathematische, ja naturwissenschaftliche, Ordnung zu Grunde, die nun bewiesen sei. Dass diese Behauptungen bei seinen Lehrern nicht ungeteilten Zuspruch fanden, verwundert nicht.1
In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg unternahm Goldberg ausgedehnte Reisen nach Indien und die angrenzenden Gebiete in Bhutan und Nepal. Zweck der Reisen war das Erkunden der dort verbreiteten Ahnenverehrung und der Kommunikation mit toten Angehörigen. Um diese Fähigkeiten zu erreichen, wurde ihm vom Guru Shri Agamya Paramahamsa zunächst das Studium des Hatha-Yoga angeraten und strenge Diätregeln auferlegt.2 Über Shri Agamya wurde erzählt, dass er seinen Atem und Herzschlag minutenlang anhalten konnte. Darin sah Goldberg eine Bekräftigung  seiner Ansichten, durch das Ritual mit dem Jenseits kommunizieren zu können. Später berichtete er auch über eigene Grenzerfahrungen, die er mittels der ihm gelehrten Meditationsübungen erlangte.3

Die Bestätigung, die Goldberg von Shri Agamya erlangte - „Now you may work for the redemption of the world" -, war schliesslich wegweisend für seine späteren Ansichten und Entwicklung. Dennoch verstand sich Goldberg nie als „Wissender" oder jemand, der Übernatürliches zu tun vermag. Sein Interesse galt dem Ausloten der Grenzen der „wissenschaftlich zu erforschenden Wirklichkeit", die er allerdings weiter zog als die exakte Wissenschaft.4 Es ging ihm um die Überwindung des Dualismus von Wissen und Glauben, der seit der Neuzeit in der westlichen Welt vorherrscht. Diesem sollte die Wiederherstellung der mythischen Einheit entgegengestellt werden.

„Die Wirklichkeit der Hebräer"

Goldbergs Hauptwerk „Die Wirklichkeit der Hebräer" erschien 1925, soll aber, laut Autor, bereits zwischen 1903 und 1908 in Grundform vorgelegen sein. Der Untertitel „Einleitung in das System des Pentateuch" verrät etwas mehr vom Vorhaben des Autors. Er will eine „exegetische Einleitung in den Pentateuch" abliefern. Die Reaktionen auf das Werk liessen nicht lange auf sich warten und waren, wie bereits beim ersten Buch, sehr unterschiedlich - von euphorisch bejahend bis schroff ablehnend.5
Am Anfang wird der Begriff der „Möglichkeit" dem der „Wirklichkeit" entgegengesetzt. Während Wirklichkeit als offenbar und „wirksam" und damit auch als endlich gesehen wird, ist die Möglichkeit latent, eine unendliche Wirklichkeit, eine Wirklichkeit nicht in Raum und Zeit befindlich.6 Das Werk wendet sich dann dem Begriff der Prophetie zu, deren Aufgabe das „Arbeiten mit der Unendlichkeit" sei. Dabei unterscheidet Goldberg zwischen kontemplativer Prophetie, die aufzeigt, was eintreten muss, und der dynamischen Prophetie, die auf das, was eintreten soll hinweist.

Die Beziehung zwischen Welt, Raum und Endlichkeit wird anhand der ersten Genesisverse dargestellt. Goldberg geht von einer Vielzahl von Welten aus, die alle ein „biologisches Zentrum" haben, nur die „hiesige Welt" existiert auf Grund der herrschenden Trennung zwischen Geist und Materie ohne biologisches Zentrum. Bei Goldbergs Annahme von Göttern der verschiedenen Völker handelt es sich um keinen simplen Polytheismus, der den Gegensatz „ein G‘tt - viele Götter" hervorhebt, sondern „der G‘tt des einen Volkes ist ein anderer als der des anderen Volkes, weil sein biologisches Zentrum, d.h. sein Abstammungszentrum, von dem des anderen verschieden ist". So hat G‘tt eine biologische Bedeutung für das Volk, das demnach die Peripherie im System einnimmt.7 Die Völker, bei denen die Verbindung zwischen „biologischem Zentrum" und G‘tt aufrecht ist, bezeichnet Goldberg als „echte Völker".8 All diese Ansichten und Vorgänge der Vorzeit lassen sich seiner Überzeugung nach „experimentell nachweisen", sie sind die Mythologie des jeweiligen Volkes, die durch „ethnologische Experimentalwissenschaft" untersucht wird.

Bei seiner Lehre des „biologischen Zentrums" soll auch die herrschende Wechselwirkung zwischen Volk und G‘tt betont werden. Das Volk ist für G‘tt ebenso wichtig wie G‘tt für das Volk. Durch das Volk kann sich G‘tt entfalten, es ist das Instrument seiner Macht. Ja, Goldberg schliesst sogar die Gleichung „Völker = Götter = Welten" (II. Kapitel) mit der Behauptung: "Völker sind Institutionen bzw. Unternehmungen zur Aufhebung der Naturgesetze", die in unserer endlichen, unmetaphysischen Welt herrschen und für alle gelten.9
Die diversen Gottesnamen in der Torah werden nicht auf verschiedene Quellen zurückgeführt (Bibelwissenschaft), sie werden auch nicht mit unterschiedlichen Aspekten und Wirkungen G‘ttes verbunden (Kabbalah), sondern kennzeichnen buchstäblich verschiedene Götter. So erklärt Goldberg auch den Auszug aus Ägypten als „nichts anderes als den Kampf, des Elohim IHWH mit den Elohim der Ägypter, ein Kampf, aus welchem der Elohim IHWH siegreich hervorgeht".10 Auch in der Schöpfungsgeschichte zeigt Goldberg die unterschiedliche Beschaffenheit der Gottesnamen auf - der Baum des Lebens stamme vom „Elohim IHWH", während sich der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse (für Goldberg der Baum des Zwiespalts) von anderen „Elohim" ableite.11 Diesen zweifelhaften Interpretationen folgen in den nächsten Kapiteln noch weitere.

„Weltreligion„ und „Realreligion"

Heute befinden wir uns, nach Goldberg, in einer Zeit, in der die meisten Völker keine direkte Verbindung mit ihrem G‘tt (Elohim) haben. Dieser Zustand wird von Goldberg als „Fixationsprozess" bezeichnet, weil das Volk auf eine dauernde Normalität „festgelegt" wird und die Fähigkeit zur Metaphysik verliert (V. Kapitel). Eine Ursache für diesen Prozess könne im Siegeszug der Technik gesehen werden, die zum Ersatz für die Metaphysik wurde. Die Religion des „Fixationszeitalters" sei die „Weltreligion". Goldberg erhebt ihr gegenüber die „Nationalreligion" als die reale hervor, bei der das Verhältnis des Volkes zum „biologischen Zentrum" intakt sei und nicht, wie in der Weltreligion der Fall, zu einer Abstraktion verkomme.

Mit dem Hochhalten des Volkes geht auch ein Abwerten des Einzelnen, zumindest in der Zeit nach der Volkskonstitution, einher. Ihn dürfte es eigentlich gar nicht mehr geben - „Die Einzelnen sind dann  als die `Trümmer´ des sich im Auflösungsprozess befindlichen Volkes anzusehen".12 War der Einzelne in der „Vor-Völker-Potenz" akzeptiert, so muss er nach dem Erscheinen der Völker abgelehnt werden. „Mächtige Einzelne" (z.B. Giborim) treten jedoch weiter auf, solange sich Völker bilden.13
In Goldbergs Geschichtsdeutung des jüdischen Volkes findet auch die Kabbalah ihren Platz. Während sie für traditionelle und esoterische Kreise eine uralte, aus der Vorzeit ererbte Lehre darstellt, ist sie für Goldberg die Metaphysik der „Hebräer als Rasse", der Pentateuch hingegen enthält die Metaphysik des hebräischen Volkes.14 Sie sei somit älter als die Torah, die als Protestaktion gegen sie auftrat. Auch bei der Schilderung der Kabbalah wird Goldbergs Abneigung gegenüber dem Einzelnen deutlich, die Kabbalah werde nämlich von Einzelnen getragen, sie sei Esoterik und lehre Absonderung. Die Torah hingegen sei Exoterik, sie werde von Propheten getragen, diese seien zwar Einzelne, jedoch keine Prominente, sondern Volksmänner. Auch gewinne die Volksmasse keinen Vorteil durch das Wirken der „metaphysisch-potenten einzelnen" Kabbalisten, während der Prophet altruistisch für das Wohl des Volkes handele. Das Schicksal des jüdischen Volkes in der Gegenwart hänge demnach davon ab, ob es die Aufgabe, ein metaphysisches Volk zu werden und damit die Wiedererlangung der Ritualfähigkeit zu erreichen, erfüllen könne. Direkter Kontakt des Volkes zu G‘tt sei unerlässlich für das Überleben der Juden.
Mit Ansichten wie der Abwertung des Individuums, der Sehnsucht nach archaischen Ritualen u.a. konnte Goldberg leicht als rückwärtsgewandt und reaktionär gesehen werden. Er blieb eine singuläre Erscheinung im deutschsprachigen Judentum, was auch sein „Intimfeind" Gerschom Scholem in seinen Jugenderinnerungen bestätigte: „In den Kreisen der modernen und hypermodernen Schriftsteller und Künstler der Kaffeehäuser oder Klubs im Berliner Westen, in denen die expressionistische Bewegung entstand, war er der Jude schlechthin. (...) Er übte fast magnetische Kraft auf eine kleine Gruppe jüdischer Intellektueller aus, die seine Anhänger waren und ihn im Besitz authentischer Offenbarungen wähnten".15 Goldberg versuchte vor knapp einem Jahrhundert die prekäre Existenz der Juden in Europa durch eine sonderbare religiöse Erneuerung und mit Hilfe okkulter Mittel zu lösen. Bei seinem Versuch scheiterte er an der historischen Realität. So wie damals kann auch heute quer durch alle Religionen ein Aufblühen esoterischer Lehren und Lösungen beobachtet werden. Werden auch ihre Adepten, wie seinerzeit Goldberg, scheitern?

Anmerkungen

1 Joseph Wohlgemuth bewertete die Arbeit durchaus positiv und verteidigte seinen Schüler, während Abraham Berliner (ein weiterer Lehrer am Seminar) vor dem Versuch, „die Authentie unserer Thora auf mathematischem Wege zu beweisen", als einem gefährlichen Spiel mit G‘tt warnte (S. Manfred Voigts: Oskar Goldberg. Der mythische Experimentalwissenschaftler. Ein verdrängtes Kapitel jüdischer Geschichte, Berlin 1992, S. 22).

2  Vgl. Manfred Voigts: Oskar Goldberg, S. 29ff, sowie S. 294-299. Über Goldbergs Expedition sind keine unmittelbaren Zeugnisse vorhanden. Auch der berühmte Okkultist Aleister Crowley soll einem gleichnamigen Guru begegnet sein (vgl. Michael Meyer: Erich Unger - Arbeit am psychophysiologischen Problem: Methoden und Ab-Lagerungen, GRIN Verl. 2002, S. 20, Fn 53).

3  Goldberg beschrieb in einem späteren Aufsatz von 1945 seine damaligen Erfahrungen: „While I recited the mantra, the dark became lighter and lighter and I saw the shape of an eye. The eye was big, much bigger than living beings usually have. It winked, as eyes do which open and close" (s. Manfred Voigts: Oskar Goldberg, S. 31f.).

4  Ebenda, S. 38.

5  Auszüge aus den Rezensionen werden in der wissenschaftlichen Neuausgabe abgedruckt. Vgl. Oskar Goldberg: Die Wirklichkeit der Hebräer, wissenschaftl. Neuausg., Wiesbaden 2005 (Hg. Manfred Voigts) S. 336ff.

6  Ebenda, S. 1.

7  Ebenda, S. 15f.

8  Ebenda, S. 44.

9  Ebenda, S. 31.

10  Ebenda, S. 18.

11  Ebenda, S. 34.

12  Ebenda, S. 141.

13  Ebenda, S. 147.

14  Ebenda, S. 149f.

15  Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem, Frankfurt am Main 1997, s. 182. An einer anderen Stelle zählte Scholem die Gruppe um Goldberg gar zu den drei bemerkenswertesten „Jüdischen Sekten", die das deutsche Judentum hervorgebracht hat (ebenda, S. 162).